Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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18

Selwood war der erste, der die Nerven zu verlieren drohte. Je näher der Tag kam, den die ›Königin der Nacht‹ ihm als Frist gesetzt hatte, desto unruhiger wurde er, und Evelyn Dyke nahm mit Entsetzen wahr, daß er sich kaum mehr zu beherrschen vermochte und daß er auch körperlich verfiel.

»Ich hätte dich nie für so feige gehalten, Charlie«, sagte sie etwas gereizt, als er ihr bereits zum ersten Frühstück ins Haus platzte und sofort wieder von der Sache begann.

Er sah sie mit einem bösen Blick an, der sie ängstlich machte.

»Ich bin nicht feige, aber ich habe die Geschichte satt«, erklärte er. »Was mit mir geschieht, ist mir gleichgültig. Ich wünschte nur, daß es schon vorüber wäre, denn ein solches Leben zu führen, ist ärger als alles, was kommen kann.«

Sie hatte ihn noch nie in einer derartigen Verfassung gesehen und wußte sich keinen anderen Rat, als bei Osborn Beistand zu suchen. Es war zwar erst neun Uhr morgens und ihr Beginnen daher ziemlich aussichtslos, aber sie rief trotzdem an. Zuerst kam irgendein dienstbarer Geist an den Apparat, und dann meldete sich endlich Helen, der sie den Stand der Dinge auseinandersetzte. Osborn möge doch unbedingt sofort kommen, um seinen Vetter zur Vernunft zu bringen.

Zu ihrer Überraschung erschien aber nach einer reichlichen Stunde, in der sie sich vergeblich bemüht hatte, Selwood auf andere Gedanken zu bringen, nicht Osborn, sondern Helen, die sich wie zu einer Spazierfahrt im Hyde-Park angetan hatte. Kokett drehte und wendete sie sich, daß ihr Evelyn notgedrungen einige bewundernde Worte über ihre neue Frühjahrstoilette und ihr Aussehen sagen mußte.

»Oh«, wehrte die junge Frau sehr befriedigt, aber bescheiden ab, »das ist gar nichts. Einfache Londoner Arbeit. Nur etwas über dreißig Pfund. Aber in der nächsten Woche bekomme ich ein Kostüm aus Paris, in dem ich Ihnen sicher gefallen werde. Etwas ganz Neues und Apartes. Auffallende Farben und Muster kleiden mich nämlich am besten«, versicherte sie. »Natürlich habe ich mir auch einen neuen Hut und entsprechende Schuhe bestellt. Das gehört unbedingt dazu, wenn man wirklich gut angezogen sein will. Auf die paar Pfund, die man mehr bezahlt, kommt es da nicht an und . . .«

Sie war sichtlich im besten Zuge, das interessante Thema ausführlich zu erörtern, aber Evelyn schnitt ihr etwas ungeduldig den Faden ab. »Was hat Osborn zu Charlies komischen Anwandlungen gesagt?« fragte sie.

Helen rückte sich umständlich im Sessel zurecht, damit King Charles es sich bequem machen konnte, und sah mit großen Augen verlegen um sich. »Natürlich hat er nichts gesagt«, kicherte sie und verkrampfte ihre Rechte im Fell des Hündchens, »weil er doch noch schläft. Vor Mittag pflegt er nie aufzuwachen. Und dann müssen wir erst warten, bis er läutet. Früher darf niemand zu ihm. Aber da ich glaubte, es sei sehr dringend, bin ich selbst gekommen. Ich werde aufmerksam zuhören und William alles genau erzählen, wenn ich nach Hause komme.«

Mrs. Dyke war von diesem Vorschlag nichts weniger als entzückt, denn es schien ihr zwecklos, die schwerfällige Frau als Vermittlerin in Anspruch zu nehmen. Osborn sollte selbst sehen, wie es um seinen Vetter stand und diesem in seiner brüsken, energischen Art die Grillen austreiben. Aber wenn ihm seine Frau erst des langen und breiten davon berichtete, würde er wohl der Sache keine besondere Bedeutung beimessen. Selwood war offenbar peinlich berührt, daß seine Stimmung zum Gegenstand einer so umständlichen Erörterung gemacht werden sollte, und seine verkniffenen Lippen und nervös zuckenden Augenlider ließen es Evelyn geraten erscheinen, ihn nicht noch mehr zu erregen.

