Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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21

Clarisse Avery mußte am nächsten Morgen erfahren, daß Pünktlichkeit ihren Kollegen Wellby nicht gerade auszuzeichnen schien. Sie schlenderte, vornübergeneigt und mit einwärts gestellten Füßen, bereits seit neun Uhr an dem verabredeten Treffpunkt bei der Albert Bridge auf und ab, aber obwohl es schon eine Viertelstunde über die vereinbarte Zeit war, konnte sie Wellby noch immer nicht sehen.

Endlich – es war bereits gegen halb zehn – kam er in einem Taxi angefahren und half ihr unter lebhaften Entschuldigungen in den Wagen. Sie war zwar schon sehr ungeduldig geworden, aber da er doch gekommen war, verflog ihre Verstimmung schnell.

»Machen Sie wegen der halben Stunde nicht so viele Worte«, neckte sie ihn. »Wenn ich ein Mann wäre und mit einer Dame von meinen Reizen ein Rendezvous hätte, würde ich noch später kommen.«

Er hatte für ihre Bemerkung nur ein flüchtiges, zerstreutes Lächeln und sah sich, während sie losfuhren, immer wieder nach rückwärts um. Er sagte ihr nicht, daß er auf der bisherigen Fahrt bereits dreimal den Wagen gewechselt hatte, um die drei Leute, die sich am Hafen plötzlich an seine Fersen hefteten, loszuwerden. Das schien ihm nun wirklich gelungen zu sein. Das kleine Auto, das er ununterbrochen hinter sich gehabt hatte, war verschwunden, und als er dessen gewiß zu sein glaubte, rückte er sich behaglich zurecht.

»Wir haben Glück, Miss Avery. Es wird der herrlichste Tag, und wir wollen ihn gründlich genießen. Ich hoffe, daß Sie sich ganz frei gemacht haben.«

Sie nickte lächelnd, und er gewahrte nun erst, daß sie sich wirklich sehr nett hergerichtet hatte. Sie trug einen Trenchcoat und einen Südwester aus demselben Stoff, unter dem wieder die gewisse kupferbraune Locke herausfordernd hervorblickte, aber das furchtbare blaurote Mal und die schrecklichen Augengläser verdarben schließlich doch wieder alles.

Die Fahrt dauerte ziemlich lang, und als sie am Themseufer bei Mortlake angelangt waren, berechnete der Chauffeur eine recht hübsche Summe.

»Das haben Sie davon«, sagte Clarisse vorwurfsvoll, als sie zusammen am Wasser hinschritten. »Wir hätten ganz gut mit der Bahn herausfahren können. Aber natürlich trage ich die Hälfte. Wie kämen Sie dazu, für mein Vergnügen Ihr Geld auszugeben? Ich muß Ihnen ja schon sehr dankbar dafür sein, daß Sie sich meiner überhaupt annehmen.«

»Gut«, bemerkte er leichthin, »wenn Sie unbedingt darauf bestehen, werden wir gelegentlich abrechnen. Aber jetzt wollen wir uns mit solchen Dingen nicht aufhalten. Es ist schade um jede Minute, die wir verlieren.«

Er wechselte einen kleinen Korb mit starken Ledergurten, den er im Auto mitgebracht hatte, von der einen Hand in die andere und schlug ein flottes Tempo ein.

»Was haben Sie denn da?« fragte sie neugierig.

»Einen kleinen Imbiß. Wir können also die ganze Zeit auf dem Wasser bleiben und sind nicht auf das fragwürdige Essen angewiesen, das man hier draußen vorgesetzt bekommt.«

»Sie scheinen ja sehr verwöhnt zu sein«, meinte sie herausfordernd.

