Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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22

»Hast du etwas von Selwood gehört?« fragte Mrs. Helen beim zweiten Frühstück in ihrer verschüchterten Art. Aber so belanglos und bescheiden die Frage klang, Osborn geriet dadurch wieder einmal außer Rand und Band.

»Hol ihn der Teufel!« schrie er, indem er das Besteck heftig auf den Tisch warf, »und dich dazu. Was liegst du mir fortwährend mit diesem Burschen in den Ohren? Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen und mag ihn auch nicht sehen.«

Die junge Frau kroch ängstlich in sich zusammen.

»Ich meinte nur . . .«, stotterte sie verwirrt und zaghaft. »Wegen der Sache, die ich dir unlängst ausgerichtet habe. Daß er alles ausplaudern will . . .«

»Ja, ich weiß«, schnitt er ihr wütend das Wort ab. »Und ich traue ihm das auch zu, denn er ist immer eine feige Memme gewesen. Schon damals. Aber mir ist es völlig gleichgültig, was geschieht, verstehst du? Im übrigen habe ich keine Lust, deine albernen Fragen zu beantworten.«

Osborn befand sich in äußerst übler Laune, und er hatte wirklich Grund hierfür. Es schien sich plötzlich alles wider ihn verschworen zu haben, denn was er auch unternahm, ging schief. Sein Pech im Spiel hatte geradezu groteske Formen angenommen und ihn in Verpflichtungen gestürzt, die weit über seine verfügbaren Mittel gingen. Er mußte sich notgedrungen heute oder morgen wieder an Helen wenden, aber das war so unangenehm, daß er es bis zur letzten Minute verschob.

Schließlich war das auch nicht die dringlichste und gefährlichste Sache, die ihm zu schaffen gab. Weit mehr bedrückte ihn der Fall Wellby, den er in aller Stille in die Hand genommen und in seiner gründlichen Art zu erledigen gedacht hatte. Er war nicht der Mann, der viel Worte machte, aber er hatte einen raschen und scharfen Blick, und kaum war der Stein ins Rollen gekommen, so wußte er auch schon, wo der Feind stand, der am meisten zu fürchten war. Die anderen hatten sich über die Persönlichkeit des Reporters und dessen Absichten die Köpfe zerbrochen, er aber war ihm sofort zu Leibe gerückt.

Allerdings hatte er sich die Sache nicht so schwierig vorgestellt, wie sie sich gestalten sollte. Als der Überfall beim Hafen mißlungen war, hatte er noch an einen mißlichen Zufall geglaubt, aber daß auch der Anschlag mit der Katze und die Jagd auf der Themse erfolglos endeten, hatte ihm zu denken gegeben. Osborn war nicht der Mann, der sich Selbsttäuschungen hingab, und er war sich zur Stunde völlig klar, daß er es mit einem Gegner zu tun hatte, der ihm gewachsen war und der über Helfershelfer verfügte, die seinen bezahlten Leuten eine jämmerliche Schlappe nach der anderen beibrachten.

Dieses Bewußtsein machte ihn nervös und unruhig, dazu kam noch das vergebliche Warten auf die ›Königin der Nacht‹. Seit Tagen war er jeden Augenblick gefaßt, die Erscheinung neben sich auftauchen zu sehen, und hatte seine Vorbereitungen getroffen. Das leiseste Geräusch begann ihn zu schrecken und drohte ihn um seine Kaltblütigkeit zu bringen.

Er grübelte unausgesetzt darüber nach, warum wohl die geheimnisvolle Persönlichkeit gerade ihm noch nicht in den Weg getreten war. Wenn sie vielleicht auch nicht wissen mochte, daß er damals am Brunnen der sieben Palmen die Hauptrolle gespielt hatte, so mußte er ihr doch zumindest ebenso beteiligt erscheinen wie die übrigen, nach denen sie bereits die Hand ausgestreckt hatte, und wie Selwood, der als nächster an der Reihe schien. Sollte sich vielleicht erst dessen Schicksal erfüllen, bevor das gleiche heimtückische Spiel mit ihm begann?

Osborn würde diese furchtbare Spannung nicht mehr lange ertragen können, und als es ihn gegen fünf Uhr aus dem Hause trieb, sah er tatsächlich so verstört und verfallen aus, daß sich Boyds Lippen zu einem bedenklichen leisen Pfeifen spitzten. Der elegante, weißhaarige Herr war nur ein bißchen um das Haus herumgeschlendert, um nachzusehen, ob die Leute von Oberst Terry auf ihren Posten waren, und er hatte, wie bei Selwood und Mrs. Dyke, auch hier alles in Ordnung gefunden. Das Netz war also gespannt, und schon in Kürze mußte es sich erweisen, ob es zweckdienlich und zuverlässig war.

