Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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5

Mrs. Dyke überlegte, ob es Zweck habe, den Chef in diesem Augenblick aufzusuchen, kam aber schließlich davon ab. Es war das beste, vollkommene Ruhe zu bewahren und die Dinge sich entwickeln zu lassen, bis man einigermaßen überblicken konnte, welche Richtung sie nahmen und wie weit sie gedeihen würden. Der Alarm der Blätter und die plötzlich erwachte Neugierde der Polizei waren wohl unangenehm, aber das bedeutete noch lange nicht, daß nun die Enthüllungen einander Schlag auf Schlag folgen würden. In dem unendlichen Wust von Nachrichten war auch nicht ein wirklicher Anhaltspunkt, und Scotland Yard hatte lediglich die Aussage eines Dieners, die Mr. Hyman in eine etwas peinliche Lage brachte.

Evelyn hatte an dem winzigen Kopfhörer in ihrem Schreibtisch, der selbst das leiseste Wort mit voller Deutlichkeit wiedergab, auch die letzte Unterredung mit fieberhafter Spannung verfolgt, und sie hatte sich trotz des Ernstes des Augenblicks eines befriedigten Lächelns nicht erwehren können, als der bärbeißige Koloß so in die Enge getrieben worden war.

Das waren aber schließlich alles Dinge, die sie nicht direkt betrafen, wenn es auch gut war, davon zu wissen. Weit wichtiger erschienen ihr einige Fragen, die mit dem Reporter Noel Wellby zusammenhingen und auf die sie trotz allen Grübelns keine Antwort fand. Wie Scotland Yard trug auch sie schon seit dem heutigen Morgen Verlangen, zu erfahren, wie der Mann so rasch von dem nächtlichen Geschehen am Porchester Square Kenntnis erhalten hatte, und wie er dazu gekommen war, klipp und klar Dinge auszusprechen, über die man zwar seinerzeit getuschelt hatte, die aber schwarz auf weiß und in diesem Zusammenhang geradezu zu einer öffentlichen Anklage wurden. Das, was er geschrieben hatte, war keine einfache Zeitungsnachricht, sondern ganz darauf angelegt, mit einer peinlichen Untersuchung des Falles Morton auch eine solche des Falles Cartwright herbeizuführen. Wer hatte diesem unbedeutenden Zeitungsmenschen diese Idee eingegeben?

Mrs. Evelyn hatte schon frühzeitig alles in Bewegung gesetzt, um über ihn zu erfahren, was zu erfahren war, und dann hatte sie eine günstige Gelegenheit benützt, um sich ihn näher zu betrachten. Er war ihr bisher noch nie begegnet, und als sie ihn sah, war sie nichts weniger als beruhigt. Dieser schlanke, sehnige Dreißiger mit dem kühlen Blick und dem beherrschten Bronzegesicht wußte genau, was er wollte und was er tat, und wenn sie davon noch nicht überzeugt gewesen wäre, so hätten es ihr die Ruhe und Gewandtheit verraten, mit der er eine halbe Stunde später dem gefürchteten Chef standhielt.

Deshalb schien es ihr wichtiger als alles andere, sich mit diesem Mann zu beschäftigen, und sie sah dem Bericht, den der tüchtige Pat ihr am nächsten Tage liefern sollte, mit ungeduldiger Spannung entgegen.

Ein dumpfer Krach aus dem Nebenraum sagte ihr, daß Hyman seinen geräuschvollen Abgang vollzogen habe, und eine Viertelstunde später lenkte auch sie ihre kleine Limousine aus der Garage des Cartwright-Hauses. Sie wohnte ziemlich weit draußen in Nottinghill in einem niedlichen Haus inmitten eines kleinen Gartens mit uralten Bäumen. Das Häuschen bestand nur aus wenigen Räumen, aber ihr Geschmack hatte es behaglich eingerichtet. Sir Benjamin hatte seiner Sekretärin ein Gehalt ausgesetzt, das ihr diesen Luxus gestattete, und andere kostspielige Bedürfnisse schien Mrs. Dyke nicht zu haben. Sie ging immer sehr elegant gekleidet, trieb aber auch in dieser Beziehung keinen auffallenden Aufwand und trug selbst in Gesellschaft nur wenige Schmuckstücke. Hie und da lud sie einige Freunde und Bekannte zu sich ein, und jeder der Angestellten des Konzerns empfand es als besondere Auszeichnung, zu diesen Gesellschaften eingeladen zu werden. Es ging hierbei stets sehr angeregt und gemütlich zu, und Evelyn erwies sich als vollendete Hausfrau, obwohl sie aus einfachen Verhältnissen kam. Mr. Fish hatte durch seine vielfachen Beziehungen einwandfrei festgestellt, daß ihre Eltern in Packham ein Milchgeschäft betrieben hatten und daß der verstorbene Mr. Dyke Anwaltsgehilfe gewesen war.

