Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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8

»Ich schwöre Ihnen«, schloß Pat mit etwas belegter Stimme, aber überzeugender Treuherzigkeit in den blinzelnden Augen, »der verdammte Nebel war so dick wie ein Sack. Das muß man gesehen haben. Aber es war ein schönes Stück Weg, das ich hinter ihm drein war. Und wenn nicht –«

Er wollte wieder auf den Nebel zu sprechen kommen, weil er von den anderen Hindernissen nicht reden mochte, aber Mrs. Dyke hob leicht die Hand, und Mr. Coppertree brach gehorsam ab. Seine Zunge war heute etwas schwer, und im Schädel verspürte er ein derartiges Brummen und Hämmern, daß ihm sogar das Lügen einige Anstrengung bereitete. Er hatte eine volle halbe Stunde gebraucht, bevor er sich den Bericht für Mrs. Evelyn, die ja nicht alles wissen mußte, zurechtgelegt hatte, und solche Kleinigkeiten machte er doch sonst aus dem Stegreif, er war mit dem Garn, das er eben abgesponnen, auch nicht recht zufrieden, denn es schien ihm, als ob er dabei aus sich und seiner Leistung diesmal viel zu wenig gemacht hätte. Wenn da nun andrerseits die verehrte Mrs. Dyke daraus vielleicht den Schluß zog, daß sie sich dafür auch einmal weniger erkenntlich zeigen könne, so saß er gehörig in der Patsche. Denn selbst bei einem Geschenk in der gewöhnlichen Höhe zahlte er diesmal noch immer drauf. Er hatte am heutigen Morgen in nüchternem Zustand mit Ingrimm festgestellt, daß ihn der Unterschlupf in den ›Freundlichen Winden‹ zehn Schilling sieben gekostet hatte, und wenn er dazu den Wert des Geschirrs rechnete, das Mrs. Nettie und er einander an den Köpfen zerschlagen hatten, so kam er auf eine so schreckliche Summe, daß es ihm ganz übel wurde.

Es war daher nur zu begreiflich, daß er in Mrs. Evelyns Gesicht zu lesen versuchte, wie hoch sie seinen Bericht wohl einschätzte. Aber wie einfach es für den geriebenen Iren war, Mr. Hyman die jeweilige Laune von der Nase abzugucken, bei der schönen Frau versagte sein sicherer Blick vollständig. Sie hatte nicht eine Miene verzogen, als er ihr, von dem Besuch in der Wohnung Mr. Wellbys angefangen, bis zu dem Zusammentreffen des Reporters mit Miss Avery und dann bis zu dem Augenblick, in dem der dicke Nebel eingetreten war, alles haarklein erzählt hatte. Und sie verzog auch jetzt, da er schon längst fertig war, keine Miene, sondern sah angelegentlich zu Boden und schien die Anwesenheit von Mr. Coppertree überhaupt völlig vergessen zu haben.

Aber plötzlich machte sie eine Handbewegung nach dem Schreibtisch, und Pat schielte angestrengt und hielt den Atem an, um sich wenigstens nach den verschiedenen Griffen im voraus ein Bild von dem zu machen, was kommen würde. Aber es war nur ein einziger kurzer Griff, der die schlimmsten Befürchtungen rechtfertigte.

»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Pat«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Aber ich erwarte nun von Ihnen, daß Sie über die ganze Sache reinen Mund halten.«

Der Ire legte die eine seiner großen Hände auf den Mund, und mit der anderen griff er lässig nach den zarten Fingern. Und um zu zeigen, daß er alles einzig und allein doch bloß aus Verehrung für Mrs. Dyke getan habe und daß er das Geschenk lediglich deshalb annehme, weil es ihm so aufgedrängt werde, schob er es schleunigst in die Westentasche. Er hatte die Banknoten in aller Geschwindigkeit mit Daumen und Zeigefinger prüfend befühlt, war sich aber nicht recht klargeworden, und solange er nicht wußte, wie er daran war, konnte er keine Ruhe finden. Er sah daher nicht ein, weshalb er seine Ungewißheit bis in die Pförtnerloge hinuntertragen sollte, sondern stellte sich mitten in den Gang und begann mit zitternden Fingern zu zählen. »Eins« – seine Augen blitzten auf, denn darnach kam noch etwas –, »zwei« – dem überraschten Pat begannen vor Erregung die Knie zu zittern –, »drei.« Drei Pfund!