Der Detektiv schwang sich befriedigt in seinen kleinen Wagen und fuhr nach Scotland Yard.

»Was bringen Sie da Besonderes?« fragte Terry neugierig, als der ehemalige Oberinspektor mit einer Handtasche angerückt kam und diese mit größter Behutsamkeit auf den Tisch stellte.

»Ein Geschoß der ›Königin der Nacht‹«, erklärte Boyd, indem er ein kleines Holzkästchen hervorzog. »Einmal etwas, was Sie noch nie gesehen haben und vorläufig auch nicht sehen sollen. Es ist am besten, Sie nehmen das Ding so, wie ich es verpackt habe, unter sicheren Verschluß, bis Sie es brauchen. Dann sollen sich die Chemiker damit beschäftigen, die ja gewohnt sind, mit so gefährlichem Zeug umzugehen. Unsereiner könnte dabei das größte Unheil anrichten. Im übrigen weisen Sie auch Ihre Leute an, die mit der Überwachung betraut sind, sehr vorsichtig zu sein, wenn ihnen eine vermummte Gestalt in den Weg laufen sollte. Die Sache könnte, wie ich selbst erfahren habe, sehr schlimm ausgehen, und es hat gar keinen Zweck, daß einer von unseren braven Jungen dabei sein Leben aufs Spiel setzt. Wir werden sie schon in einem günstigen Augenblick zu fassen kriegen.«

Dem Oberst brannten hundert Fragen auf den Lippen, aber er wußte, daß Boyd mit ungeduldigem Drängen nicht beizukommen war.

»Sie sind ihr begegnet?«

Boyds Gesicht bekam einen verlegenen Ausdruck, und er schnippte umständlich einige Stäubchen von seinem Anzug.

»Wir standen uns auf etwa zwei Schritte gegenüber, aber ich hatte gerade keinen besonders guten Tag. Das heißt, ich darf nicht undankbar sein. Es war immerhin etwas, dem Schuß auszuweichen und dann auch noch das Geschoß zu finden.«

»Boyd, spannen Sie mich nicht so auf die Folter«, jammerte der Polizeioffizier. »Wie war die Geschichte?«

Der weißhaarige Herr sah auf die Uhr und ließ erkennen, daß er große Eile hatte.

»Wie ich Ihnen sagte. Wir stießen zusammen, und sie hat auf mich geschossen.«

»Geschossen?« fragte der Oberst verständnislos.

»Allerdings. Jedenfalls kann man es so nennen. Wahrscheinlich hat sie ein äußerst geschickt konstruiertes handliches Rohr, aus dem die niedlichen Ballons durch komprimierte Luft herausgeschleudert werden. Das Ding muß ein kleines Kunstwerk sein und erfüllt unbedingt seinen Zweck, denn ich habe wahrnehmen können, daß es zehn Schritte weit trägt. Das genügte sowohl bei Cartwright wie bei Morton und Bryans. Ich habe mich heute an Ort und Stelle davon überzeugt. Alles in allem bin ich seit dem frühen Morgen unterwegs und habe seit dem ersten Frühstück keinen Bissen zu mir genommen. Deshalb gedenke ich zunächst einmal etwas für meinen Magen zu tun, und dann habe ich noch einige andere Dinge vor«, schloß er und machte sich eiligst davon.

Zu diesen anderen Dingen gehörte vor allem ein Besuch im Reporterzimmer des Cartwright-Hauses, um wieder einmal nach dem netten, redseligen Mr. Fish zu sehen, von dem er vielleicht einige neue wertvolle Fingerzeige erhalten konnte.

Aber Mr. Fish war noch nicht da, und als er, unternehmend wie immer, erschien, gab es eine höchst frostige Begrüßung.

»Das nennen Sie Freundschaft?« sagte der sommersprossige Jüngling und pflanzte sich mit den Händen in den Hosentaschen vor Boyd auf. »Ich opfere mich für Sie auf und lasse mich von Ihnen trotz meiner anderweitigen Verpflichtungen zu einem langweiligen Abendessen schleppen, und Sie tun plötzlich nichts dergleichen! Wo stecken Sie denn eigentlich die ganze Zeit? Seit Tagen warte ich auf Sie.«

»Ich hatte wirklich dringend zu tun«, versuchte der weißhaarige Herr sich zu entschuldigen, aber der ›Fliegenpilz‹ hatte dafür nur ein verächtliches Achselzucken.