»Es war sehr nett von Ihnen, Mrs. Helen, sich zu bemühen«, sagte sie liebenswürdig, »aber gar so sehr eilt es nicht, und es wird wohl am besten sein, wenn die Herren die Sache unter sich besprechen. Charlie kann ja Osborn am Nachmittag besuchen. Sagen wir um fünf Uhr. – Ich hoffe, daß Sie bis dahin nichts Unbesonnenes anstellen werden«, wandte sie sich mit einem gezwungenen Lächeln an Selwood.

»Was soll er anstellen?« fragte Helen mit der Lebhaftigkeit eines neugierigen Kindes und rückte erwartungsvoll auf ihrem Platz hin und her, so daß King Charles in seiner behaglichen Ruhe gestört wurde.

»Er will wieder einmal die Flinte ins Korn werfen«, erklärte Evelyn, und Mrs. Osborn sah einen Augenblick verständnislos von einem zum anderen, weil ihr nicht recht klar war, was die Geschichte von der Flinte und dem Korn zu bedeuten hatte.

»Wozu? Wieso? Warum?« fragte sie dann vorsichtig.

Mrs. Dyke vermochte sich einen belustigten Blick auf Selwood nicht zu versagen, und sogar über dessen ernste Miene glitt ein flüchtiges Schmunzeln.

»Weil ihn die Begegnung mit der ›Königin der Nacht‹ völlig außer Fassung gebracht hat. Aber darauf mußten wir ja schließlich vorbereitet sein, und ich finde die Situation heute weit weniger gefährlich als vordem. Wir haben es nun mit dem Gegner unmittelbar zu tun und können unsere Maßnahmen treffen, während wir früher stets in Sorge waren, durch irgendein Ereignis überrascht zu werden. Es war mehr als ein Wunder, daß wir durch einen glücklichen Zufall nicht nur von dem Zusammentreffen der geheimnisvollen Persönlichkeit mit Cartwright, sondern auch mit Morton erfuhren. Und nachdem diese weit größere Gefahr glücklich vorüber ist, wäre es unverantwortlich, das Spiel plötzlich verlorenzugeben.«

Evelyn hatte nur für Selwood gesprochen, aber dieser trommelte mit den Fingern ungeduldig auf der Stuhllehne.

»Ihr versteht mich nicht«, sagte er aufgeregt und gereizt, als sie geendet hatte. »Ich bin einfach soweit, daß mein Gewissen sich dagegen sträubt, länger zu schweigen und den Dingen weiter ihren Lauf zu lassen. Ich weiß, daß ich dadurch das Furchtbare nicht mehr ungeschehen machen kann, aber ich will wenigstens meinen Teil der Verantwortung tragen. Ich bin nicht so hart gesotten, um über meine Schuld hinwegzukommen. Weder für die frühere, die mir nun auf so seltsame Weise in Erinnerung gebracht worden ist, noch über jene, die ich jetzt auf mich geladen habe, um die alte Verfehlung zu verdecken. Ich gebe das Spiel nicht auf, weil ich an seinem Ausgang verzweifle, sondern weil es mich anwidert. Und wenn ich mir den letzten Schritt noch überlege«, schloß er zögernd und halblaut, »so nur deshalb, weil ich dadurch nicht allein betroffen würde.«

Er fuhr sich nervös über die Stirn, und Evelyn betrachtete ihn ängstlich, da er den Eindruck eines Menschen machte, der keine Widerstandskraft mehr hat und zu allem fähig ist.

Sogar Helen schien von der Veränderung des kraftvollen, lebenslustigen Mannes überrascht, denn sie sah ihn mit einer gewissen Scheu an und drückte sich befangen in die Kissen. Dann fühlte sie das Bedürfnis, auch etwas zu sagen, aber sie mußte sich erst umständlich die grellroten Lippen befeuchten, bevor sie den Mut dazu fand.

