Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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7

Pat Coppertree, der von Mrs. Nettie Coppertree selbst in ihrer übelsten Laune aus unerforschlichen Gründen nur ›mein Süßer‹ genannt wurde, hielt nicht viel von der Kunst des Schreibens, aber er besaß den Stumpf eines etwa daumenstarken Zimmermannsbleistiftes, der von ihm ebenso unzertrennlich war wie der Kautabak. Mit dem abgekauten Ende dieses Stifts pflegte er zur Unterstützung seines Gedächtnisses auf der in seiner Pförtnerstube aufliegenden Personalliste des Hauses die freigebigen weißen Schafe von den knickrigen schwarzen zu scheiden, vor allem aber trug er damit in den Familienkalender, der mit dem Bildnis seines Schutzpatrons geschmückt war, die guten und die schlechten Tage gewissenhaft ein. Waren die Einnahmen zufriedenstellend, so malte Pat mit dem dicken Bleistift, der sich in seinen Fingern wie ein Zahnstocher ausnahm, umständlich aber deutlich einen Stern, manchmal auch zwei; war aber das Geschäft flau gegangen oder war ihm gar ein Schuldner durchgebrannt – Mr. Coppertree half gegen gute Worte und ungefähr dreihundert Prozent Zinsen vertrauenswürdigen Angestellten des Hauses stets gerne aus –, so kam hinter den betreffenden Tag ein mächtiges schwarzes Kreuz, das von der düsteren Gemütsverfassung des Iren kündete.

Im allgemeinen sah aber der Kalender wie ein Sternenzelt aus, und nur ungefähr auf jedem dritten Monatsblatt gab es ein vereinzeltes Wahrzeichen schmerzlicher Trauer.

Das sollte jedoch mit einemmal anders werden, denn an dem Morgen nach dem unseligen Tag, an dem er von der schönen Mrs. Dyke seinen letzten Auftrag erhalten hatte, meißelte Pat Coppertree unter endlosen halblauten Flüchen einen ganzen Friedhof auf die Märzseite, und er ging dabei so grimmig zu Werk, daß selbst noch auf dem Dezemberblatt die unheilvollen Kreuze mit tiefen Furchen eingegraben waren.

Wie das Verhängnis gekommen war, wußte der verstörte Pat nicht zu sagen. Es war in dem Augenblick hereingebrochen, da er im allerschönsten Zuge war und da es für ihn eigentlich nur noch wenig zu tun gab, um Mrs. Dyke, wie immer auch diesmal, völlig zufriedenzustellen.

Unmittelbar nachdem er Mr. Wellby durch seinen strammen Gruß zum erstenmal seiner besonderen Hochachtung versichert hatte – man konnte ja nicht wissen, was das plötzliche Interesse von Mrs. Evelyn bedeutete, und besser war besser –, hatte Pat unternehmend seinen Mantel angezogen und die etwas mißtrauische Mrs. Nettie Coppertree telefonisch wissen lassen, daß er eine sehr wichtige dienstliche Besorgung zu erledigen habe und daher nicht sagen könne, wann er heimkehren werde. Schon früher hatte er in Erfahrung gebracht, daß er den Reporter um neun Uhr in dem Versammlungslokal der Heilsarmee sicher antreffen konnte, und es war daher nicht notwendig, daß er ihn schon jetzt abpaßte und sich ununterbrochen an seine Fersen heftete. Er konnte vielmehr die Zwischenzeit dazu benützen, gewisse Erkundigungen einzuziehen und sich zunächst ein Bild von den Verhältnissen und der Lebensführung des Mannes zu verschaffen. Vielleicht lag Mrs. Evelyn daran, auch darüber etwas zu erfahren, denn Frauen sind nun einmal Frauen, und wenn Pat solch eine Sache auf sich nahm, lieferte er nichts Halbes.