Wie sich dann ihr Aufstieg vollzogen hatte, war nie bekanntgeworden. Manche versuchten, die Frage mit einem vielsagenden Lächeln und der Bemerkung abzutun, daß Mrs. Dyke eben eine schöne Frau sei, aber so willig sonst solche einfachen pikanten Deutungen aufgenommen werden, in diesem Fall wirkten sie nicht ganz überzeugend. Sir Benjamin war ein verschlossener, halb gebrochener Mann gewesen, seit er nach kaum dreijähriger Ehe seine abgöttisch geliebte Frau verloren hatte und weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tod hatte die Lebensführung von Mrs. Evelyn auch nur den geringsten Anlaß zu irgendeinem kleinen herzerfreuenden Klatsch gegeben. Im Gegenteil, man wunderte sich, daß diese kaum dreißigjährige Frau, die in ihrer rassigen Reife für die Männerwelt etwas Verführerisches hatte, sich in einen kleinen Freundeskreis einspann, von dem sie niemanden in besonderer Weise auszuzeichnen schien. Einigermaßen auffallend war es nur, daß zu diesem Kreis vor allem Charlie Selwood und William Osborn gehörten, zwei der Begleiter Sir Benjamins auf seinem afrikanischen Jagdausflug. Allerdings mochten die beiden gut um zehn Jahre jünger sein als der große Zeitungsmann, und auch sonst gab es wohl einige Unterschiede, weshalb Cartwright in den letzten Jahren mit ihnen nur mehr in losen Beziehungen gestanden hatte. Man wußte übrigens schon vor Aufbruch der Expedition, daß die Wahl Sir Benjamins nur deshalb auf diese zwei jungen Leute gefallen war, weil sie kühne Burschen waren und von der Büchse bis zum Ballschläger mit jedem Sportgerät umgehen konnten.

Die Gesellschaft war knapp vor Ausbruch des Weltkrieges zurückgekehrt, und schon nach wenigen Monaten hieß es, daß Charlie Selwood und William Osborn durch glückliche Spekulationen sehr viel Geld gemacht hätten. Man wunderte sich zwar, daß aus den beiden Vettern, die außer dem Sport nie eine andere Beschäftigung gekannt hatten, plötzlich so smarte Geschäftsleute geworden sein sollten, aber tatsächlich verfügten sie mit einemmal über Mittel, die ihnen gestatteten, auf größtem Fuß zu leben. Im Lauf der Jahre schien es mit beiden allerdings wieder abwärts zu gehen, denn sie bauten ihren Wagenpark und ihren Haushalt wesentlich ab und schränkten sogar das Spielen ein. In der letzten Zeit jedoch hatte Osborn durch eine arg bekrittelte Heirat offenbar wieder festen Boden unter den Füßen gewonnen, da er im Klub neuerlich Einsätze wagte wie in seinen glänzendsten Tagen.

 

Es war einige Minuten nach acht Uhr, als Evelyn in Nottinghill anlangte, und sie wurde sehr nervös, als sie hörte, daß Selwood bereits vor ihr angekommen war. Sie hatte ihn und die Osborns erst für neun zu sich gebeten und damit gerechnet, vorher noch mit aller Sorgfalt Toilette machen zu können. Sie nahm es damit sehr genau, seitdem sie vor kurzem in ihrem welligen braunen Haar bedenkliche weiße Fäden entdeckt hatte und in ihren Augenwinkeln winzige Fältchen zum Vorschein kamen. Das konnte sie vorläufig nicht brauchen, und es durfte niemand davon wissen.

Ihr Mädchen hatte es in der nächsten halben Stunde schwer, mit ihr fertig zu werden, aber dafür sah Mrs. Dyke, als sie den kleinen Salon betrat, wirklich blendend aus, und Selwood sagte ihr das mit einem Blick, der sie sehr befriedigte.