»Ich werde es Osborn ausrichten«, stotterte sie hastig. »Ich habe schon verstanden.« Sie dachte einen Augenblick ernsthaft nach und begann dann wie eine ablaufende Sprechmaschine weiterzuplappern. »Mr. Selwood hat gesagt, daß sich sein Gewissen sträubt und daß er nicht mehr weiterspielen will, sondern alles ausplauschen wird.« Sie blickte schüchtern von einem zum anderen, ob sie ihre Lektion auch richtig aufgesagt habe, und atmete erleichtert auf, als niemand Widerspruch erhob. Selwood starrte teilnahmslos nach der Decke, und Evelyn ließ erregt ihre Halskette durch die Finger gleiten.

Mrs. Osborn benützte die günstige Gelegenheit, sich zurechtzumachen, klemmte ihr Hündchen behutsam unter den Arm und verabschiedete sich mit einem allerliebsten Lächeln.

Evelyn fand Selwood noch immer in seiner apathischen Haltung, und zum ersten Male empfand sie gegen diesen Mann, für den sie bisher mit fast abgöttischer Hingebung gelebt hatte, Verachtung und Zorn. Es schien ihr unfaßbar und unverzeihlich, daß er im entscheidenden Augenblick versagte und mit seiner Schwäche sich und die anderen in Gefahr brachte. Es ging hierbei um alles, und sie vermochte sich nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er die wahnwitzige Idee, in die er sich verbissen zu haben schien, zur Ausführung brachte.

»Du beginnst eine jämmerliche Rolle zu spielen«, sagte sie hart und kalt, als sie lange vergeblich auf ein Wort von ihm gewartet hatte. »Habe ich deshalb alle die gewissen Dinge auf mich genommen und mich bloßgestellt, damit du in einer erbärmlichen Anwandlung alles zunichte machst? Weshalb hat sich dein empfindliches Gewissen nicht früher geregt? Hat es damals geschwiegen, so mußt du es eben auch jetzt zur Ruhe bringen, denn ich werde nie dulden, daß du dich und mich verdirbst, nur weil deine Nerven dich im Stich lassen. Du hattest dein Leben seit jeher nur auf Annehmlichkeit eingestellt«, fuhr sie bitter fort, »und bei der ersten großen Widrigkeit hast du es mir überlassen, für dich zu handeln. Ich habe es getan, gerne getan; hätte ich geahnt, daß du auf die Dauer nicht einmal einen passiven Widerstand aufbringen kannst, hätte ich dich ohne weiteres deinem Schicksal überlassen. Jawohl«, bekräftigte sie mit trotzig zurückgeworfenem Kopf, als sie seinem betroffenen Blick begegnete, »ich gestehe das ganz offen, und ich sage dir ebenso offen, daß du dich aufraffen mußt, wenn dir daran gelegen ist« – sie zögerte etwas, und ihre Stimme bekam einen unsicheren Klang –, »daß wir die alten bleiben. Bisher habe ich dein sonderbares Verhalten ruhig hingenommen, weil ich es einer Laune zuschrieb, wie sie über jeden einmal kommen kann, aber nun ist Schluß damit. Verstehst du mich?«

Er nickte, und auf seinem Gesicht lag so etwas wie der Versuch zu lächeln, als er sich aufrichtete und ihr die Hand entgegenhielt. Er verstand ihre Erregung und war wütend auf sich selbst, daß er sich und die anderen mit seinen Grillen quälte.

»Du hast recht«, gab er zu. »Es heißt wirklich, sich zusammenzunehmen, da es kein Zurück mehr gibt und die ›Königin der Nacht‹ ganze Arbeit zu leisten scheint.«

Er reckte sich, und Evelyn war überrascht über die gründliche Wirkung, die sie mit ihren Vorwürfen erzielt hatte.

»Nun kann man wieder mit dir reden«, sagte sie mit einem warmen Lächeln, das ihre frühere Schärfe vergessen lassen sollte. »Wir müssen die Sache wirklich einmal in aller Ruhe gründlich besprechen, damit wir uns über alles klarwerden. Du wirst dann selbst einsehen, daß die Dinge jetzt viel günstiger liegen als früher, da wir unsere Aufmerksamkeit nach allen Seiten richten mußten. Jetzt haben wir es nur mit dem Phantom zu tun und . . .« Sie brach mitten im Satz ab und schien sich lebhaft mit einem Gedanken zu beschäftigen, der ihr eben gekommen war. »Wir haben mit diesem Wellby einen großen Fehler begangen. Wir hätten eine Verbindung mit ihm suchen sollen, anstatt ihn kopfscheu zu machen. Wahrscheinlich wüßten wir dann heute schon manches, was uns nützlich wäre.«

»Glaubst du wirklich, daß der Mann in der Sache eine Rolle, spielt?« fragte er interessiert.