Etwa eine Dreiviertelstunde später stand er bereits vor dem niedrigen unscheinbaren Haus bei der Vauxhall-Brücke in Kennington, das Mr. Wellby als seine Wohnung ausgegeben hatte, und so wenig ermunternd der Empfang durch die mürrische und reizlose Hauswirtin auch war, Pat ließ sich dadurch nicht abschrecken. Er besaß eine so einschmeichelnde, unterhaltsame und ausdauernde Beredsamkeit, daß selbst das herbste Frauengemüt sich ihr höchstens fünf Minuten zu verschließen vermochte, und vor allem konnte der kleine Mann mit den gebogenen Beinen lügen wie gedruckt. Nachdem er die Hauswirtin in einem einzigen Satz um Entschuldigung für seine Zudringlichkeit gebeten, zu ihrem prächtigen Aussehen beglückwünscht, nach ihrem Gatten und ihrer Familie befragt und dann wegen ihres einsamen Witwentums mit mitleidsvoll verdrehten Augen bedauert hatte, kam er schließlich auf den Grund seines Besuches zu sprechen. Er habe von einem gemeinsamen Bekannten vom Land eine Bestellung für Mr. Wellby erhalten, könne dessen aber in dem großen Zeitungshaus nie habhaft werden. Nun habe man ihn hergewiesen, und wenn ihn Madame unterstützen wollte, würde sie ein gutes Werk tun, denn er sei bereits ganz abgehetzt, und die Sache sei einigermaßen dringend.

Madame war bereits weich wie Wachs und so voll Verständnis und Mitgefühl, daß sie dem bedauernswerten Mann vorerst einmal aus einer vielversprechenden Flasche eine Stärkung kredenzte, die Pat mit solcher Behutsamkeit und Geschicklichkeit hinuntergoß, daß auch nicht ein Tropfen an dem üppig wuchernden Bart hängenblieb.

Aber helfen könne sie ihm leider nicht, meinte die Witwe mit einem vielsagenden Seufzer und einem beredten Blick. Mr. Wellby zahle zwar pünktlich, aber das beweise noch nichts, denn er wohne erst ungefähr zwei Monate bei ihr. Die erste Zeit pflegten ja diese jungen Leute alle gut zu tun, aber dann . . . Nun, man werde ja sehen. Offen gestanden habe sie gewisse Bedenken, denn ein Leben, wie es ihr Mieter führe, könnte kein gutes Ende nehmen. Er komme täglich höchstens auf eine oder zwei Stunden nach Hause und das nicht einmal bei Nacht. Die Stimme von Madame wurde sehr spitz und ihr Blick von verschämter Anzüglichkeit. Aber schließlich gehe sie das alles nichts an, solange sie dadurch nicht zu Schaden komme. Leider habe sie für den schlimmsten Fall aber so gut wie gar nichts in der Hand, denn die paar Stückchen Wäsche, die Mr. Wellby im Schrank habe, seien nicht viel wert und der eine Anzug sei bereits zweimal gestopft. Dann sei allerdings auch noch ein Gummimantel da, aber der lasse bestimmt Wasser durch, und das eine Paar Schuhe sei auch nicht mehr besonders. – So habe jeder seine Sorgen, und so gerne sie einem Gentleman, wie ihrem Besucher, dienlich sein würde, könne sie ihm beim besten Willen nicht sagen, wann ihr Mieter anzutreffen sei. Einmal komme er früh, einmal abends.

Mr. Coppertree saß mit sittsam gefalteten Händen und von vollem Verständnis sprechenden Augen da, um ja nicht ein Wort zu verlieren.

Und wenn Pat Coppertree nicht schon längst überzeugt gewesen wäre, daß bei allem, was er unternahm, sein mächtiger Schutzpatron die Hände über ihn halte, weil er ihm alljährlich an seinem Festtag zwei dicke teure Kerzen spendete, die er dem Cartwright-Konzern dann als Notbeleuchtung verrechnete, so hätte ihm dies unbedingt in der nächsten Stunde zum Bewußtsein kommen müssen. Er war nämlich eben im Begriff, seinen Posten bei der Cartershall zu beziehen, als plötzlich wenige Schritte vor ihm Mr. Wellby mit seiner Begleiterin aus einer Seitengasse auftauchte und etwa in der Mitte der Straße in einem kleinen Restaurant verschwand.