Er hob tänzelnd eins seiner krummen Beine, dann das andere und flog im nächsten Augenblick an die Wand, weil Mr. Hyman grundsätzlich niemandem auswich und diesmal außerdem noch besondere Eile zu haben schien, da er mit Riesenschritten dem Aufzug zustürmte.

Der Bericht Pats hatte Mrs. Dyke so außerordentlich in Anspruch genommen, daß sie den hastigen und zu dieser Stunde ungewöhnlichen Abgang Mr. Hymans völlig überhört hatte, und sie war deshalb auch um ein kurzes, interessantes Telefongespräch gekommen, das diesem plötzlichen Aufbruch vorangegangen war.

Sie wäre dadurch wohl noch mehr beunruhigt worden, als sie es ohnedies bereits war. Was sie eben über Noel Wellby erfahren hatte, war nichts Positives, aber es genügte, um sie in dem Verdacht zu bestärken, den sie gegen diesen Mann vom ersten Augenblick an gehegt hatte. Wo war er, wenn er in seiner angeblichen Wohnung immer nur für Stunden erschien, und was trieb ihn zu nächtlicher Zeit auf so abgelegene Wege, wie er sie gestern gegangen war? Mrs. Evelyn hatte scharfe Ohren und ein feines Gefühl, und sie ahnte, daß in dem weitschweifigen Bericht des Iren dort, wo der dicke Nebel eingetreten war, irgend etwas nicht gestimmt hatte. Aber sie wollte nicht in Pat dringen, denn für die Arbeit, die nun weiter zu tun war, schien er ihr nicht geschickt und verläßlich genug.

Für sie bestand zur Stunde kein Zweifel mehr, daß Noel Wellby nicht bloß einfache Reporterarbeit geleistet, sondern in voller Kenntnis der Dinge einen in seinen Auswirkungen wohlberechneten Alarmschuß abgegeben hatte. Der Zweck, den er damit verfolgt haben mochte, war erreicht.

Noch lagen nach den letzten Morgenblättern keine neuen Tatsachen vor, aber in allen Berichten kam bereits übereinstimmend die Überzeugung zum Ausdruck, daß weder Morton noch Cartwright eines natürlichen Todes gestorben, sondern mit außerordentlichem Raffinement und mit nicht alltäglichen Mitteln ermordet worden waren. Die Obduktion der Leiche Mortons, zu der die namhaftesten medizinischen Kapazitäten beigezogen worden waren, hatte nämlich überraschenderweise so ziemlich dasselbe klinische Bild ergeben wie seinerzeit bei Sir Benjamin. Kein Symptom, das als unmittelbare Ursache einer letalen Erkrankung oder eines gewaltsamen Todes hätte angesprochen werden können, aber wie dort äußerst seltsame Reizungserscheinungen in den Luftwegen und an der Lunge, ohne daß jedoch diese Veränderungen den Charakter jener Verätzungen aufgewiesen hätten, wie sie gewisse Giftgase verursachen. Die Internisten, Chirurgen und Pathologen, von denen jeder bereits Hunderte von menschlichen Organismen untersucht hatte, mußten zugeben, daß ihnen ein so spezifisches Bild noch nie untergekommen war, und auch die Chemiker, an die sie sich fragend wandten, versagten mit einem sicheren Urteil. Immerhin war man sich darüber klar, daß man hier vor dem Rätsel stand, das es zu lösen galt, und ein von Wissenschaft und Verantwortungsgefühl nicht allzusehr beschwerter Reporter faßte zum Neid seiner Kollegen und zur gruseligen Befriedigung seiner Leser die ungeklärte Sachlage kurz entschlossen in folgende Sensationstitel zusammen:

›Eine neue Geißel der Menschheit? – Ein unbekanntes Giftgas von schrecklichster Wirkung?‹

Über die kriminelle Seite schwiegen sich die Blätter noch völlig aus, und man merkte, daß es ihnen an jeder Information und Orientierung mangelte. Scotland Yard hatte vorläufig nichts zu sagen, und was die ziel- und planlos herumstöbernden Berichterstatter zusammentrugen, war nicht sonderlich wichtig und aufregend. So wußte ein Blatt zu melden, daß in der kritischen Zeit ein kleines graues Auto in der Nähe des Porchester Square gesehen worden sei, und ein ehrsamer Bürger war um die in Betracht kommende Stunde einer mittelgroßen, in einen dunklen Mantel gehüllten Gestalt begegnet, die aus der Gegend von Mortons Haus gekommen war und die Richtung zum Porchester Square eingeschlagen hatte. Sie hatte einen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gedrückt und den Kragen hochgeschlagen und war fast fluchtartig gelaufen, aber alles das sei weiter nicht auffallend gewesen, da bei dem unfreundlichen Wetter eben jeder eiligst unter Dach zu kommen trachtete.