»Ich kann mir denken, weshalb du so früh gekommen bist«, begrüßte sie ihn hastig mit gedämpfter Stimme. »Aber wenn du von mir eine Aufklärung erwartest, so muß ich dich enttäuschen. Ich weiß gar nichts. Trotz der seltsamen Notiz.«

Sie berichtete ihm erregt und eifrig, was sich im Cartwright-Haus abgespielt hatte, und man merkte, daß die tagsüber mit aller Energie aufrechterhaltene Fassung sie nunmehr im Stich ließ. Ihr Gesicht bekam einen hilflosen, ängstlichen Ausdruck, und ihre Augen irrten unruhig umher, als ob sie nach einer drohenden unheimlichen Gefahr Ausschau hielten.

Charlie Selwood hörte ihr gespannt zu, und ihre Aufregung schien sich auch auf ihn zu übertragen. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit frischem, bartlosem Gesicht, das ihn weit jünger erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Aber in diesem Augenblick sah er fahl und verfallen aus.

»Das wird ja immer rätselhafter und beklemmender«, sagte er, als Evelyn ihren Bericht abgehackt und zum Schluß fast flüsternd beendet hatte. »Ich lebe seit heute morgen in einer Aufregung, die mich fast um den Verstand bringt, aber ich wagte nicht, dich anzurufen.« Er brach ab und starrte eine Weile vor sich hin. »Ich habe das Gefühl«, fuhr er dann plötzlich apathisch fort, »daß die Sache nun nicht mehr aufzuhalten ist. Nach dem Tod des armen Cartwright hoffte ich, daß alles abgetan sei, aber das Schicksal Mortons beweist, daß es nur ein Aufschub war. Und der Gedanke, daß beide vielleicht zu retten gewesen wären, wenn . . .«

Evelyn Dyke machte eine kurze ungeduldige Bewegung, und auf ihrem Gesicht lag plötzlich wieder die kühle, überlegene Ruhe, die sie ständig zur Schau trug.

»Es hat keinen Zweck, Charlie, sich mit solchen Dingen zu quälen. Das alles läßt sich nicht mehr ungeschehen machen, aber das andere muß verhindert werden, und nun erst recht, da bereits ein solcher Preis dafür gezahlt worden ist.« Sie beugte sich zu ihm und streichelte mit einem zärtlichen Blick seine Hand, die kraftlos über die Lehne des Sessels hing. »Und ich werde es verhindern, denn ich würde alles für dich tun, obwohl . . .«

Sie schwieg unvermittelt und sah zu Boden, und als sie seinen fragenden Blick auf sich gerichtet fühlte, färbte eine leichte Blutwelle ihr brünettes Gesicht noch dunkler.

»Das klingt wie ein Vorwurf«, meinte er betroffen. »Hast du dich über mich zu beklagen?«

»Nein«, gab sie leichthin zurück, »aber zuweilen denke ich daran, daß wir uns nun schon volle sechs Jahre kennen und daß wir in dieser langen Zeit eigentlich sehr wenig voneinander gehabt haben. Selbst in den knapp bemessenen Stunden, die wir uns sahen, mußten wir zumeist vor den anderen Komödie spielen. Das ist sehr traurig, denn die Zeit verfließt« – es klang etwas wehmütig und bitter –, »und unsere sogenannten besten Jahre sind gezählt. Die meinen und auch die deinen. Soll das wirklich unser ganzes Leben so fortgehen?«

Sie sah ihn unter halbgeschlossenen Lidern hervor an, aber er wich ihrem Blick aus und konnte nicht verbergen, daß ihm dieses Thema unangenehm war.

»Gewiß nicht«, versicherte er mit verlegenem Eifer. »Du weißt ja, daß ich genauso denke wie du. Und wenn ich erst einmal von diesem furchtbaren Alpdruck wirklich befreit sein werde . . . Mir ist ja der ganze Zusammenhang unfaßbar« – er sprang plötzlich wieder ab –, »aber eines scheint mir besonders auffällig: daß die ›Königin der Nacht‹ nie die Frist abwartete, die sie selbst stellt. Bei Cartwright ist die Katastrophe drei Tage früher eingetreten, bei Morton zwei Tage . . .«

Er wurde durch die Ankunft des Ehepaares Osborn unterbrochen, aber schon fünf Minuten später war man wieder bei diesem Thema. Diesmal war es William, der die Angelegenheit mit nervöser Ungeduld aufs Tapet brachte.

