Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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23

Pünktlich um elf Uhr, wie ihm aufgetragen worden war, öffnete in dieser Nacht der sehnige, braune Ali das Tor des düsteren Hauses in Brompton und lenkte seinen Wagen über den ausgestorbenen Platz in eine der nächsten Seitengassen.

Es war alles so lautlos geschehen, daß nicht das leiseste Geräusch zu den Ohren der blassen Frau gedrungen war, die oben träumend in ihrem Lehnstuhl saß. Nur das junge Mädchen an ihrer Seite hatte verstohlen lauschend den Kopf geneigt und auf das winzige Zifferblatt an ihrem Handgelenk geblickt.

»Der Tag ist um, Mami«, sagte sie zärtlich, aber entschieden. »Wir gehen schlafen.«

Die schmächtige Frau mit den feinen Zügen nickte zustimmend, und um ihren Mund spielte ein müdes Lächeln.

»Das höre ich nun von dir fast Tag um Tag, Liebling, und es fällt mir manchmal schwer, mich zu fügen. Was soll ich alte, einsame Frau mit den langen Nächten beginnen? Aber ich bin folgsam und warte geduldig, bis du mir eines Tages etwas anderes sagen wirst.«

»Was, Mami?« fragte das junge Mädchen lebhaft.

»Unsere Zeit hier ist um – wir fahren heim«, lispelte die Frau mit sehnsuchtsvoller Stimme, und das Mädchen senkte den Blick vor dem ergreifenden Flehen in den Augen der Mutter.

»Auch das wird kommen«, versicherte sie hastig. »Bald, sehr bald sogar.«

Die Frau lächelte glücklich.

»In unserem wundervollen Garten werde ich rasch wieder gesund werden. Nur dieses Land ohne Sonne hat mich krank gemacht. Wir kamen für einige Wochen her, und nun ist fast ein volles Jahr daraus geworden.«

»Daran trage ich die Schuld.«

Das hübsche Mädchen mit dem kupferbraunen Haar neigte sich über die zarte Hand der Frau und küßte sie stürmisch.

»Mami«, brach es dann plötzlich unter wildem Schluchzen hervor, »warum hast du mir die Geschichte der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen erzählt?«

Die Frau war fassungslos wie das weinende Mädchen vor ihr, und sie hielt die bebende Gestalt zärtlich umfangen.

»Ich habe dir davon erzählt wie von allem anderen«, flüsterte sie endlich, erschüttert von dem jähen Ausbruch der Tochter, für den sie keine Erklärung fand. »Du hattest ein Recht darauf, alles von deinem Vater zu hören, den du so wenig gekannt hast. Ich konnte ja nicht wissen, was daraus entstehen würde. Ich habe dich gewarnt, von deinem wahnwitzigen Vorhaben abzulassen, aber du wolltest nicht hören.«

»Es war ein Verbrechen«, stieß das Mädchen in wildem Zorn hervor. »Ein abscheuliches, niedriges Verbrechen.«

»Ja«, bestätigte die Frau hart, »es war ein unmenschliches Verbrechen, sich um den todkranken Mann der eigenen Rasse nicht zu kümmern. Vielleicht hätte es dann für ihn noch Rettung gegeben. Wir waren alle unterwegs, um von irgendwo Hilfe herbeizuholen – aber sie kam zu spät.«

»Dafür hat man den Sterbenden beraubt«, fiel das Mädchen erbittert ein und vergrub das glühende Gesicht in den Händen. »Welch eine Roheit. – Europäer! – Leute von Rang und Stand!«

Sie brach plötzlich in ein unnatürliches, schneidendes Lachen aus, und die sanfte Hand der Frau mußte lange über ihren braunen Scheitel streichen, bis sie sich beruhigte.

»Laß diese Dinge endlich, Kind. Ich mag nicht wissen, was du bisher unternommen und erreicht hast – ich kann dich nur immer wieder bitten, alles aufzugeben.« In die müden Augen kam ein Schimmer von Furcht, und die Stimme sank zu einem scheuen Flüstern herab. »Es haftete Unglück an dem seltsamen Geschmeide, vom ersten Tag an. Wir hatten es in einer der Höhlen des Dschebel Sedina gefunden, die wir nach Tiffinschriften durchforschten, aber wir hätten es nie an uns nehmen sollen. Ich empfand sofort ein geheimes Grauen, als ich das seltsame Feuer der Steine in der kleinen kostbaren Truhe sah, und beschwor deinen Vater, sie an ihrem Ort zu lassen, aber er wollte dem Museum in Washington damit ein Geschenk machen. – Kaum eine Woche später kam Unheil auf Unheil über uns. Erst machte sich der größte Teil unserer eingeborenen Führer und Träger davon. Es sah fast wie Flucht aus, und dann zogen sich auch die Stämme von uns zurück, mit denen wir viele Monate in Eintracht und Frieden gelebt hatten. Sie hatten deinem Vater in allem beigestanden, und mich vergötterten sie. Irgendeiner der Scheichs mochte mich einmal in meinem Burnus mit dem silbergestickten Schleier im flackernden Schein des Lagerfeuers gesehen haben und hatte für mich den Namen ›Die Königin der Nacht‹ geprägt. Die Bezeichnung war dann von Brunnen zu Brunnen, alle Karawanenstraßen entlanggelaufen. Ich hätte damals völlig allein weites Gebiet durchstreifen können und wäre sicher gewesen. – Aber alles das änderte sich nach dem Fund in der Höhle des Dschebel Sedina. Die Stämme begannen uns zu meiden, und als eines Nachts eine Raubkarawane unser Lager überfiel, blieben wir ohne Hilfe. Es gelang uns zwar, den Angriff abzuschlagen, aber dein Vater trug in dem Kampf eine tödliche Wunde davon . . .«

Die Frau schwieg, erschüttert von den Erinnerungen, und in den Zügen des schönen Mädchens lag ein düsteres Grübeln. Sie wußte, daß der Fluch, der auf den Steinen zu ruhen schien, wieder lebendig geworden war, aber solange er Osborn und Selwood nicht erreicht hatte, war ihre Sendung noch nicht zu Ende . . .