Der tüchtige Ire sah bei Tag wie ein Falke und bei Nacht wie eine Eule, und er wußte sofort, wer an der Seite des Reporters schritt. Er hatte dieser Figur mit dem hängenden Kopf und den nach vorn fallenden Schultern schon oft verstohlen nachgeblickt und dabei sogar gewisse Vergleiche gezogen. Mrs. Nettie hatte eine Warze unter dem Auge und die eine Seite ihres Halses war etwas dicker als die andere, und außerdem war sie um gute fünfundzwanzig Jahre älter, aber wenn er vor die Wahl gestellt worden wäre, hätte er sich um nichts in der Welt für ein Wesen wie Miss Avery, sondern trotz gewisser Erfahrungen unbedingt für Mrs. Nettie entschieden. Aber Pat war ein einsichtsvoller und gerechter Mann, der ohne weiteres zugab, daß das schließlich Geschmackssache sei, und während er sich einerseits wunderte, daß ein so auffallend hübscher und fescher Mann wie Mr. Wellby sich mit einer Vogelscheuche wie Miss Avery herumschleppte, gab er andererseits die Möglichkeit zu, daß dieser Mr. Wellby es sich vielleicht überlegen würde, mit Mrs. Nettie ein Restaurant zu besuchen. Aber die Hauptsache war schließlich, was Mrs. Dyke zu dieser Neuigkeit, die ihm da in den Weg gelaufen war, sagen würde.

Da plötzlich ein Sturzregen vom Himmel kam, suchte der Ire unter dem Torbogen eines gegenüberliegenden Hauses Zuflucht, und erst als der Reporter und seine Begleiterin das Restaurant verlassen hatten und, von seinen scharfen Blicken verfolgt, in der Cartershall verschwunden waren, gönnte er sich einen etwas gemütlicheren Unterschlupf, indem er in das freundliche Gasthaus hinüberwechselte. Er wußte, daß die beiden nun für eine geraume Weile versorgt waren, denn auch Mrs. Nettie hatte in ihrem bewegten Leben einige Monate der Heilsarmee angehört, und wenn man annahm, daß in der Versammlung nur drei oder vier Frauen von ihrer Beredsamkeit sprechen würden, so durfte er in aller Gemütsruhe ein Abendbrot einnehmen und sich ein oder zwei Glas gestatten. Schließlich bezahlte ja Mrs. Dyke immer sehr anständig, und es wäre nicht besonders ehrenhaft gewesen, das Geld einzustecken, ohne irgendwelche Auslagen gehabt zu haben.

Pünktlich um elf Uhr war Coppertree, neu gestärkt und scharfsichtiger denn je, wieder am Platz, aber er mußte noch zweimal seine Pfeife stopfen, bevor die Versammlung zu Ende war.

Aus einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten musterte er jedes Gesicht der lärmend ins Freie strömenden Menge, und Miss Avery und Wellby hatten kaum die Nase aus dem Portal gesteckt, als er ihrer auch schon ansichtig wurde. Einen Augenblick verhielt Pat den Atem und wartete gespannt, was nun geschehen würde, dann nahm Miss Avery nach einem kurzen Händedruck ihren Weg eiligst auf die Southwark Bridge zu, der Reporter aber wandte sich ebenso eilig zum Tower, und Pat fand das begreiflich und anständig.

Wellby war ein flotter Fußgänger, aber auch der kleine Mr. Coppertree ließ sich nicht lumpen. Er trottete in immer gleicher Entfernung hinter seinem Schutzbefohlenen drein und machte seine Sache so geschickt, daß dieser ihn kaum bemerken konnte, obwohl er sich von Zeit zu Zeit aufmerksam umsah.

Der Ire war plötzlich sehr neugierig, wohin die Reise gehen würde. Da dieser lebenslustige junge Herr keine Nacht in seiner Wohnung schlief, mußte er wohl anderwärts ein warmes Nest haben, und vielleicht war es eben das, was Mrs. Dyke wissen wollte. Nun, sie sollte es erfahren, denn sie hatte sich an den richtigen Mann gewandt.