Nur einer der kleinsten Zeitungen war es vorbehalten, eine Meldung zu bringen, die vielleicht von wesentlicher Bedeutung war und allgemeines Interesse erweckte. In einem der Anatomiesäle hatte man der Form halber und ohne viel Aufhebens die Leiche Jack Beerys obduziert, und ohne zu wissen, was man damit sagte, denselben Befund festgestellt, zu dem das ansehnliche Kollegium bei Sir Nicholas Morton gekommen war.

Alle diese Dinge interessierten Mrs. Dyke außerordentlich, aber sie schienen ihr nicht sonderlich gefährlich, und sie atmete erleichtert auf, als sie trotz eifrigsten Suchens diesmal keine weitere Bemerkung über die ›Königin der Nacht‹ finden konnte. Man schien dieses geheimnisvolle Wesen völlig vergessen zu haben oder die Geschichte nicht ernst zu nehmen.

Mrs. Dyke war einen Augenblick unschlüssig, ob sie Selwood oder Osborn anrufen sollte, um sie davon in Kenntnis zu setzen, daß in der Person Noel Wellbys unbedingt eine neue Gefahr drohe, die weit ernster war als der ganze Lärm der Presse und die polizeilichen Erhebungen, die er zur Folge gehabt hatte. Denn während man hier blindlings herumriet und auf zeitraubende Nachforschungen und schwierige Kombinationen angewiesen war, wußte jener Mann unbedingt etwas. Und zwar mehr, als er in jener folgenschweren Notiz angedeutet hatte. Er machte nicht den Eindruck, als ob er zu einem wohlberechneten Angriff ohne weiteren Rückhalt übergegangen wäre, und man mußte stündlich mit einem neuen Geschoß rechnen. Die ›London Sensations‹ waren ihm zwar durch die Verfügung Hymans verschlossen, aber es gab für ihn nicht nur ungezählte andere Blätter, sondern auch andere Wege, um seine geheimnisvollen Zwecke weiter zu verfolgen. Das mußte um jeden Preis verhindert werden, und es war hoch an der Zeit, Wellby nicht mehr aus den Augen zu lassen, um jeder weiteren verhängnisvollen Überraschung vorzubeugen.

Dazu schien Mrs. Dyke ihr Freund Selwood mit seiner Schwerfälligkeit allerdings nicht der richtige Mann, und sie zog es daher vor, sich mit seinem tatkräftigeren Vetter in Verbindung zu setzen. Er hatte sich in der ganzen Sache bisher weit rühriger und vorsichtiger erwiesen als Charlie, wußte alles sehr geschickt und schlau anzupacken und schien über seltsame Helfer zu verfügen, über die sich Evelyn schon oft verwundert hatte, die aber vielleicht gerade in diesem Fall ganz zweckdienlich waren.

Sie war etwas enttäuscht, als sich Helen am Telefon meldete, denn es war kein Vergnügen, mit ihr ein Gespräch zu führen. Die sonst so schläfrige Frau war furchtbar erregt, wenn sie den Hörer in der Hand hielt, sie schrie minutenlang ›Hallo‹, verstand nicht ein Wort von dem, was man sagte und antwortete überhaupt nicht oder ließ einen unhemmbaren Schwall von konfusem Zeug los.

Nach einer Weile gelang es Evelyn aber doch, ihr verständlich zu machen, daß sie Osborn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche, die keinen Aufschub dulde.

Helen fragte erst noch einige Male ratlos: »Was wünschen Sie?«, aber endlich kapierte sie doch, und die verzweifelte Evelyn vernahm, wie sie krampfhaft kicherte, als ob sie heftig gekitzelt würde. Aber dann nahm sie einen mächtigen Anlauf und erzählte in einem Atem, daß William noch schlafe, weil er gestern nacht noch im Klub gewesen und erst um fünf Uhr nach Hause gekommen sei, und daß er nicht geweckt werden dürfe, weil ihm das schaden könnte. Wahrscheinlich würde er erst am Nachmittag aufstehen, aber manchmal schlafe er auch bis zum Abend, und dann würden sie in ein Theater gehen, wo ein Stück gegeben werde, in dem ein Messer vorkomme, von dem man aber nicht wisse, wer es geworfen habe.