»Ich bin fest davon überzeugt. Nur über seine Absichten bin ich mir nicht im klaren, ebensowenig über die Zusammenhänge, die zwischen ihm und der rätselhaften Person bestehen. Erst nahm ich an, daß sie Hand in Hand arbeiten, aber dann kam ich auf zu viele Widersprüche. So viel steht fest, daß er ihr und unser Geheimnis kennt. Wenn ich offen sein soll, fürchte ich ihn mehr als die ›Königin der Nacht‹. Bei dieser weiß man, wessen man sich zu versehen hat, bei ihm nicht. Er hält sich im Hintergrund und schnellt nur hie und da einen Pfeil ab. Erst die eigenartige Notiz über den Tod Mortons, dann die Zeilen an mich, und je länger er mit dem nächsten Schuß wartet, desto mehr bangt mir davor. Aber ich werde ihm nicht mehr viel Zeit lassen«, erklärte sie entschieden, »sondern werde ihn so oder so zwingen, seine Karten aufzudecken.«

Selwood mußte wieder einmal den Mut dieser schönen Frau bewundern, und ihre Entschlossenheit ging auch auf ihn über.

»Sehr gut«, pflichtete er bei. »Was soll ich dabei tun?«

»Nichts«, gab sie lächelnd zurück. »Das ist Frauenarbeit. Du sollst lediglich das unnütze Grübeln aufgeben und nur darauf bedacht sein, dich von der ›Königin der Nacht‹ nicht überrumpeln zu lassen. Ich hoffe, daß du ständig eine Waffe bei dir hast?« fügte sie besorgt hinzu.

Er klopfte bedeutsam auf seine Tasche, und sie nickte zufrieden.

»Du darfst dir nicht eine Sekunde überlegen, davon Gebrauch zu machen«, schärfte sie ihm ein. »Denke an Cartwright, Morton und Bryans. Dir kann niemand einen Vorwurf machen, wenn du rasch handelst.«

Sie sah ihn vielsagend an, und der entschlossene Zug in seinem Gesicht bewies, daß er sie verstanden hatte.

 

Während der Fahrt zum Cartwright-Haus schmiedete Evelyn Dyke ihren Plan, und als sie mit Hyman, der wieder einmal besonders ungenießbar war, die wichtigsten Dinge durchgesprochen hatte, ging sie sofort an die Ausführung.

Mr. Fish war sehr melancholisch, denn er befand sich bereits seit einer halben Stunde mutterseelenallein im Reporterzimmer, und es wollte sich absolut keine Gelegenheit ergeben, sich in Szene zu setzen oder ein bescheidenes Geschäft zu machen. So nutzlose Stunden liebte der ›Fliegenpilz‹ nicht, und er war bereits im Begriff, sich nach einem lohnenderen Schauplatz umzusehen, als ihn durch einen Diener die Mitteilung erreichte: »Mrs. Dyke läßt Mr. Fish zu sich bitten.«

Der sommersprossige Jüngling klappte den großen Mund auf und stand einen Augenblick wie eine Steinsäule, dann steckte er den Zeigefinger der Rechten ins Ohr und begann damit heftig zu beuteln. »Sagen Sie das noch einmal«, forderte er den Boy mißtrauisch auf und erst, als er sich vergewissert hatte, daß kein Irrtum vorlag, fand er sich wieder. Sein erster Griff galt dem Hut, den er mit einem Klaps auf den Hinterkopf drückte. Er wußte, was er diesem großen Augenblick schuldig war, und wenn etwas seine Genugtuung und seine feierliche Stimmung beeinträchtigte, so war es nur, daß niemand die höfliche Einladung gehört hatte und niemand hatte sehen können, mit welch vornehmer Gelassenheit er ihr nachkam. Erst auf dem Flur gelang es dem ›Fliegenpilz‹, einen ankommenden Reporter am Knopf zu fassen und sich so einen Zeugen dieses wichtigen Ereignisses zu sichern.