 

Selwood hatte an diesem Abend nach längerer Zeit wieder einmal seinen Klub aufgesucht und war nach dem Dinner durch die Spielzimmer geschlendert, um die quälende Unruhe durch irgendwelche Eindrücke zu betäuben. Er hatte das Spiel, dem er früher Unsummen geopfert hatte, auf Evelyns hartnäckiges Drängen bereits seit Jahren aufgegeben, aber der Reiz der oft schicksalsschweren Entscheidungen, die an diesen kleinen grünen Tischen fielen, wirkte noch immer auf ihn.

Er blieb bald hier, bald dort stehen, wo es um hohe Einsätze ging, und als er seinen Vetter sah, schritt er langsam zu dessen Platz. Osborn schien sich in außerordentlicher Erregung zu befinden, und Selwood blieb über den Grund derselben nicht lange im unklaren. Der Mann spielte mit der verzweifelten Waghalsigkeit eines Besessenen und verlor Schlag um Schlag. Seine Barmittel waren offenbar schon längst erschöpft, denn er schrieb nach jedem Spiel mit zitternder Hand Bons, die er aus seinem Taschenbuch riß und die bereits in Stößen vor seinen Partnern lagen. Dabei stürzte er Glas um Glas von dem schweren Portwein hinunter, der neben ihm stand, und sog in tiefen Zügen an der dunklen Zigarre. Selwood schauderte davor, wie sich hier ein Schicksal erfüllte, und unwillkürlich gedachte er dankbar der Frau, die ihn vor diesem Ende bewahrt hatte.

In diesem Augenblick trat eine Spielpause ein, und Osborn wandte mechanisch den Kopf, aber seine verglasten Augen erkannten Selwood erst nach einer langen Weile.

»Ach, Charlie«, sagte er mit lallender Zunge, indem er sich schwerfällig erhob und Selwood unter den Arm faßte. »Hast du zugesehen? Pech über Pech.« Er fuhr sich durch das schüttere Haar, und sein Gesicht verzog sich zu einer krampfhaften Grimasse. »Es dürften ungefähr sechstausend Pfund sein, die von mir auf dem Tisch liegen. Schauderhaft. Es ist allerhöchste Zeit, daß das Blatt sich endlich wendet«, stieß er dann verzweifelt hervor, indem er den Vetter etwas beiseite zog. »Aber man beginnt mir wegen der Bons Geschichten zu machen. Kannst du mir nicht mit einem größeren Betrag aushelfen? Sagen wir mit tausend Pfund. Das würde mir vielleicht genügen, die Schlappe wieder auszuwetzen.«

Er sprach mit großer Eindringlichkeit, und seine Augen ruhten auf Selwood, der entschieden ablehnte.

»Nein«, sagte er und bemühte sich nicht einmal, seiner Antwort den Ton des Bedauerns zu geben. »Du weißt, daß ich über derartige Mittel zu solchen Zwecken nicht verfüge.«

Osborn starrte ihn sekundenlang wütend an, dann versetzte er ihm einen Stoß und grinste verächtlich.

»Natürlich. Das hätte ich mir denken können. Gentleman! Du scheinst völlig vergessen zu haben«, zischte er, »daß ich dir einmal ein Geschenk von vielen Tausenden gemacht habe.«

Selwood stand hoch aufgerichtet, und in seinem bleichen Gesicht zuckte es bedrohlich.

»Ein Geschenk, das du geraubt hattest. Wenn ich gewußt hätte, wie du in den Besitz der Steine gekommen bist . . .«

»Weshalb hast du damals nicht darnach gefragt?« stieß William mit beißendem Hohn hervor. »Nicht mit einem Wort. Es genügte dir, ein wohlhabender Mann zu werden . . .«

Er zischte dem Vetter ein rohes Schimpfwort ins Gesicht und wandte sich brüsk ab, um wieder zu seinem Spieltisch zurückzukehren, und Selwood mußte alle seine Selbstbeherrschung aufbieten, um ihn nicht niederzuschlagen.

Die Szene hatte ihm den Aufenthalt im Klub gründlich verleidet, und auch als er eine Viertelstunde später den Heimweg antrat, zitterte die Erregung noch in ihm nach. Die Beschimpfung hatte ihn wie ein Peitschenhieb getroffen, und er empörte sich von neuem gegen die erbärmliche Rolle, die er in der ganzen Angelegenheit tatsächlich gespielt hatte. Als während des Streifzuges, den sie vom Brunnen der sieben Palmen aus unternommen hatten, William plötzlich scheu und gehetzt mit der kostbaren Schatulle und ihrem noch kostbareren Inhalt aus den Felsen aufgetaucht war und zur schleunigen Rückkehr ins Lager gedrängt hatte, war ihm wirklich nicht eingefallen, darnach zu forschen, wie dieser Schatz seinem Vetter in die Hände gefallen war. Er hatte sich mit der Erklärung begnügt, daß Osborn ihn in einer Höhle gefunden habe, und war gleich Bryans ohne weiteres dafür zu haben gewesen, den anderen gegenüber strengstes Stillschweigen über die Sache zu bewahren. Auch das Auftauchen der ›Königin der Nacht‹ vor dem Lager hatte ihn nicht bedenklich gestimmt. Und wenn er mit dem Empfang, den Osborn ihr und ihren wenigen völlig friedlichen Begleitern bereitete, auch nicht einverstanden war, so vermied er es doch, dem mißtrauisch forschenden Cartwright durch ein unbedachtes Wort einen Anhaltspunkt zu bieten. Er befand sich damals in einem fieberhaften Glücksrausch, da er sich aller Sorgen um die Zukunft enthoben wähnte, und erst mit den späteren Enttäuschungen kamen ihm gewisse Bedenken. Bei der Veräußerung des alten Schmucks war größte Vorsicht notwendig gewesen, sollte nicht unerwünschtes Aufsehen erregt werden, und sie hatte sich daher weit weniger gewinnbringend gestaltet, als man erwartet hatte. Auch die mit diesem Betriebskapital unternommenen Spekulationen schlugen nach anfänglichen Erfolgen fehl, und Osborn konnte sich schließlich nur durch seine Heirat, Bryans durch seine Erbschaft über Wasser halten.