Bis zur London Bridge verlief alles wie am Schnürchen. Der Weg war zwar weit, und die zeitweiligen Regenschauer und der dichte Nebel machten ihn nicht gerade angenehm, aber Pat war zu Beginn seiner ehrenvollen Laufbahn vier Jahre auf einem Fischkutter in der Bantry-Bay und dann fast ein Jahrzehnt auf einem Schlepper zwischen Ramsgate und dem Londoner Pool gefahren, und solche Dinge machten ihm daher nichts aus.

Nur verdammt aufpassen mußte er, um seinen Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Fast wäre ihm das passiert, als sie zu den St.-Katharinen-Docks kamen, denn hier bog Wellby plötzlich scharf zum Fluß ein, und sein Verfolger wunderte sich nicht wenig, was er wohl in dieser Gegend zu suchen hätte. Es gab hier nichts als riesige Lagerhäuser und Werftanlagen und hie und da eine Kneipe, und unter den Schiffsleuten und Fischern trieb sich allerlei lichtscheues Gesindel herum. Dieser Mr. Wellby mußte eine gehörige Portion Courage besitzen, daß er sich zu nächtlicher Zeit hierherwagte, und kaum war Pat dieser Gedanke gekommen, als ihm auch schon die Ereignisse recht zu geben schienen. Der scharfäugige kleine Mann sah plötzlich zwei riesige Gestalten aus dem Dunstmeer auftauchen, und im nächsten Augenblick hatten sie den Reporter in der Mitte und rempelten ihn an. Bevor aber Mr. Coppertree sich noch darüber schlüssig werden konnte, wie er sich in diesem unvorhergesehenen Fall verhalten sollte, war der geschmeidige Wellby bereits ausgebrochen und irgendwo im Dunkel verschwunden. Pat hörte einige derbe Späße und Freundlichkeiten, die dem Entwischten nach hallten, und dann kamen die beiden Gestalten auch schon näher.

Es waren wirklich auffallend große Leute, und der vorsichtige Pat musterte sie bereits aus der Entfernung mit kritischen Blicken. Ihr Äußeres war nicht sehr vertrauenerweckend, und außerdem schienen sie etwas angeheitert zu sein. Jedenfalls spuckte Mr. Coppertree zunächst einmal gehörig aus und klemmte den Priem fest in die linke Wange, um Luft zu haben.

Dann standen die Burschen auch schon dicht vor ihm und legten ihm fast gleichzeitig ihre schweren Hände auf die Schultern. Der Ire wollte sie wütend abschütteln, aber er steckte wie in einem Schraubstock. Er sah in zwei sonnverbrannte junge Gesichter, die ihn grinsend musterten, aber bevor er noch fluchen konnte, hatten sich die beiden schon wieder zu ihrer ganzen Länge aufgerichtet und brachen in schallendes Gelächter aus.

»Kamerad«, grölte der eine entzückt und liebenswürdig, »auf dich haben wir gewartet! So etwas findet man nicht alle Tage. Du mußt mit uns kommen. Wir haben zwar augenblicklich keinen Penny in der Tasche, aber wenn wir dich in den Schenken sehen lassen, gibt's ganze Mützen voll. – Wir werden sagen, wir hätten dich frisch aus den Urwäldern von Borneo mitgebracht . . .«

Der Mann schüttelte sich vor Vergnügen, und der andere wollte auch seinen Anteil an dem Spaß haben.

»Jetzt fangen wir uns noch einen Köter«, schlug er vor, »und den lassen wir dann durch deine schönen Beine Reifen springen. Wie ich sehe, kann es ja auch ein etwas größeres Vieh sein.«

Die kleinen Schlitzaugen des armen Pat blitzten. Er war vor Wut förmlich gelähmt, und deshalb wehrte er sich anfangs nicht, als sie ihn an den langen, muskulösen Armen faßten und den Weg wieder zurückschleppten, den er gekommen war. Er vertrug ja manches und verstand auch einen Spaß, aber mit so unverschämten Anzüglichkeiten durfte man ihm nicht kommen.