»Eine verdammte Geschichte«, stieß er mit seiner schleppenden, näselnden Stimme hervor und ließ seine verschleierten dunklen Augen forschend zwischen Evelyn und Selwood hin- und hergehen, als ob er schon aus ihren Mienen entnehmen wollte, wie weit das Unheil gediehen war. »Nun können wir uns auf einige recht unangenehme Wochen gefaßt machen, denn wenn diese Pressemeute erst einmal losgelassen ist, schnüffelt sie überall herum, und man kann nie wissen, was dabei herauskommt. Unseren afrikanischen Ausflug haben sie ja schon ausgegraben, und ich war bereits heute darauf vorbereitet, daß der eine oder der andere dieser zudringlichen Presseleute mir auf den Leib rückt.« Er fuhr sich über den sorgfältig gezogenen Scheitel, der bereits stark gelichtet und angegraut war, und sah Mrs. Dyke und seinen Vetter bedeutsam an. »Natürlich ist aus mir nichts herauszubekommen«, sagte er nachdrücklich, »wenn ich überhaupt zu Hause bin. Falls es halbwegs möglich ist, werde ich nämlich unsichtbar bleiben und es Helen überlassen, diese sympathischen Leute abzufertigen. – Ich glaube, dabei besteht keine Gefahr.«

Er lächelte etwas bissig und blickte auf seine Frau, aber diese nickte sehr lebhaft und schien die Anspielung auf ihre Schwerfälligkeit nicht zu verstehen. Konversation zu führen, war nicht gerade ihre starke Seite, und wenn sie einmal den Versuch machte, so fiel dies meist nicht sehr glücklich aus. Sie sprach mit starkem Dialekt, und in dem Bestreben, sich gebildet auszudrücken, passierten ihr zuweilen die übelsten Entgleisungen. Das wußte sie, und deshalb beschränkte sie sich in Gesellschaft auf einige geschraubte, aber unverfängliche Phrasen, die sie sich fest eingeprägt hatte und mit denen sie auskam. Man machte sich darüber lustig, wie man sie überhaupt nicht ernst nahm, und die überraschende Heirat hatte Osborn seinerzeit in den Augen seiner Kreise sehr deklassiert. Man verübelte es ihm, daß er, um sich über Wasser zu halten, skrupellos nach dem erstbesten Rettungsanker gegriffen und die Tochter eines Mannen zur Frau genommen hatte, der in dem Ruf stand, einer der übelsten Wucherer Londons zu sein. Dabei war Mrs. Osborn durchaus keine Schönheit, ohne allerdings ausgesprochen häßlich zu sein. Ihre Figur war sogar von einem vollendeten fraulichen Ebenmaß, aber ihr Gesicht mit den starken Backenknochen, der etwas breiten Nase und dem aufgeworfenen Mund hatten einen fast negroiden Einschlag. Es mochte sein, daß von dieser Frau ein eigenartiger sinnlicher Reiz ausging, aber das ließ man um so weniger als Entschuldigung gelten, als sie ansonsten unwahrscheinlich hausbacken und langweilig war. Auch Osborn schien sie bereits nach kurzer Zeit auf die Nerven zu fallen, denn er genierte sich selbst vor der Öffentlichkeit nicht, sie unablässig mit bissigen Bemerkungen zu traktieren, was aber ihrer aufdringlichen Verliebtheit keinen Abbruch zu tun vermochte.

Außer ihrem Mann und ihrem Hund, den sie ständig mit sich herumschleppte, vermochte ihr offenbar nichts Interesse abzugewinnen, und auch jetzt, da die andern in sichtlichem Unbehagen und mit vorsichtigen Andeutungen immer wieder um das Rätsel der ›Königin der Nacht‹ herumredeten, erwachte sie nicht aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie wußte, worum es bei der Sache ging, und daß ihrem Gatten die gleiche Gefahr drohte wie den anderen, und sie begriff auch, daß der heutige Tag die Lage kritischer denn je gestaltet hatte, aber trotzdem langweilte sie sich unendlich, und wenn nicht das Hündchen auf ihrem Schoß gewesen wäre, das fortwährend gekrault werden wollte, wäre sie wahrscheinlich eingeschlafen.

Nur als Evelyn immer wieder auf den Reporter Noel Wellby zu sprechen kam, dessen seltsame Rolle sie besonders zu beunruhigen schien, horchte Helen mit einiger Aufmerksamkeit auf.

»Könnten Sie diesen Polizisten nicht einmal einladen, damit . . .«, begann sie stockend, aber ein ärgerlicher Blick ihres Mannes ließ sie ängstlich sofort wieder innehalten.

»Ein Reporter ist kein Polizist, sondern ein Zeitungsmensch«, korrigierte er sie übellaunig.