Selwood war allerdings haushälterischer umgegangen, aber was übriggeblieben war, genügte gerade, um ihm ein sehr bescheidenes Auskommen zu sichern. Ungezählte Male hatte die tüchtige Evelyn Dyke, die er vor Jahren kennengelernt und durch seine Fürsprache bei Cartwright untergebracht hatte, versucht, ihn zu irgendeiner geregelten Arbeit anzuhalten, aber alle ihre Versuche waren an seiner Schwäche gescheitert.

Diese Schwäche hatte er auch bewiesen, als Evelyn eines Tages völlig ahnungslos die Nachricht von der rätselhaften Begegnung Cartwrights mit der ›Königin der Nacht‹ gebracht hatte. Sie erzählte die Geschichte, die ihr der erregte Chef anvertraut hatte, so ganz nebenbei, aber Osborn erkannte sofort die Gefahr, die plötzlich nach so langen Jahren wieder drohte, und Selwood erfuhr zum erstenmal ohne Beschönigung, wie sein Vetter in den Besitz des Schmuckes gelangt war. Er hatte ihn nicht als herrenloses Gut gefunden, sondern vom Lager eines todkranken Mannes geraubt. Um keinen Preis durfte die Geschichte an die Öffentlichkeit kommen. Auch Mrs. Dyke war dieser Ansicht, und sogar Helen, die mit großen scheuen Augen zugehört hatte, schloß sich ihr mit lebhaftem Kopfnicken an.

Osborn und Evelyn nahmen die Sache in die Hand. Während Evelyn die Überwachung Cartwrights und Mortons organisierte, um über die weiteren Schritte der ›Königin der Nacht‹ unterrichtet zu bleiben, sorgte Osborn dafür, daß das Tagebuch verschwand, bevor Hyman Einblick nehmen konnte.

Selwood ließ alles ohne Einspruch geschehen, und erst der geheimnisvolle Tod Cartwrights und Mortons rüttelte sein Gewissen wach, ohne daß er sich auch jetzt zu einem befreienden Schritt hätte entschließen können. Er ließ sich auch weiter von den Ereignissen treiben, und nur die neuerliche Begegnung mit der ›Königin der Nacht‹, auf die er vorbereitet sein mußte, weckte in ihm eine gewisse Energie. Wenn beim Brunnen der sieben Palmen auch ein verabscheuungswürdiges Unrecht begangen worden war, die Rache dafür war ein weit ärgeres und heimtückischeres Verbrechen und hatte völlig Unschuldige getroffen. Charlie hatte sich förmlich in den Gedanken verbohrt, daß er etwas von seiner Mitschuld an dem tragischen Geschick Sir Benjamins und Sir Nicholas' sühnen könne, wenn er deren Mörderin Gleiches mit Gleichem vergalt, und wie Osborn war er hierfür gerüstet.

Das erste nächtliche Zusammentreffen mit der geheimnisvollen Person vor dem Haus Evelyns hatte ihn gelehrt, jeden Augenblick auf seiner Hut zu sein. Auch jetzt, da er verdrossen durch die kühle Frühlingsnacht schritt. Sein Blick suchte die fast menschenleeren Gassen ab, und unwillkürlich hielt er sich am Rand der Gehsteige, um vor einer Überrumpelung aus dem Dunkel sicher zu sein.

Der Weg zu seiner Wohnung betrug kaum zwanzig Minuten, aber bei seiner Vorsicht brauchte er mehr als eine halbe Stunde, bevor er die nicht sehr lange und nicht sehr breite Gasse erreichte, die fast durchwegs aus nüchternen einstöckigen Häusern mit kleinen Vorgärten, die einander wie ein Ei dem anderen glichen, bestand.

Selwoods Heim lag an der unteren Ecke, und er schien sich plötzlich unsicher zu fühlen, daß er vom Gehsteig auf die Mitte der Fahrbahn ging. Die Gasse war nur spärlich erleuchtet und völlig ausgestorben, und seine Schritte klangen hart und wuchtig in der unheimlichen Stille.

Knapp vor seinem Haus machte er im Schein einer Laterne halt und zog seinen Schlüsselbund hervor, um an der Tür zwischen den Sträuchern des Vorgärtchens keinen unnötigen Aufenthalt zu haben. Dann schritt er, immer noch in der Mitte der Fahrbahn, weiter.