»Wenn einer zu tun hat, so bin ich es«, stellte er mit so lauter Stimme fest, daß man es im ganzen Zimmer hören konnte. »Was wissen Sie, was ich zu tun habe. Trotzdem vernachlässige ich dabei meine Freunde nicht«, fuhr er anzüglich fort und begann in seinen sämtlichen Taschen zu kramen, »sondern tue für sie, was ich kann.« Er hatte endlich gefunden, was er suchte und warf mit einer nachlässigen Handbewegung einen Briefumschlag vor Boyd auf den Tisch. »Hier. Das danken Sie mir.«

Der völlig geknickte Detektiv besah sich interessiert das schmierige und zerknitterte Kuvert, das seinen Namen trug, und zog dann eine Karte heraus, die er hastig überflog:

»Mrs. Evelyn Dyke beehrt sich, Mr. Boyd für Donnerstag, den 9. April, zum Dinner einzuladen. 8 Uhr. 7, Stainsby Street, Nottinghill.«

»Das ist übermorgen«, machte Mr. Fish seinen Freund aufmerksam. »Sie können sich denken, wie ich auf Sie gewartet habe. Die Sache beginnt um acht Uhr, aber wir werden ein paar Minuten früher dort sein. Man kann sich dann ein bißchen umsehen, um zu wissen, wo man den Whisky und die Zigarren finden kann. Wenn wir ein Viertel nach sieben von meiner Wohnung abfahren, wird es genügen. Holen Sie mich also um diese Zeit ab: 19, High Street, Hoxton. Bringen Sie aber einen bequemen Wagen mit, denn wenn ich im Frack bin, drücke ich mich nicht gerne. Man sieht dann zu derangiert aus, und das macht keinen guten Eindruck.«

Mr. Boyd nahm die Wünsche seines Gönners mit der gebührenden Aufmerksamkeit zur Kenntnis, und das versöhnte den ›Fliegenpilz‹ wieder etwas.

»Sie werden sich sehr gut unterhalten«, versicherte er. »Natürlich erste Gesellschaft. Wahrscheinlich wie immer Osborns und Selwood – Sie wissen ja, die beiden Afrikaner – und von uns ich und Sie. Miss Avery und Wellby haben zwar auch eine Einladung erhalten«, bemerkte er obenhin, »aber nur durch meine Verwendung. Wellby ist schließlich ein ganz erträglicher Mensch, wenn man ihn zu nehmen weiß. Er hat in den letzten Tagen vier Pfund an mich verloren, bar bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken. Immerhin ganz anständig.«

Der Herr mit dem weißen Haar hörte mit solchem Interesse zu, daß der ›Fliegenpilz‹ nicht umhin konnte, die Vorgeschichte rasch, aber ausführlich zu erzählen, um einerseits seine Freundschaft mit Mrs. Dyke, andererseits seine Gerissenheit ins rechte Licht zu setzen. Und er konnte mit dem Eindruck auf seinen Zuhörer vollauf zufrieden sein.

»Wenn ich nicht in eine wichtige Sitzung des Reederverbandes müßte«, meinte er bedauernd, »würde ich Ihnen vorschlagen, daß wir zusammen speisen . . . Es gäbe wegen übermorgen noch so verschiedene Dinge zu besprechen.«

»Allerdings«, pflichtete Boyd bei. »Also, vielleicht morgen.«

»Gut«, nickte Fish und stellte bereits blitzschnell das Dinner zusammen, das er diesmal im ›Savoy‹ einnehmen wollte, als er sich noch rechtzeitig erinnerte, daß er den Frack und was dazugehört, beim Reinigen hatte und erst am übernächsten Tag erhalten sollte. »Aber«, schränkte er daher entgegenkommend ein, »diesmal ohne viel Umstände. Ich gehe auch ganz gerne in ein bescheidenes Lokal. Man speist dort ebenso gut und um fünfzig Prozent billiger. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich möchte wirklich nicht, daß Sie sich meinetwegen immer zu einem Luxusrestaurant zwingen.«

Er reichte Boyd huldvoll den Zeigefinger und fuhr dann damit verabschiedend an die Hutkrempe. Es war zwar nicht viel, was er in dieser Viertelstunde erreicht hatte, aber immerhin etwas, und er war nichts weniger als unbescheiden.

Auch Boyd war es nicht, und als er eine Weile später in der Halle Platz nahm, um Wellby abzupassen, lag ein sehr zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht.