»Mrs. Dyke hat mich wieder einmal zu sich gebeten«, sagte er leichthin. »Wahrscheinlich eine sehr wichtige Sache. Verbreiten Sie das im Büro, damit man weiß, wo ich bin. Vielleicht werde ich gesucht.«

Er griff mit einem Finger an den Hutrand, nickte dem Kollegen herablassend zu und überlegte, was Mrs. Dyke von ihm wollen konnte. Er stand ja sehr gut mit ihr, und sie lächelte immer liebenswürdig und vielsagend, wenn sie ihn sah, aber direkt hatte sie eigentlich noch nie mit ihm gesprochen, und daher mußte ein wichtiger Grund vorliegen, daß sie ihn so dringend zu sehen wünschte. Sollte sie vielleicht gar . . .

Mr. Fish verzog den breiten Mund von einem Ohr zum anderen und wiegte lächelnd den Kopf.

Nun, es war ganz gut möglich, denn er hatte an jenem Abend im Princes-Restaurant wirklich vornehm ausgesehen, und sie mußte bemerkt haben, daß er ein Mann war, der sich zu benehmen weiß. Sie war zwar nicht mehr ganz jung, aber immerhin noch eine schöne Frau, und wenn man noch in Betracht zog, wieviel ihr Wort im Cartwright-Haus galt . . . Jedenfalls war der gerissene Jüngling entschlossen, nicht unbedingt ›nein‹ zu sagen, und das weitere würde man ja sehen.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie bemüht habe«, empfing ihn Mrs. Evelyn mit einem berückenden Lächeln. »Ich möchte Sie um eine große Gefälligkeit bitten.«

Mr. Fish legte seinen Hut auf den Schreibtisch und gab durch eine ausdrucksvolle Geste zu verstehen, daß von einer Bemühung keine Rede sein könne und daß er selbstverständlich zur Verfügung stehe.

Mrs. Dyke kam sofort auf ihr Anliegen zu sprechen.

»Wie Sie vielleicht schon gehört haben, pflege ich hie und da einige der Damen und Herren unserer Blätter zu mir zu laden. Leider muß ich mich dabei sehr beschränken, denn mein Haus ist nicht allzu geräumig, und ich kann nur wenige Gäste auf einmal empfangen. Deshalb bitte ich die Herrschaften immer gruppenweise, und nächstens möchte ich vor allem Sie, Mr. Fish, einmal bei mir sehen.«

Der Reporter war ganz Ohr, und als sein Name fiel, begann er sich feierlich mit dem Oberkörper zu wiegen.

»Es wird mir eine besondere Ehre sein«, versicherte er eifrig.

»Selbstverständlich erhalten Sie noch eine schriftliche Einladung«, fuhr Mrs. Evelyn fort, und Mr. Fish nahm dies mit besonderer Befriedigung zur Kenntnis, »bis ich die Liste meiner Gäste zusammengestellt habe. Hierzu erbitte ich Ihre Mithilfe. Ich kenne leider die jüngeren Mitglieder der Redaktion zu wenig und möchte nicht irgendwelche Verstimmung hervorrufen. – Damit wir Zeitungsleute nicht in das langweilige Fachsimpeln geraten, werde ich auch noch einige andere Bekannte bitten, insgesamt etwa acht Personen. Von unseren Herren also zunächst Sie, dann Mr. Lawton, der auch noch nie bei mir war – aber weiter müssen Sie mir helfen. Ich weiß eigentlich nur noch von jenem Herrn, der über den Fall Morton berichtet hat. Wie heißt er doch gleich?«

Der ›Fliegenpilz‹ wackelte sehr kritisch mit dem Kopf und blähte seine Nasenflügel.

»Wellby«, half er widerwillig nach, aber plötzlich kam ihm ein Einfall, und er war mit einemmal Feuer und Flamme. »Ausgezeichnet«, bemerkte er. »Ich kann Ihnen zwar nicht garantieren, wie er sich benehmen wird, denn es ist nicht jedem gegeben, sich in großer Gesellschaft tadellos zu bewegen, aber was kann schließlich passieren? Höchstens blamiert er sich vor den Leuten, was ihm nicht schaden würde. Zu meinem Kopf möchte ich mir seine Aufgeblasenheit wünschen. Aber ich habe ihn unlängst gründlich hineingelegt«, stellte er befriedigt fest.