Als er den dunklen Zugang zu seinem Haus zur Linken durchquert hatte, machte er eine rasche Wendung, aber in diesem Augenblick schoß hinter ihm von der gegenüberliegenden Seite der Gasse ein greller Lichtstrahl herüber, der die Tür und deren Umgebung taghell erleuchtete. Und in diesem stechenden Licht gewahrte Selwood eine verhüllte Gestalt, an deren Stirn eine Mondsichel und drei flimmernde Sterne leuchteten. Sie war dicht an das Gestrüpp geschmiegt, und der Blitz, der so plötzlich aufgeflammt war, schien sie in einen Zustand der Erstarrung versetzt zu haben. Aber dann duckte sie sich jäh zusammen, schoß hervor und glitt mit der Behendigkeit eines flüchtigen Wildes um das Haus herum in die anstoßende Gasse.

Selwood sah noch, wie das seltsame Licht bis zur Ecke an ihren Fersen haftete, dann verlöschte es so plötzlich, wie es aufgeflammt war, und als er sich endlich gefaßt hatte und nach der Stelle blickte, woher der Schein gekommen war, lag die jenseitige Gassenfront still und dunkel.

Charlie Selwood ging in fester Haltung zur Tür seines Hauses und schloß sie mit erzwungener Ruhe und Umständlichkeit auf. Aber im Nacken saß ihm das Grauen, denn er ahnte, daß eben der Tod auf ihn gelauert hatte und daß nur eine andere gleich geheimnisvolle Macht ihn gehindert hatte, sein Werk zu vollenden.

 

In den nächsten Minuten begann von zwei verschiedenen in unmittelbarer Nähe gelegenen Punkten eine rasende Wettfahrt zweier Wagen, die beide dem gleichen Ziele zustrebten.

In dem kleineren, der lautlos wie ein Pfeil dahinschoß, saß eine unkenntliche Gestalt tief über den Volant gebeugt, der zweite, ein großer Thunderbird, wurde von dem ortskundigsten und sichersten Fahrer von Scotland Yard gelenkt. Zwischen den starken Scheinwerfern leuchtete eine kleine blaue Scheibe, und die Polizeiposten, an denen das Auto vorüberflog, wußten, daß für solche Wagen die Geschwindigkeits- und sonstigen Verkehrsvorschriften nicht galten und daß sie an jeder Kreuzung sofort durchzulassen waren.

»Wir haben ganz besonderes Glück gehabt«, sagte Boyd nachdenklich, indem er sich eine seiner schwarzen Zigarren anzündete und einige tiefe Züge tat. »Darauf war ich eigentlich nicht vorbereitet, und ich weiß mir augenblicklich auch nicht zu erklären, was da eigentlich los ist. – Es sei denn, daß Selwood . . .« Er vollendete nicht, sondern ließ einen leisen gedehnten Pfiff hören, aber Oberst Terry achtete nicht weiter darauf.

»Sie sind eben immer ein Glückspilz gewesen«, meinte er, und es klang fast so etwas wie Neid aus seinen Worten. Wie schon früher oft, mußte er auch diesmal wieder die Ruhe und Raschheit bewundern, mit der Boyd in diesem rätselhaften Fall, der eigentlich nicht den winzigsten Anhaltspunkt geboten hatte, vorwärtsgekommen war. Er war bis vor einer Viertelstunde, trotz des Vertrauens in die Tüchtigkeit seines Mitarbeiters, noch immer skeptisch gewesen, aber seitdem er die geheimnisvolle ›Königin der Nacht‹ in dem scharfen Lichtkegel des Scheinwerfers mit eigenen Augen erblickt hatte, zweifelte er nicht länger, daß Boyd tatsächlich die Spur aufgestöbert hatte. Das bedeutete für Scotland Yard unendlich viel.

»Vielleicht hätten wir die Falle doch jetzt zuklappen sollen«, äußerte er bedenklich. »Man soll nicht übermütig werden, und was man hat, das hat man. Wenn sie uns nun entwischt . . .«

»Kann ich sie Ihnen jederzeit wieder zur Stelle schaffen«, beruhigte ihn der Detektiv gelassen. »Das ist das wenigste. Augenblicklich kommt es darauf an, meine Annahmen auf ihre letzte Richtigkeit zu prüfen. Deshalb rasen wir jetzt mit höchster Geschwindigkeit. Ob sie genügt, werden wir ja sehen. Die ›Königin der Nacht‹ wird aus ihrem Wagen auch herausholen, was herauszuholen ist, und einen Thunderbird darf man nicht unterschätzen. – Ich hoffe, daß Ihre Leute an unserem nächsten Ziel ebenso zuverlässig arbeiten, wie sie es hier getan haben.«

»Darauf können Sie sich verlassen«, versicherte der Oberst. »Ich habe sie genau nach Ihren Wünschen instruiert. Allerdings«, fügte er etwas gekränkt hinzu, »wäre mir dies leichter geworden, wenn Sie ein bißchen deutlicher gewesen wären.«

Boyd stieß eine dichte Rauchwolke in den Wagen, und seine Stimme klang unbefangen, aber einigermaßen verwundert.

»Bin ich undeutlich gewesen? Das tut mir leid. Ich glaubte wirklich, mich ganz klar ausgedrückt zu haben: Ihre Leute sollten nichts anderes tun – was immer auch geschehen mag – als genau beobachten, ob irgend jemand sich in das Haus begibt. Sei es durch den Haupteingang oder durch die Garage an der rückwärtigen Gassenfront, oder durch das Gitter, das ringsherum läuft. Und sie sollten in jedem dieser Fälle genau die Zeit feststellen. – Wieviel Uhr haben Sie, Oberst?«

Terry sah nach dem leuchtenden Zifferblatt seiner Armbanduhr.