»Ach so«, meinte sie naiv, »das wußte ich nicht. Ich wollte nur vorschlagen, daß Mrs. Dyke den Mann zu sich einlädt und daß wir auch zufällig herkommen und ihn uns ansehen. – Ich schwärme für solche Leute, um die so etwas wie ein Geheimnis herum ist«, gestand sie mit einem verlegenen Lächeln.

»Schwärme lieber für deinen Hund und störe uns nicht«, wies sie ihr gereizter Gatte zurecht, und sie ließ sich das nicht zweimal sagen. Schließlich hatte sie ja nun ihr Scherflein zur Unterhaltung beigetragen, und man konnte ihr nicht nachsagen, daß sie den Mund überhaupt nicht aufgemacht habe, was dem ewig unzufriedenen Osborn auch nicht recht gewesen wäre.

Während des einfachen, aber vorzüglichen Dinners mußte man wegen des Personals über die verschiedensten gleichgültigen Dinge sprechen, aber nach Tisch hielt man dann förmlich Kriegsrat.

»Ich weiß nicht, was kommen wird«, meinte Mrs. Evelyn und sah auf ihre schönen Hände, »aber es scheint mir geraten, daß wir auf alle Möglichkeiten vorbereitet sind. Irgendwelche Tatsachen oder auch nur Indizien, die uns in Ungelegenheiten bringen könnten, gibt es ja vorderhand nicht, und es ist auch kaum anzunehmen, daß welche gefunden werden. Sie müssen nur unbedingt dabei bleiben, Charlie, und auch Sie, Osborn, daß Sie nie von einer ›Königin der Nacht‹ gehört haben. Man wird Sie wahrscheinlich danach fragen, denn man ist ja nun daran erinnert worden, daß Sie seinerzeit Cartwright begleitet haben, und die Bezeichnung hat etwas Romantisches. Natürlich darf man noch weniger ahnen, daß wir von dem plötzlichen Auftauchen dieser geheimnisvollen Person gewußt haben und daß uns bekannt war, was sie von Cartwright und von Morton wollte. Das wäre schrecklich.«

»Jawohl, schrecklich«, platzte Helen heraus, sah sich aber sofort um, ob sie nicht wieder eine Dummheit gesagt habe, und war zufrieden, daß man sie nicht gehört zu haben schien.

»Wie geht es Bryans?« fragte Evelyn plötzlich, um das bedrückende Schweigen, das eingetreten war, zu unterbrechen.

»Ausgezeichnet«, berichtete Osborn mit einem zynischen Lächeln. »Wir sind vor einigen Tagen bei ihm vorbeigekommen und haben uns eine Weile aufgehalten. Er war quietschvergnügt und schon vor dem Lunch nicht mehr ganz nüchtern. Sein Diener vertraute mir an, daß er ihn Tag für Tag bereits am Nachmittag zu Bett bringen müsse, weil er um diese Zeit nicht mehr auf den Füßen stehen kann. Ich glaube, daß er es in Kürze mit den weißen Mäusen zu tun bekommen wird.«

Helen horchte wieder einmal mit einigem Interesse auf.

»Ich hatte auch einen Onkel, der getrunken hat und um den dann die weißen Mäuse herumgesprungen sind«, verriet sie, und ihr Mann kam diesmal zu spät, um ihr den bedenklichen Faden abzuschneiden. Er bekam vor Wut einen roten Kopf, aber Evelyn enthob ihn der peinlichen Verlegenheit.

»Kann er in diesem Zustand nicht gefährlich werden?« fragte sie besorgt. »Derartige Leute reden über alles, was ihnen gerade durch den Kopf geht, und es ist anzunehmen, daß man sich auch an ihn heranmachen wird.«

»Es wird nichts dabei herauskommen«, beruhigte sie Osborn. »Der Mann faselt solch einen Unsinn, daß man nicht ein Wort ernst nehmen wird. Und die Erinnerung an die gewissen Ereignisse scheint er bereits völlig in Alkohol ertränkt zu haben. Ich habe unlängst davon angefangen, aber er wußte nicht einmal, was ich meinte. Ich mußte eine volle Viertelstunde auf ihn einreden, bevor er darauf kam, daß er einmal in Afrika gewesen war. Da wäre es ein Wunder, wenn solch eine flüchtige Episode, wie jene am Brunnen der sieben Palmen, in seinem Gedächtnis haften geblieben wäre. Aber man kann ihn ja für alle Fälle im Auge behalten, damit er keine Dummheiten macht. Threecourts liegt auf dem Weg nach Weybridge, wohin wir wöchentlich einige Male fahren, und es macht uns weiter nichts aus, abzusteigen und nach Bryans zu sehen. Der Mann hat einen Whisky, wie ich ihn noch selten getrunken habe, und sogar Helen hat sich ganz ordentlich daran gehalten. Wahrscheinlich hat sie das von dem Onkel mit den weißen Mäusen«, fügte er sarkastisch hinzu.