Pat hatte, seitdem ihn der höllische Versucher mit ganzen zwölf Pfund versucht hatte, für sein Verhalten gegenüber dem Reporter einen sehr glücklichen Kompromiß gefunden. Er sah zwar noch immer weg, wenn der unangenehme Mann seine Loge passierte, aber dafür flogen sämtliche Finger seiner Rechten so stramm und mit so hochachtungsvoll abgestrecktem Ellbogen an die Mütze, wie dies nicht einmal bei Mr. Hyman geschah.

»Clive Boyd«, sagte der Detektiv sehr höflich, aber die Miene, mit der Wellby die Vorstellung entgegennahm, war keineswegs ermunternd. Er hatte dieses junge, frische Gesicht unter dem weißen Haar schon einige Male flüchtig gesehen, empfand aber nicht das Bedürfnis, neue Bekanntschaften zu schließen, und ließ dies deutlich erkennen.

»Würden Sie mich eine Viertelstunde anhören?« wagte Boyd trotzdem unbefangen und verbindlich vorzuschlagen. »Wir können uns hier in einer ungestörten Ecke niederlassen.«

Der Reporter warf ungeduldig den Kopf zurück, und der hochmütige Zug um seinen Mund trat noch schärfer hervor.

»Das wird wohl nicht notwendig sein«, meinte er frostig. »Wollen Sie mir kurz sagen, worum es sich handelt, ich bin in Eile.«

»Wie Sie wünschen«, meinte Boyd mit unerschütterlicher Liebenswürdigkeit und zog jenes Blatt Papier aus der Tasche, mit dem er sich während der Rundfahrt durch den Pool beschäftigt hatte. »Es handelt sich darum«, sagte er und tippte mit dem Finger auf den Schiffsnamen, der von ihm mit drei Ausrufungszeichen versehen worden war.

Noel Wellby blickte flüchtig auf das eine Wort und vermochte nicht zu verbergen, daß er davon betroffen war.

»Wer sind Sie?« fragte er nach einer Pause weit höflicher als bisher.

»Clive Boyd. Ich glaube, ich habe mich bereits vorgestellt. Früher Oberinspektor von Scotland Yard. Jetzt arbeite ich auf eigene Faust – wenn es mir Vergnügen macht.«

Der Reporter fand es plötzlich doch angezeigt, die Unterredung in einem abgelegenen Winkel fortzusetzen.

»Bitte«, forderte er den Detektiv auf. »Was haben Sie mir zu sagen?«

»Für heute nur wenig. Ich möchte Sie bloß auf die Gefahr aufmerksam machen.«

»Danke«, sagte Wellby kurz und lächelte.

Auch Boyd lächelte und richtete die grauen Augen scharf auf sein Gegenüber. »Das habe ich mir gedacht. Sie unterschätzen die Sache. Was bis jetzt war, war ein Kinderspiel.«

In dem Reporter begann doch einiges Interesse zu erwachen.

»Was wissen Sie davon?«

»Verschiedenes«, gab Boyd zurück. »Ein guter Bekannter von mir hat kürzlich einen Arm eingebüßt, nachdem er einige Stunden vorher frisch und munter vor dem Cartwright-Haus auf und ab gebummelt war. Und von Ihrer liebenswürdigen Wirtin weiß ich unter anderem, daß Sie die üble Gewohnheit haben, die Fenster offenzulassen, so daß vor einigen Tagen sogar eine Katze Ihrer Wohnung einen Besuch abstatten konnte.« Der weißhaarige Herr blickte angelegentlich zur Decke und strich sich das glatte Kinn. »Dieser Trick ist niederträchtig«, meinte er nebenbei, »aber nicht neu. Ich selbst habe auch einmal mit solch einem Tier zu tun gehabt, aber damals wußte ich nicht, wem ich diese Aufmerksamkeit zu danken hatte. Zu dumm es war doch so naheliegend. Ich hoffe, daß Sie als kluger Mann wenigstens die Pfoten aufbewahrt haben. Wir werden sie brauchen, wenn wir dem ›Professor‹ auf den Leib rücken. Und dann weiß ich auch von der netten Geschichte auf der Themse. Man stößt auf so verschiedenes, wenn man die Berichte unserer gewissenhaften Bobbys aufmerksam liest. Aber wie gesagt, alles das waren Kleinigkeiten. Wenn Sie es mit der ›Königin der Nacht‹ selbst zu tun bekommen werden – und ich nehme an, daß dies demnächst der Fall sein wird –, nützen Ihnen alle Ihre Vorkehrungen und Ihre tüchtigen Leute nichts. Sie schleudert Ihnen aus dem erstbesten Hinterhalt eine ihrer niedlichen Gaskugeln ins Gesicht, und Sie sind erledigt. Davor wollte ich Sie warnen.«

»Sie scheinen viel zu wissen«, bemerkte Wellby nach einer nachdenklichen Pause.