»Ein Uhr achtundvierzig Minuten.«

Der Detektiv blickte angelegentlich durch die Scheiben des Wagens und versuchte sich zu orientieren.

»Wir sind bereits in Park Lane«, sagte er, »und Wunder kann die ›Königin der Nacht‹ auch nicht vollbringen. Die kritische Zeit wird frühestens um zwei Uhr zehn eintreten.«

Eine Weile herrschte in dem Wagen tiefes Schweigen, dann begann der Oberst sich ungeduldig zu räuspern. »Weshalb machen Sie eigentlich noch immer so ein Geheimnis aus der Geschichte, wenn die Dinge schon so weit gediehen sind?«

»Weil ich wünsche, daß die Sache so ausgehen soll, wie ich es mir vorstelle.«

Terry wurde plötzlich mißtrauisch. »Wie meinen Sie das?«

»Daß der Fall ohne allzuviel Aufsehen rasch und gründlich erledigt wird und Sie Ihren großen Erfolg erreichen, ich aber meinen Zweck.«

»Hören Sie, das ist eine etwas verzwickte Antwort«, brummte der Oberst mit einem verdrießlichen Lachen. »Daraus kann kein Mensch klug werden.«

Der Detektiv ließ sich nicht aus seiner Gelassenheit bringen.

»Warten Sie noch vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden, und Sie werden erkennen, wie einfach sie war. Ebenso einfach wie der ganze Fall der ›Königin der Nacht‹.«

»Davon habe ich nichts bemerkt«, seufzte Terry verzweifelt. »Weiß der Teufel, wie Sie es angestellt haben, diese verdammte Nuß zu knacken.«

Die Zigarre im Munde Boyds glomm so hell auf, daß der andere sein behaglich lächelndes Gesicht sehen konnte.

»Auf die einfachste Weise. Ich habe bloß alles gründlich überdacht. Schon nach den ersten Zeitungsberichten und noch bevor Sie zu mir kamen, hatte ich mir eine Meinung gebildet, die sich als zutreffend erwies. Einen wichtigen Fingerzeig gab mir das unverständliche Verhalten der ›Königin der Nacht‹, den zweiten das Werkzeug, mit dem sie arbeitete. Dann kamen die gewissen glücklichen Zufälle dazu, ohne die wir nun einmal überhaupt nichts erreichen können.«

»Also wirklich alles völlig klar?« fragte der Oberst mit einem letzten leisen Zweifel.

»So klar, daß ich Ihnen schon jetzt die ganze Geschichte bis in die kleinste Einzelheit erzählen könnte. Nur das Ende kenne ich noch nicht, aber da sollen Sie selbst mit dabei sein. Morgen oder übermorgen – je nachdem, was es heute noch gibt – komme ich zu Ihnen, und dann besprechen wir die letzten Maßnahmen.« Boyd spähte wieder durch die Scheiben und wurde plötzlich sehr lebhaft. »Weiß der Mann genau, wo er zu halten hat? Wir müssen gleich an Ort und Stelle sein.«

Terry hatte noch nicht Zeit gefunden zu antworten, als der Wagen auch schon hielt und der Chauffeur den Schlag öffnete. Sie befanden sich am Ausgang einer schmalen Gasse, und vor ihnen lag ein kleiner Park.

»Es ist genau zwei Uhr sieben Minuten«, sagte der Detektiv nach einem Blick auf seine Uhr, »und wir haben noch vier Minuten zu gehen. Was ich erwarte, kann jeden Augenblick eintreten, aber ich wünschte, es geschähe erst, wenn wir an Ort und Stelle sind, damit wir selbst eine Kontrolle haben.«

»Was erwarten Sie eigentlich?« fragte sein Begleiter, während sie mit eiligen Schritten den Park durchquerten und jenseits in eine breitere Gasse einbogen, in der kleine Privathäuser standen.

»Ich erwarte, daß die ›Königin der Nacht‹ hierherkommt, wenn sie sich nicht verfolgt wähnt«, gab Boyd zur Antwort. »Und da wir sie während der Fahrt völlig ungeschoren gelassen haben, wird sie wohl kaum Verdacht hegen. – Ist Ihr Kordon völlig undurchlässig?«

»Unbedingt«, versicherte der Oberst. »Ich habe fünfzehn Leute hier, und es kann zwischen ihnen keine Maus unbemerkt durchschlüpfen. Wir befinden uns bereits mitten unter ihnen, und Sie müssen zugeben, daß die Sache ganz unauffällig ist. Wenn wir draußen sind, werde ich mir Rapport erstatten lassen, ob bereits etwas Besonderes vorgefallen ist. Kleine helle Punkte heißen ›Alles in Ordnung‹, rote Punkte, ›Es liegt etwas vor‹. Ich selbst habe ein blaues Licht in meiner Taschenlampe. Und weil Sie es ausdrücklich so wünschen, darf kein Mann sich von seinem Platz rühren, solange ich nicht den Wink zur Ablösung gebe oder Alarm pfeife. Inspektor Jeffney leitet die Sache, und er ist verläßlich.«

Die Gasse mündete in eine breite Allee. Jenseits derselben stand eine Reihe von Villen, die voneinander durch Gärten und Zufahrtswege getrennt waren. Die wenigen Bogenlampen vermochten den tiefen Schatten der mächtigen Baumkronen nicht zu durchdringen, und es herrschte ein derartiges Dunkel, daß Terry und Boyd einige Augenblicke brauchten, um einen Überblick zu gewinnen. Rechts von ihnen zog sich der Häuserblock, in dem sie standen, noch etwa dreißig Schritte hin, dann schob sich der Park, den sie vorher passiert hatten, mit seinem Randgebüsch bis dicht an die Allee vor.