Plötzlich zog er mit einem kräftigen Ruck die breiten Schultern ein, und im nächsten Augenblick flogen seine Arme wie stählerne Hebel auseinander, so daß die beiden Riesen an seiner Seite fast ins Wanken gerieten. Aber sofort packen sie etwas fester zu, und der arme kleine Mann fühlte, daß es so kein Entkommen gab.

Die beiden Burschen machten mit ihrem strampelnden und lärmenden Opfer halt und sahen sich etwas ratlos an. Plötzlich aber schienen sie mit sich ins reine gekommen zu sein.

Wenige Schritte weiter lief ein kleiner Kanal zu einem der Speicher, und kaum eine Minute später klatschte er aufs Wasser.

Zwei schmunzelnde Gesichter starrten gespannt und hilfsbereit in die wogenden Kreise, bis der Ire wieder aus der nicht allzu gefährlichen Tiefe auftauchte und schnaufend und prustend wie ein Seehund zur rettenden Ufermauer paddelte.

»Gute Nacht, Kamerad«, sagte der eine der Riesen höflich. »Steck deinen schönen Bart gut unter die Bettdecke, damit er keine Erkältung bekommt.«

»Besser wäre es aber, du bleibst so lange im Wasser, bis deine Beine so weich werden, daß du sie geradebiegen kannst«, riet der zweite, worauf sich beide eiligst davontrollten.

Glücklicherweise hatte Pat Coppertree zuviel Wasser in den Ohren, um sich über diese neuerlichen Anzüglichkeiten aufregen zu können.

Nicht allzuweit wußte der triefende Pat von früher her ein gemütliches Lokal, und dorthin setzte er sich eiligst in Trab.

Sein Erscheinen ›Bei den freundlichen Winden‹, wo eine trinkfeste Runde beisammen saß, erregte einiges Aufsehen, denn es strömte noch immer von ihm, als ob er einen halben Meerbusen intus hätte. Es hätte vielleicht eine Panik gegeben, wenn die unförmige, aber resolute Wirtin hinter dem Schanktisch nicht ein so wunderbares Gedächtnis für alle Gäste gehabt hätte, die jemals den Fuß über die Schwelle ihres Lokals gesetzt hatten. Es waren ihrer im Laufe der letzten dreißig Jahre eine Legion, aber das machte ihr nichts aus.

»Pat«, sagte sie, ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken, indem sie verwundert die etwas glasigen Augen aufriß, »wonach tauchst du mitten in der Nacht in der Themse? Es ist doch nichts drin als Dreck und Steine.«

Dann blickte sie mißmutig auf die riesige Lache, in der er klappernd stand, und überlegte blitzschnell, was da zu tun war.

»Lola«, befahl sie ihrer Nichte, die an einem Tisch saß und über das ganze rot- und weißgeschminkte Gesicht grinste, »gib diesem Gentleman die Hose und den Rock vom Seligen. Du findest die Sachen in meinem Schrank. Und dann suche meine Winterstrümpfe heraus und die hohen Filzschuhe. Sieh aber erst nach, ob nicht eine Maus drin ist. Und das Hemd gibst du von dir. Du hast ja gerade eins geplättet. Die Sachen von Mr. Coppertree kommen über den Herd zum Trocknen, aber gib acht, daß sie nicht in das Grogwasser tropfen.«

Das Mädchen warf trotzig den Kopf zurück, aber die dicke Frau beugte sich etwas zur Seite, und Lola sprang gehorsam auf. Die Tante konnte sich wegen ihrer zweihundertsechzig Pfund zwar nicht allein aus dem Lehnstuhl erheben, aber sie hatte immer irgend etwas neben sich stehen und traf damit todsicher.

»Mr. Coppertree«, sagte die hilfsbereite, gutherzige Frau, »gehen Sie mit dem Mädchen. Sie wird aus Ihnen wieder einen anständigen Menschen machen. Genieren Sie sich nur nicht. Sie ist nicht so.«

Während Pat drinnen in eine trockene Haut kroch, erzählte draußen die Wirtin ihren aufhorchenden Gästen von seiner märchenhaften Laufbahn. Noch vor sechs Jahren habe er selbst am Sonntag so von Teer und anderem Schmutz gestarrt, daß er überall klebenblieb, wo er sich hinsetzte, und jetzt gehe er sogar an Wochentagen mit goldenen Borten am Rock und an der Kappe herum.