Zum Glück ging Mrs. Helen an dieser Stelle der Atem aus, und Mrs. Dyke konnte wieder zu Wort kommen. Sie hatte nicht das Gefühl, sich mit der aufgeregten und schwerfälligen Dame wirklich verständigen zu können, aber sie wollte Osborn unbedingt eine Warnung wegen Wellby zukommen lassen. Vielleicht behielt seine Frau doch einiges von dem, was sie ihr mitteilen würde, und wenn Osborn daraus nicht klug werden sollte, konnte er sie ja selbst anrufen. Sie wollte nur erreichen, daß er über die neue Gefahr unterrichtet würde, und faßte sich daher so kurz und deutlich als möglich, und Helen schien ihr wirklich aufmerksam zuzuhören. Aber wahrscheinlich drückte sie dabei den Hörer so fest ans Ohr, daß sie ihren King Charles unter dem Arm empfindlich quetschte, denn plötzlich erscholl ein jämmerliches Gewinsel, dem eine Flut von tröstenden Koseworten folgte. Und dann fragte Mrs. Helen wieder: »Bitte, was haben Sie gesagt?«

Mrs. Dyke war mit ihrer Ruhe und Geduld zu Ende, aber sie beherrschte sich und wiederholte alles Wort für Wort noch einmal.

»Haben Sie mich verstanden, Helen?« fragte sie dann so gelassen und höflich, wie es ihre Verfassung zuließ.

»Natürlich habe ich verstanden«, kam es etwas pikiert zurück. »Es handelt sich um diesen – wie heißt doch der Mann?«

»Noel Wellby«, erwiderte Mrs. Dyke verzweifelt und akzentuierte jede Silbe.

»Richtig. Und ich soll das William sagen. Sie sehen, ich weiß alles. Auf Wiederhören, meine Liebe.«

Evelyn legte mit einem Seufzer der Erleichterung den Hörer auf, rechtzeitig, um den Boy, der bescheiden klopfte, einzulassen. Sie nahm gleichgültig den Briefumschlag entgegen, der ihre Adresse trug, und öffnete ihn mechanisch. Kaum aber hatte sie die wenigen Worte gelesen, als ihr Gesicht sich jäh verfärbte und ihre zitternde Hand das Blatt krampfhaft zusammenknüllte.

Einen Augenblick war ihr, als ob ihr der Boden unter den Füßen entglitte und alles um sie herum zusammenstürze.

An diese Möglichkeit hatte sie nie gedacht, und nun, da sie eingetreten war, stand sie ihr völlig fassungslos und in lähmendem Schrecken gegenüber. Es waren nur nichtssagende Einleitungsworte eines Satzes, die das Papier in nüchterner Maschinenschrift enthielt, aber sie wußte, daß sie eine furchtbare Gefahr bedeuteten. Sie kannte den Satz, der so begann, nur zu gut, denn sie hatte ihn ungezählte Male gelesen, und er war ihr im Gedächtnis haftengeblieben wie alles, was ihm weiter folgte und den Schlüssel zum Geheimnis der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen barg. Aber bis zu dieser Stunde hatte sie in dem festen, beruhigenden Glauben gelebt, daß nur sie und die andern, die es unmittelbar anging, davon Kenntnis hätten, und daß das Wissen um dieses Geheimnis nie mehr über diesen Kreis hinausdringen könnte. Ein glücklicher Zufall hatte ihnen das Tagebuch Cartwrights im ersten kritischen Augenblick in die Hände gespielt, und es schien ihr so sicher geborgen, daß sie das, wovon es sprach, für immer begraben hielt.

Und nun erreichte sie plötzlich von irgendwem und irgendwoher ein Blatt, sinnlos für jeden andern, aber für sie eine Drohung, wie sie raffinierter, deutlicher und wirkungsvoller nicht gut erdacht werden konnte: »In jener Nacht beim Brunnen der sieben Palmen spielten sich Dinge ab . . .«

Evelyn Dyke war sich völlig klar darüber, was diese harmlosen Worte ihr Furchtbares sagen sollten: »Ich kenne das Geheimnis der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen, das du um jeden Preis zu hüten suchst. Aber wenn ich will, kann meine Hand jederzeit den Schleier lüften.«

Die schöne Frau hatte das beklemmende Gefühl, als ob sich ein unsichtbares gefährliches Netz um sie spanne, und ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft, um noch rechtzeitig einen Ausweg zu finden.

Über die Person des hinterhältigen Gegners war sie nicht mehr im Zweifel. Noel Wellby tat offenbar planmäßig und berechnend Zug um Zug, wie sie es erwartet hatte.


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