»Oh, durchaus nicht«, lachte er. »Wenn Sie wüßten, welche unmöglichen Gerichte ich in meinem Leben schon mit größtem Appetit verschlungen habe. Aber wenn es sich machen läßt, bin ich für eine halbwegs genießbare Kost.«

»Den Korb haben Sie wohl aus Ihrem Stammgeschäft oder von Ihrer Hauswirtin?« fragte sie wißbegierig weiter, aber er nickte nur stumm, denn sie schienen an ihrem Ziel angelangt zu sein. Das Ufer bildete hier eine Bucht, in der eine große Zahl von Booten und Kähnen vertäut war. Weiterhin gab es ein rohes Blockhaus für den Wächter, aber in ihrer unmittelbaren Nähe stand ein großer, junger Bursche, mit dem Wellby sofort einen leisen Handel begann, der nur sehr kurz währte. Sie bekamen ein stattliches Segelboot, das sowohl durch seinen Bau, wie durch seine ganze Ausstattung von den übrigen Fahrzeugen auffallend abstach, und als sie den schwankenden Laufsteg passiert hatten, konnte sich Miss Avery nicht enthalten, darüber eine Bemerkung zu machen.

»Ich hätte nie gedacht, daß man so etwas Feines zu leihen bekommt«, sagte sie verwundert. »Das Ding muß mindestens . . .«

Sie brach plötzlich ab und schob umständlich ihre Brille fest, als ob sie fürchtete, daß diese ihr heruntergleiten könnte.

»Verstehen Sie denn etwas davon?« fragte Wellby, indem er mit sichtlicher Übung die Takelage in Ordnung brachte und das Boot flottmachte. Er hatte seinen gewöhnlichen Büroanzug an, den sie schon längst kannte, aber statt des Hutes setzte er nun eine etwas mitgenommene Bordkappe auf, die zu seinem schmalen, wettergebräunten Gesicht ausgezeichnet paßte.

»Können Sie steuern?«

Sie nickte mit lächelndem Gesicht, schränkte aber ihre lebhafte Bejahung sofort wieder ein.

»Zur Not wird es wohl gehen.«

»Haben Sie es schon einmal versucht?«

»Ja«, gab sie verlegen zu. »Vor vielen Jahren. Wir wohnten damals an einem Wasser.«

»Wo?« fragte er rasch und sah sie so interessiert an, daß sie ganz verwirrt wurde.

»An einem Fluß«, gab sie stockend zur Antwort und war froh, daß sie aus der Bucht hinausglitten und Wellby seine ganze Aufmerksamkeit der Leinwand zuwenden mußte, um die Brise abzufangen. Er war dabei sehr geschickt, und schon nach wenigen Minuten schnitt der scharfe Kiel des Bootes rauschend durch das Wasser.

Der herrliche Sonntag hatte eine Menge Fahrzeuge mobil gemacht, und es hieß in dem Gewimmel vorsichtig Kurs nehmen. Clarisse handhabte das Steuer ganz gewandt, aber bald wurde sie unter seinen beobachtenden Blicken unsicher.

»Sie müssen den Mantel ablegen«, sagte er und turnte auch schon heran, um ihr behilflich zu sein. »Die Sonne brennt ja so, daß Sie absolut keine Abkühlung zu befürchten haben.«

»Meinen Sie?« fragte sie ängstlich, aber plötzlich hörte er wieder das leise, dunkle Lachen, das ihn immer so eigenartig berührte, und etwas linkisch half er ihr aus dem Trenchcoat.

Dann aber ließ er sogar die Leine für einen Augenblick locker, weil ihn das, was er sah, gar zu sehr überraschte. Das unschöne Mädchen saß in einem blütenweißen Pullover und einer ebensolchen engen Sporthose vor ihm, und zum erstenmal konnte er wahrnehmen, welch prachtvolle Figur sich unter den unkleidsamen Hüllen verbarg, die sie sonst zu tragen pflegte. Alles an diesem jugendlichen Körper schien von vollendetem Ebenmaß und kräftiger Frische, und Wellbys Erstaunen war so groß, daß es fast ein Malheur gegeben hätte. Ein kräftiger Windstoß ließ das schlanke Boot plötzlich hart überholen, aber ehe der Reporter noch recht wußte, was eigentlich vorging, hatte ihm Miss Avery die Stelleine aus der Hand gerissen und war wie der Blitz backbord geglitten, so daß der aufschnellende Mast fast den Himmel einzuschlagen drohte.