»Es ist das dritte Haus dort drüben«, erklärte der Detektiv leise. »Das mit den zwei Türmchen. Der Haupteingang ist auf der anderen Seite, aber vor uns haben wir die Garage. Sie ist erst später gebaut worden und nimmt sich nicht gerade gut aus. Das Gebüsch zu beiden Seiten des Einfahrtstores soll wahrscheinlich die unschöne Fassade etwas verdecken.«

Der Oberst hatte mit scharfen Augen die Front abgesucht, auf der er seine Leute wußte, und war befriedigt, auch nicht den winzigsten beweglichen Schatten wahrzunehmen. Er flüsterte Boyd zu, wie seine Postenkette um das Haus lief und trat dann vorsichtig etwas vor und ließ seine Taschenlampe dreimal kurz hintereinander aufleuchten.

Es vergingen einige Sekunden, dann glomm oben in dem Randgebüsch des Parks ein winziger heller Punkt auf und flatterte wie ein vagabundierender Leuchtkäfer langsam die Front herab. Bevor er aber noch in die Nähe des Hauses mit den zwei Türmchen kam, wurde er plötzlich rot, und der Oberst faßte seinen Begleiter hastig am Arm.

»Es muß etwas geschehen sein«, flüsterte er hastig. »Glauben Sie, daß wir zu spät gekommen sind?«

»Nein«, erwiderte Boyd entschieden. »So rasch kann sie nicht gewesen sein, da sie sich auf keinen Fall mit dem Auto bis zum Haus wagt. Sie stellt es jenseits in einer alten Werkstatt ein, von der sie bis hierher gute sechs Minuten zu Fuß hat. Wenn ich diesen Weg mit einrechne, konnte sie uns bei unserem Tempo gar nicht schlagen. Es muß etwas anderes in der Luft liegen.« Er schwieg plötzlich, und Terry beobachtete, daß er das Gesicht verkniff und sehr ungeduldig wurde.

»Es wird das beste sein«, raunte er hastig, »ich mache mich so nahe als möglich an das Haus heran, denn ich weiß, worum es geht. Lassen Sie sich durch nichts, was auch geschehen sollte, beirren, und halten Sie Ihre Leute so lange in Schach, bis ich Ihnen zurufe, daß ein Eingreifen notwendig ist. Sie können mich ja aus dieser kurzen Entfernung sehr gut hören.«

Der Polizeioffizier wollte noch etwas fragen, aber in diesem Augenblick tauchten in der Allee die Lichter eines Autos auf, der Detektiv schnellte bereits über die Fahrbahn und drüben von Baum zu Baum gegen das Haus mit den zwei Türmchen.

Was nun geschah, spielte sich im Zeitraum von wenigen Sekunden ab, und Boyd mußte es später dem Oberst mehrmals wiederholen, bevor dieser es begriff, obwohl er doch Augenzeuge der Vorgänge gewesen war.

Das Auto stoppte gegenüber der Garage, und Osborn verließ den Wagen, um aufzuschließen. Er sah sich mißtrauisch nach allen Seiten um, bevor er die wenigen Schritte bis zum Tor machte, und seine Rechte steckte in der Manteltasche.

Er öffnete, kehrte zum Auto zurück, setzte den Fuß auf das Trittbrett und schob den Oberkörper in die Limousine.

In dieser Sekunde löste sich aus dem Gebüsch vor der Garage blitzschnell ein Schatten, und der Mann im Wagen hörte in seiner unbeholfenen Lage eine Stimme an sein Ohr schlagen:

»Die ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen . . .«

Seit Tagen hatte er sich auf diesen entscheidenden Augenblick vorbereitet, und hunderte Male hatte er die rasche Handbewegung geübt, mit der er diese Begegnung erledigen wollte, aber nun überraschte sie ihn in völliger Hilflosigkeit . . .

Er mußte sich erst wieder aus dem Wagen herauszwängen, und wenn dies auch mit größter Gewandtheit geschah, die Situation hatte sich mittlerweile bereits geändert, und Osborn sah sich einer Szene gegenüber, die ihn völlig außer Fassung brachte: Die verhüllte Gestalt, die eben noch dicht neben ihm gestanden war, wurde von zwei riesigen Männern in Windeseile über die Allee ins Dunkel geschleift, aber dafür sah er längs der Gartenmauer eine gleiche Erscheinung mit der Mondsichel und drei flimmernden Sternen auf der Stirn auf sich zufliegen.

Er begriff zwar nichts, aber seine Hand fuhr in die Tasche, und in der nächsten Sekunde zuckte ein Feuerstrahl gellend gegen den nächtlichen Himmel und jagte die zweite schwarze Gestalt in wilder Flucht um die Ecke.

»Es scheint hier etwas unsicher zu sein«, sagte der weißhaarige Herr, der Osborns sichere Hand durch einen blitzschnellen Schlag abgelenkt hatte, »und Sie würden gut daran tun, Ihren Wagen möglichst rasch unterzustellen.«

William Osborn war so verstört, daß er den Sprecher ganz entgeistert anstarrte, dann aber kroch er gehorsam in das Auto und lenkte es in die Garage. Hierauf verschloß er das Tor und ging durch den Garten in das Haus, das er hell erleuchtet fand.

Am oberen Ende, der Treppe stand, mit einem schreiend grellen Pyjama angetan, verschlafen und zitternd, Helen.

»Ich hörte einen Schuß fallen«, stotterte sie atemlos, »und bin so furchtbar erschrocken. Was ist geschehen?«

»Leg dich aufs Ohr und alarmiere nicht das ganze Haus«, schrie er sie wütend an und schmetterte seine Zimmertür zu.