Der smarte Jüngling grinste Mrs. Evelyn vergnügt an, die ein derartiges Interesse verriet, daß er nicht umhin konnte, ihr die Geschichte von dem Notizbuch von Miss Avery zu erzählen, wobei er betonte, daß er die hebräischen Schriftzeichen selbstverständlich nicht habe entziffern können. Mrs. Dyke hörte wirklich aufmerksam zu und sah ihn lange schweigend an.

»Vielleicht sollte ich da auch an Miss Avery eine Einladung schicken?« meinte sie endlich.

Der ›Fliegenpilz‹ fand diese Idee offenbar nicht sehr glücklich, und sein Gesicht verriet die Bedenken, die er hegte.

»Sie ist nicht gerade schön, wenn Sie sie nicht kennen sollten«, wandte er ein. »Das heißt, von schön darf man da überhaupt nicht reden. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir kann es recht sein«, schloß er großmütig.

»Das wären also drei«, bemerkte Mrs. Dyke, und in demselben Augenblick fiel Mr. Fish auch schon ein vierter Mann ein. Er war seinem neuen Freund unbedingt eine Revanche für den reizenden Abend schuldig, und auf diese Weise kostete ihn die Sache nicht einen Penny.

»Laden Sie noch Mr. Boyd ein«, schlug er daher vor. »Der Herr ist zwar nur Externist bei uns, aber in jeder Beziehung ein Gentleman. Vielleicht haben Sie ihn mit mir im Princes-Restaurant gesehen. Wir pflegen dort sehr oft zusammen das Dinner einzunehmen. Ein entzückender Mensch! Ehemaliger Diplomat, wie ich gehört habe«, flocht er vertraulich ein, »aber er selbst ist zu bescheiden, um davon zu sprechen.«

Mrs. Evelyn war sehr begierig, diesen netten Mann kennenzulernen, und Mr. Fish verabschiedete sich hochbefriedigt. Sie hatte zwar nicht direkt von dem gesprochen, was sie auf dem Herzen hatte, aber er kannte die Frauen und wußte, daß sie nie den geraden Weg einschlugen. Wahrscheinlich würde sie erst an dem gewissen Abend etwas mehr aus sich herausgehen, und er würde es ihr so leicht als möglich machen.

Der ›Fliegenpilz‹ war an diesem Vormittag noch lauter als sonst und kam überhaupt nicht zur Ruhe. Immer wieder stellte sich ein Kollege im Reporterzimmer ein, der noch nicht gehört hatte, wie liebenswürdig Mrs. Dyke eine halbe Stunde lang zu Mr. Fish in ihrem Kontor gewesen war, und je öfter der junge Mann diese Geschichte erzählte, desto länger und bedeutsamer wurde sie. Man sah ihm allmählich an, wie sehr es ihm widerstrebte, die allgemeine Wißbegierde zu befriedigen, aber er zwang sich doch zu einer Wiederholung, als endlich der lang erwartete Wellby erschien. Dieser tat natürlich wieder so, als ob ihn die Sache nicht interessierte, und Mr. Fish fand dies so unerhört, daß er seinen Trumpf viel früher ausspielte, als er beabsichtigt hatte. Er zog plötzlich seine abgegriffene Brieftasche, nahm mit gespitzten Fingern eine Pfundnote heraus und legte sie wortlos vor Wellby hin.

»Was soll das?« fragte dieser kühl und hob die Brauen hoch.

»Ein Pfund, daß Sie in den nächsten Tagen von einer schönen Frau eine Einladung erhalten werden.«

Wellby zuckte mit den Achseln und sah wieder in seine Zeitung.