»Ich bin neugierig«, bemerkte plötzlich Selwood, der die ganze Zeit über schweigsam und nachdenklich dagesessen hatte, »wer von uns nun an die Reihe kommt.«

Sein Vetter sah ihn betroffen an.

»Was willst du damit sagen?«

»Das Selbstverständlichste von der Welt. Erst hat sich die ›Königin der Nacht‹ an Cartwright gehalten, der der ganzen Expedition seinen Namen gegeben hatte, und dann an Morton, der seinerzeit hie und da neben ihm genannt worden war. Wir anderen drei waren ja nur simple Mitläufer, von denen niemand etwas wußte. Nun aber steht heute schwarz auf weiß in den Blättern zu lesen, daß auch Arthur Bryans, William Osborn und Charlie Selwood mit von der Partie waren, und wir müssen daher wohl damit rechnen, daß sich das rätselhafte Wesen demnächst an uns heranmachen wird.«

Der Abend nahm ein ziemlich frühes und einsilbiges Ende, denn als man das beklemmende Thema durchgesprochen hatte, waren alle mit ihren wenig erfreulichen Gedanken beschäftigt, und Helen hatte mehr denn je mit ihrem Hündchen zu tun.

Die Osborns waren die ersten, die etwas eilig aufbrachen, und auch die knappe Stunde, die Selwood noch blieb, verlief mehr peinlich als unterhaltsam. Evelyn erwartete, daß er vielleicht doch noch darauf zurückkommen würde, was sie ihm heute so unverblümt zu verstehen gegeben hatte, und er mochte das fühlen, denn er war plötzlich von einer geradezu krampfhaften Gesprächigkeit und schien aufzuatmen, als sie ihn schließlich etwas verstimmt und kühl zum Gehen drängte.

Um bei seinen häufigen Besuchen nicht immer auf den Diener angewiesen zu sein, hatte er einen eigenen Schlüssel zu der kleinen Garage und der Ausfahrtspforte. Er ließ den Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und brachte den Wagen ans Tor. Dann öffnete er, fuhr die wenigen Schritte bis zur Straße und kehrte zurück, um abzuschließen.

Ringsum war alles still und menschenleer, denn es standen hier nur einige Häuser, die in nächtlicher Ruhe lagen.

Selwood versicherte sich, daß er das Tor gut verschlossen hatte, steckte den Schlüssel in die Tasche, schritt wieder zu seinem Wagen und setzte sich am Volant zurecht.

In diesem Augenblick war es ihm, als ob ein Schatten auf die Scheibe falle. Er wandte blitzschnell den Kopf, und vielleicht zum erstenmal im Leben verließ ihn seine oft erprobte Kaltblütigkeit: Er sah, nur durch ein dünnes Glas getrennt, eine silberne Mondsichel, umgeben von drei flimmernden Sternen vor sich, und in derselben Sekunde hörte er eine gedämpfte, eindringliche Stimme sagen: »Charlie Selwood, die ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen wartet noch bis zum Tage, da der Mond in sein letztes Viertel tritt.«

Das letzte Wort war noch nicht verhallt, als der überraschte Mann seine Fassung bereits wiedergewonnen hatte. Er riß den Schlag auf, sprang ins Freie und stürzte, die Hand an der Waffe in seiner Tasche, um den Wagen herum. Dann lauschte er angestrengt in die Nacht, lief die Straße ein Stück hinauf und hinunter, aber sein Ohr vernahm nicht den geringsten verdächtigen Laut, und sein Auge sah auch nicht den kleinsten beweglichen Schatten. Nur der Märzwind fuhr stoßweise in die sprießenden Äste.

Die ›Königin der Nacht‹ war spurlos verschwunden, als ob sie mit dem undurchdringlichen Dunkel eins geworden wäre.

Einen Augenblick dachte Selwood daran, Evelyn sofort mitzuteilen, was ihm eben begegnet war. Aber dann überlegte er es sich und lenkte seinen Wagen in rasender Fahrt in Richtung Bayswater.


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