Draußen vor der Garage verharrte Boyd noch eine Weile, dann schritt er der Stelle zu, an der er Terry verlassen hatte.

Der Oberst befand sich in einem Zustand höchster Erregung und konnte es nicht erwarten, eine Aufklärung über die Vorgänge zu erhalten.

»Wenn ich nicht solches Vertrauen zu Ihnen hätte«, stieß er hervor, »wäre ich unbedingt dreingefahren. Wissen Sie, daß eine der beiden verschleierten Gestalten weggeschleppt worden ist? Von zwei riesigen Burschen; und zwei andere Kerle haben ihnen den Rücken gedeckt.«

Er sprach hastig und gedämpft, aber sein Begleiter fand es nicht mehr notwendig, besondere Vorsicht walten zu lassen.

»Sie können Ihre Leute heimschicken«, sagte er laut und zündete sich in aller Gemächlichkeit eine frische Zigarre an. »Die Sache ist vorüber, und wir können sehr zufrieden sein. Sie haben sogar mehr gesehen, als ich Ihnen zeigen wollte.«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur das geringste davon verstehe«, brummte Terry ärgerlich und gab mit seiner Taschenlampe ein Zeichen, das sofort abgenommen wurde, worauf nach etwa zwei Minuten aus allen Winkeln dunkle Gestalten schlüpften und lautlos verschwanden.

»Nun legen Sie endlich los«, drängte der Oberst ungeduldig, als sie zu ihrem Wagen schritten. »Was hatte dieser aufregende Tanz zu bedeuten?«

»Das so schwierig scheinende Rätsel der ›Königin der Nacht‹ zu einem lebenden Bild gestellt, das alles verständlich macht,« erklärte Boyd schmunzelnd, aber Terry schnitt ein verzweifeltes Gesicht und faßte ihn heftig am Arm.

»Mir nicht. Da müssen Sie schon nachhelfen.«

»Gut. – Also, Sie haben soeben die beiden ›Königinnen der Nacht‹ gesehen.« Der Oberst blieb mit einem Ruck stehen und starrte seinen Begleiter verblüfft an.

»Die beiden ›Königinnen der Nacht‹?«

»Jawohl. Die richtige, aber harmlose und die falsche, aber gefährliche. Die erste bringt die gewisse Botschaft von der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen, die zweite aber gestaltet diesen unschuldigen Theatercoup zu furchtbarem Ernst. Dabei hatte eine die andere bis zu dieser Nacht nie gesehen, und der Überfall kam gerade noch rechtzeitig, um einen Zusammenstoß zwischen beiden zu verhüten.«

»Welche hat man entführt?«

»Die harmlose.«

»Weshalb gerade die?« fragte Terry hartnäckig und verwundert.

Boyd kam aus dem Schmunzeln nicht heraus.

»Das ist wieder eine andere Sache. Man muß in diesem Fall sehr vorsichtig sein, weil es dabei verschiedene Dinge gibt, die nichts weniger als krimineller Natur sind. Aber das alles erzähle ich Ihnen am besten erst, wenn wir mit der ganzen Geschichte wirklich zu Ende sind. Nach dem, was Sie heute gesehen haben und morgen oder übermorgen noch sehen werden, wird es nicht vieler Worte bedürfen. Jetzt lassen Sie mich wohl nach Hause bringen, denn ich bin furchtbar müde.«

Boyd gähnte zur Bekräftigung sehr heftig, und Terry schob sich enttäuscht und wütend neben ihn in den Wagen.

 

Um diese Zeit hatte das Auto, in das die eine der ›Königinnen der Nacht‹ von kräftigen Armen gehoben worden war, in rasender Fahrt bereits einen weiten Weg zurückgelegt. Einer der riesigen Burschen, die sie so plötzlich gefaßt und im Sturmschritt weggeschleppt hatten, saß neben dem Chauffeur, der andere neben ihr, aber die Gefangene empfand trotz ihrer Lage seltsamerweise keine allzu beklemmende Furcht. Der Mann an ihrer Seite machte sich so dünn, als er nur konnte, und jener neben dem Lenker saß mit der korrekten Steifheit eines geschulten Bedienten und rührte sich nicht.

Die Scheiben an den Seiten des Wagens waren dicht verhangen, und das junge Mädchen vermochte nicht zu erkennen, welche Richtung sie nahmen. Nur einmal sah sie in dem Nebelschleier vor dem Führersitz die lange Lichterreihe einer Brücke, und dann schien es nach den häufigen Wendungen durch ein sehr winkliges Viertel zu gehen. Die Entführte hatte noch immer den silbergestickten Schleier um, der ihr Gesicht und den ganzen Kopf verhüllte, und ihre Hände nestelten unausgesetzt daran herum, als ob sie verhüten wollte, daß er heruntergleite.

Als die Fahrt so lange währte, stieg in ihr doch so etwas wie Furcht auf, und sie suchte sich darüber klarzuwerden, in wessen Hände sie gefallen war. Sie hatte ihre Rolle heute noch einmal spielen wollen, um auch dem letzten, William Osborn, das Verbrechen vom Brunnen der sieben Palmen in Erinnerung zu rufen, aber ihr Glück hatte sie diesmal verlassen. Sie war trotz aller Vorsicht in eine Falle gegangen, und alles hatte sich so rasch abgespielt, daß sogar der getreue Ali, der doch über jeden ihrer Schritte wachte, nicht mehr zurechtkommen konnte. Sie malte sich aus, in welcher Verzweiflung er nun umherirren mochte, und ihr Herz stockte bei dem Gedanken, daß eine arme leidende Frau vielleicht schon in dieser Stunde eine Schreckensbotschaft erhielt, die sie tödlich treffen konnte.