»Ausgeschlossen.«

Der ›Fliegenpilz‹ stieß kurz die Luft aus den Wangen. »Ein Pfund habe ich gesagt. Halten Sie?«

»Meinetwegen, ich halte«, sagte Wellby etwas ungeduldig, und er war seiner Sache offenbar so sicher, daß er den Schein aus der Westentasche kramte, worauf Mr. Fish ihn samt seinem Einsatz sofort in der Brieftasche verschwinden ließ. Das schien selbst dem gelassenen Reporter zu viel zu sein. »Erlauben Sie«, wandte er befremdet ein, »was soll das heißen?«

Der ›Fliegenpilz‹ war bereits an der Tür und drückte seinen Hut noch etwas mehr auf die abstehenden Ohren.

»Das soll heißen, daß Sie verloren haben«, sagte er hastig über die Schulter. »Sie werden von Mrs. Dyke eine Einladung erhalten. Ich habe Sie vorgeschlagen und selbst auf die Liste gesetzt. Die Sache geht in Ordnung.«

Unterwegs traf er auch noch Miss Avery, und wenn er von dem unschönen Mädchen auch nicht gerade entzückt war, so glaubte er der Kollegin die interessante Neuigkeit von dem Plauderstündchen mit Mrs. Dyke doch nicht vorenthalten zu dürfen. Auch daß er sich für ihre Einladung sehr eingesetzt habe, bemerkte er nebenbei, aber er war zu sehr Gentleman, um von einer Dame für diesen Dienst eine Gegenleistung zu verlangen, sei es auch nur in Form einer ganz fairen Wette.

Miss Avery war von der Mitteilung sichtlich überrascht, aber bevor sie noch recht begriffen hatte, war Mr. Fish bereits davongeeilt, und sie hätte doch gerne etwas Näheres erfahren.

Seltsamerweise kam Wellby ganz unvermittelt auf die Sache zu sprechen, als sie im Reporterzimmer allein geblieben waren.

»Ich nehme an, daß Sie auch eine Einladung von Mrs. Dyke erhalten sollen. Werden Sie hingehen?«

Sie sah ihn etwas erstaunt an und überlegte eine Weile.

»Ich weiß noch nicht. Offen gestanden hielt ich die Bemerkung von Mr. Fish für einen Scherz.«

Wellby schüttelte den Kopf.

»Nein. Es ist ernst.«

Sie glaubte, in seinen Worten einen eigenartigen Unterton mitklingen zu hören, und versuchte, in seinen Mienen zu lesen, aber er beschäftigte sich angelegentlich mit seiner Zigarette, und sie begann plötzlich leise zu lachen.

»Können Sie sich das vorstellen? Ich glaube, ich würde mich nicht gerade vorteilhaft ausnehmen. Außerdem habe ich nichts anzuziehen«, fügte sie hastig hinzu, als sie seinen Blick auf sich gerichtet fühlte.

»Trotzdem sollten Sie sich nicht ausschließen«, meinte er. »Mrs. Dyke legt sicher größten Wert darauf, daß Sie kommen.«

Sie kramte eine Weile in ihrer Aktentasche.

»Ich werde es mir noch überlegen«, sagte sie dann und wollte sich verabschieden, aber er hielt sie an der Hand zurück.

»Einen Augenblick noch. Wir machen also morgen die verabredete Partie auf der Themse. Und da Sie es nicht anders wünschen, treffen wir uns um neun Uhr beim Battersea Park. Von dort fahren wir mit einer Droschke nach Mortlake.«

»Sie werden sich meinetwegen noch ruinieren«, spottete sie, und ihre undurchdringlichen Augengläser starrten ihn herausfordernd an. »Glauben Sie übrigens, daß ich es wagen darf, eine Hose anzuziehen?« fragte sie plötzlich. »Ich glaube, ich habe so etwas in meinen Sachen. Eine Freundin hat sie mir einmal zurückgelassen . . .«

»Wagen Sie es immerhin. Wenn es zu schrecklich sein sollte, werde ich es Ihnen schon sagen.«

»Grobian«, gab sie empört zurück und rümpfte das feine Naschen. »Also, morgen um neun Uhr . . .«

Sie nickte kurz und schlürfte mit hängenden Schultern davon.

Wellby ließ seinen Blick nicht von ihren Füßen und lächelte befriedigt, als sie dies zu fühlen schien und immer unruhiger zu trippeln begann, bis sie fast fluchtartig durch die Tür schoß.


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