Pat wurde dank dieser Einführung bei seiner Wiederkehr mit größter Hochachtung empfangen, und er hatte solch eine Aufmunterung nötig. Man räumte ihm den wärmsten Platz ein und behandelte ihn wie eine Respektsperson, obwohl er aussah wie eine Vogelscheuche. Man getraute sich nicht einmal zu fragen, was ihm widerfahren war, und auch er sprach nicht davon. Er hielt sich zunächst schweigend an den sehr steifen Grog, und da ein Glas natürlich nicht genügte, einen so kräftigen Körper wie den seinen zu erwärmen und den ekelhaften Geschmack von dem dreckigen Themsewasser aus dem Mund zu spülen, trank er noch ein zweites und drittes. Und dann kam er erst darauf, daß der Grog ›Bei den freundlichen Winden‹ ganz besonders gut war. Er trank daher noch ein viertes, fünftes und sechstes Glas, und da er jetzt erst in die richtige Stimmung geriet, setzte er noch ein siebentes, achtes und neuntes darauf. Und die freundlichen Leute, und die freundliche Wirtin stießen alle mit ihm an und tranken mit, und die freundliche Lola setzte sich sogar auf seinen Schoß und kraulte seinen Bart, was Mrs. Nettie noch nie getan hatte.

Diese unwillkürliche Erinnerung an Mrs. Nettie kam Pat einigermaßen ungelegen, denn sie gemahnte ihn daran, daß er, so nett es ›Bei den freundlichen Winden‹ auch war, doch einmal die Anker lichten und dem heimatlichen Hafen zusteuern mußte. Aber ein oder zwei Gläser zum Abschied konnte er sich schließlich noch leisten, und erst, als er diese hinter die Binde gegossen hatte, machte er klar.

Es war nicht so leicht, denn Mr. Coppertree stand etwas unsicher auf den Füßen, und nicht nur die freundliche Lola, sondern auch die ganze übrige Tafelrunde mußte diesmal mit heran, um ihm wieder in seine Kluft zu helfen, und es ging dabei begreiflicherweise etwas eilig und zerfahren zu.

Mehr infolge seines sicheren Instinkts als aus klarer Berechnung landete der Ire gegen vier Uhr morgens vor seiner Tür und öffnete diese so geräuschvoll, daß Mrs. Nettie ihr tiefes Schnarchen plötzlich abbrach und energisch den Lichtschalter drehte.

Die plötzliche Helligkeit fuhr Pat wie ein Stich durch das Hirn, und die Folge davon war, daß sich das ganze Zimmer wie ein Reigen von verrückt gewordenen Kommoden, Betten, Tischen, Stühlen um ihn zu drehen begann.

»Mein Süßer, du hast getrunken«, hörte er Mrs. Netties scharfe Stimme, aber sie schien von weit her zu kommen, daß er darauf gar nicht antworten zu müssen glaubte. Er hatte auch augenblicklich andere Dinge zu tun, denn er focht einen förmlichen Kampf mit seinen Kleidern aus, die ihm absolut nicht vom Leib wollten. Dabei war es ihm, als ob er ununterbrochen die Stimme von Mrs. Nettie höre, aber er konnte sich nicht erklären, wie sie zu den ›Freundlichen Winden‹ kam, mit wem sie sprach und was sie soviel zu erzählen hatte.

Plötzlich aber hörte er einen gellenden Schrei und verspürte ein paar Fäuste, die wild auf seinen Schädel trommelten. Und als er überrascht auffuhr, erwischte ihn eine energische Hand am spitzenbesetzten Ausschnitt von Lolas Hemd, das erst heute geplättet worden war, und die andere Hand fuhr in seinen Bart, aber bei weitem nicht so sanft wie Lolas.

In dieser Nacht gab es bei Coppertrees Krach, und am nächsten Morgen hatte Mrs. Nettie um das Auge über der großen Warze einen mächtigen blauroten Fleck, Mr. Pat aber verließ das Haus mit einer großen Beule am Hinterkopf.


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