»Wir werden gleich aussteigen, Madame«, sagte eben der Mann an ihrer Seite sehr respektvoll. »Haben Sie keine Angst und schreien Sie nicht, denn es geschieht Ihnen gar nichts. Auch wenn Sie ein paar Stufen hinuntergetragen werden, hat das nichts zu bedeuten.«

Das Mädchen versuchte gefaßt und entschlossen zu sein.

»Ich werde selbst gehen«, erklärte sie bestimmt und sah durch den kleinen Spalt, der die Augen freiließ, ihren Wächter herausfordernd an, aber der schüttelte energisch mit dem Kopf.

»Das ist kein Weg für eine Lady«, meinte er, und sie sah in ein breites, gutes Gesicht, das belustigt die Zähne zeigte.

Einige Minuten später hatte das junge Mädchen ein dichtes Tuch über dem Kopf, und schon nach wenigen Schritten wußte sie, wohin es ging. Sie fühlte plötzlich die durchdringende Kühle des Wassers, noch ehe sie behutsam in das schwankende Boot gehoben wurde, das gleich darauf, von taktmäßigen Ruderschlägen getrieben, dahinflog. Das dauerte etwa eine Viertelstunde, dann machte das Fahrzeug irgendwo fest, und sie schwebte, von starken Armen getragen, in die Höhe. Dann verspürte sie den scharfen Geruch von Teer und Lack, hörte ein kurzes Flüstern und den Widerhall fester Schritte auf hartem Holz. Hierauf ging es wieder irgendwo eine Treppe hinunter, einige Schritte auf weichen Teppichen, und dann fühlte sich die ›Königin der Nacht‹ sanft in eine Öffnung in der Wand gedrängt, und eine Schiebetür glitt lautlos ins Schloß.

Irgend jemand nestelte an dem dichten Tuch, das den Kopf der Gefangenen noch immer verhüllte, und dann schloß sich ein Paar neugieriger, ängstlicher Augen vor der blendenden Helle, die sie plötzlich traf. Erst nach einer Weile vermochte die ›Königin der Nacht‹ das Bild der geräumigen, prunkvollen Kajüte völlig aufzunehmen, und die schüchterne Frau an ihrer Seite wartete ehrerbietig, bis die andere sich satt gesehen hatte.

»Ich bin zu Ihrer Bedienung bestimmt, Madame«, sagte sie endlich. »Und vor allem habe ich Ihnen mitzuteilen, daß Sie dort auf dem Tisch Schreibzeug finden. Sie werden vielleicht irgend jemandem eine Mitteilung machen wollen, daß Sie sich wohl befinden. In längstens einer Stunde wird der Brief zuverlässig zugestellt sein.«

Das Mädchen war von den Ereignissen der letzten Stunde und ihrem vorläufigen Abschluß völlig verwirrt, aber das verstand sie doch, und diese seltsame Rücksichtnahme war ihr mehr Beruhigung als alle Versicherungen. Sie setzte sich, wie sie war, an den kleinen Schreibtisch, um die geliebte Mami mit einer harmlosen Erklärung ihres Ausbleibens zu beruhigen, und als sie fertig war, machte sich die Dienerin beflissen davon. Sie eilte durch einen hellerleuchteten Kajütengang an Deck, wo im Schatten des Kamins ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in die Augen gedrückter Mütze stand. Er nahm den Brief entgegen, und gleich darauf wurde in lautloser Stille eines der schlanken Boote klargemacht.

Seit fast zwei Stunden saß Ali vor dem stillen Haus in Brompton und starrte verzweifelt in die Nacht. Sein Wagen hielt im Schatten der Mauer, und er getraute sich nicht den Fuß über die Schwelle zu setzen, weil er seinen Schwur nicht gehalten hatte. Er war wie ein Besessener gerast, als er die Gefahr gesehen hatte, aber die anderen waren schneller gewesen. Und ehe er seinen Wagen erreichen konnte, um die Verfolgung aufzunehmen, war jede Spur verloren.

Der braune Mann war so erschüttert, daß sogar seine scharfen Sinne versagten. Sein Ohr vernahm nicht die nahenden leisen Schritte, und seine Augen sahen nicht den Schatten, der an ihn heranglitt. Erst als die Gestalt dicht vor ihm stand, fuhr Alis Hand instinktiv nach dem Messer, aber sie blieb am Griff haften, denn er meinte, daß ihn ein Spuk äffe: Der Mann vor ihm war braun und sehnig wie er selbst und erst, als er dessen Stimme vernahm, wich die Betäubung von ihm.

»Allahs Gnade sei mit dir und diesem Hause. Ich bringe dir Worte deiner jungen Herrin, die unter sicherem Schutze ist, und du sollst sie der Herrin mit dem weißen Haar geben, damit keine Wolke der Sorge ihre Stirn umdüstere. Aber du sollst damit bis zum Morgen warten, und über deine Lippen soll nicht ein Wort von dem kommen, was deine Augen heute nacht gesehen haben. Deine Herrin ist wohlbehütet, ich schwöre es, und sie wird heimkehren, sobald es Zeit ist.«

Der Fremde hatte seine Botschaft mit Ruhe und Würde hergesagt, und Ali fing jedes Wort mit gierigem Ohr auf. Aber der andere glitt bereits wieder davon, als er endlich zu sich kam.

»Allah segne dich und die Deinen bis ins zehnte Glied«, rief er dem Boten dankbar nach, dann drückte er den Brief ehrfurchtsvoll an Brust und Stirn.


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