Der andere hob bescheiden die Schultern.

»Ich glaube, ich weiß alles. Bis auf einige Kleinigkeiten, die aber nicht von Belang sind. Und deshalb halte ich es für überflüssig, daß sich noch irgend jemand wegen dieser Sache einer Gefahr aussetzt. Sagen Sie dies auch Miss Avery. Ich würde es selbst tun, glaube aber, daß es aus Ihrem Mund mehr Eindruck machen wird.«

Der Reporter richtete sich mit einem Ruck halb auf und sah Boyd betroffen an, aber dieser saß mit dem gleichgültigsten Gesicht der Welt da.

»Was halten Sie von Miss Avery?« fragte Wellby plötzlich.

Der Detektiv dachte eine Weile nach, dann lächelte er vergnügt und überraschte den Reporter durch eine Gegenfrage.

»Woran haben Sie sie wiedererkannt?«

»Wen?«

»Ihre ›Königin der Nacht‹, die Sie bei Lord Etheridge gesehen haben, als sie Morton die gewissen Worte zuflüsterte.«

Wellby fühlte sich mit einem Male diesem weißhaarigen Herrn gegenüber höchst unbehaglich, und gab es auf, vor ihm Verstecken zu spielen.

»An einem kleinen Mal hinter dem linken Ohr und am Haar«, erklärte er offen. »Diese beiden nicht alltäglichen Dinge in einer zweiten Ausgabe wären ein zu seltsames Spiel der Natur gewesen.«

Boyd nickte zustimmend, aber Wellby genügte das nicht.

»Sie sind also ebenfalls überzeugt, daß Miss Avery die ›Königin der Nacht‹ ist?« fragte er unsicher.

»Ja.«

»Und daß . . .« – der junge Mann stockte plötzlich, und seine Stimme klang gepreßt und tonlos –, »Cartwright, Morton und . . .«

»Nein«, sagte Boyd nun ebenso kurz und entschieden, wie er vor her »ja« gesagt hatte. »Das wollen wir streng auseinanderhalten. – Hier war nicht Ihre, sondern meine ›Königin der Nacht‹ im Spiel.«

Von Wellby war schon längst die Gelassenheit gewichen, die so unerschütterlich schien.

»Kennen Sie sie?« stieß er hastig hervor.

Der Herr mit dem weißen Haar spitzte pfiffig den Mund und wiegte den Kopf. »Vielleicht«, sagte er ausweichend. »Jedenfalls wissen Sie aber nun, wie ernst die Dinge liegen, und daß Sie auf der Hut zu sein haben. Dasselbe gilt für Miss Avery. Wenn Mr. Fish die gewisse Geschichte von dem Notizbuch mit den hebräischen Schriftzeichen außer mir auch noch anderen Leuten erzählt haben sollte, wird der Tanz wohl bald beginnen. Aber wahrscheinlich kaum vor übermorgen«, fügte er beruhigend hinzu, »wenn Miss Avery nicht irgendeine Unvorsichtigkeit begeht. Und das müssen Sie eben verhindern.«

Wellby erledigte an diesem Abend seine Arbeiten in fieberhafter Eile, und seine ewig ängstliche und mißvergnügte Wirtin glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie ihn plötzlich aus einem Auto springen und ins Haus stürzen sah. Sie vermutete sofort, daß wahrscheinlich die Polizei hinter ihm her sei, und sie empfand darüber eine gewisse Befriedigung, denn sie hatte sich schon immer gedacht, daß ein Mann mit derartigem Lebenswandel unbedingt ins Zuchthaus gehöre.

Während sie erregt am Fenster stand und gespannt in den Abend hinausblickte, um das große Ereignis ja nicht zu versäumen, ließ Wellby oben in seinem Zimmer über eine Viertelstunde die Tasten an dem kleinen Kästchen spielen. Dann harrte er ungeduldig, bis das Papierband abzulaufen begann, und erst, als er die Zeichen aufmerksam entziffert hatte, atmete er auf und zündete sich zur Beruhigung eine Zigarette an.

Dann verließ er, sehr zum Ärger seiner enttäuschten Wirtin, gemächlich und unbehelligt wieder das Haus.


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