»Bravo«, sagte er höchst verdutzt. »Sie verstehen die Sache. Machen wir also weiter.«

Und ohne ihre Zustimmung abzuwarten, steuerte er mitten in den Strom, wo die Brise am steifsten wehte, und Clarisse bekam alle Hände voll zu tun . . . Und bei dem Eifer und der Gewandtheit, die sie entfaltete, ging plötzlich eine überraschende Veränderung mit ihr vor: Ihre Gestalt begann sich zu recken, ihre hängenden Schultern flogen zurück, und ihr ganzer Körper spielte in graziöser Geschmeidigkeit.

Wellby saß mit steinernem Gesicht schweigend am Steuer, denn er wußte, daß eine Miene, ein Wort dieses sportliche Mädel wieder in ein unscheinbares Aschenbrödel verwandeln würde. Er ließ sie durch den Zickzackkurs, den er nahm, nicht zur Besinnung kommen, und so jagten sie in zuweilen äußerst toller Fahrt kreuz und quer über das Wasser, bis er endlich wieder gegen die Bucht steuerte.

»Nun werden wir frühstücken und dann Fortsetzung«, sagte er und begann seinen kleinen Korb auszupacken. Sie hatte ein glühendes Gesicht, auf dem das häßliche Mal weit weniger sichtbar war, ihr Atem flog, und die kokette Locke unter dem Südwester flatterte in Wind und Sonne.

»Das ist keine Arbeit für Männer«, lachte sie, als sie die Unbeholfenheit sah, mit der er den Frühstückstisch improvisierte, und machte sich selbst daran, alles herzurichten. Dabei betrachtete sie aufmerksam Teller und Besteck und steckte ihr Näschen in alle die appetitlichen Metallschüsseln, äußerte aber kein Wort. Erst als sie beim Essen waren, begann sie anerkennend mit den vollen roten Lippen zu schnalzen.

»Sie müssen bei Ihrer Wirtin ausgezeichnet aufgehoben sein«, meinte sie mit einem gewissen Neid in der Stimme. »Wo wohnen Sie eigentlich?«

Er nannte kurz das Haus in Kennington, aber Clarisse hörte nur mit halbem Ohr zu und nahm, während sie es sich schmecken ließ, eine gründliche Untersuchung des Tafelzeugs vor.

»Jedes Stück aus Silber mit einem Monogramm«, konstatierte sie bewundernd. »Sogar die Gläser. Gibt Ihre Wirtin jedem Mieter für einen Ausflug einen so kostbaren Eßkorb und so einen delikaten Imbiß mit?« fragte sie naiv.

Wellby blickte sie erst mißtrauisch an, dann brach er in ein belustigtes Lachen aus.

»Jawohl«, erklärte er. »Ich glaube, daß heute ungefähr vier bis fünf solcher Körbe unterwegs sein dürften.«

»Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mann mit einem so ehrlichen Gesicht so unverfroren lügen könnte.«

Sie gerieten in immer übermütigere Laune, und Clarisse konnte sich an herausfordernden Neckereien nicht genug tun.

»Was arbeiten Sie nun eigentlich bei der Zeitung?« fragte sie plötzlich. »Ruhen Sie noch immer auf den Lorbeeren aus, die Sie mit dem Fall Morton eingeheimst haben?«

»Jawohl«, sagte er nach einer kleinen Pause und sah sie dabei so seltsam an, daß sie sich plötzlich beklommen fühlte. »Dabei sammle ich aber Kräfte für eine neue große Tat.«

»Was soll das werden?« forschte sie und versuchte unbefangen zu lächeln.

»Die Geschichte der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen«, gab er leichthin zurück und blickte angelegentlich der Zigarette nach, die er ins Wasser schleuderte, so daß ihm die Wirkung seiner Worte auf Miss Avery entging. Sie zuckte wie unter einem Schlag zusammen und starrte ihr Gegenüber fassungslos an. Erst nach einer geraumen Weile hatte sie sich so weit in der Gewalt, daß sie wieder sprechen konnte, aber ihre Stimme klang plötzlich unsicher und spröde.

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich werde es Ihnen erklären. Ich kenne nämlich den eigentlichen Grund für das plötzliche Auftauchen der ›Königin der Nacht‹. Das heißt«, verbesserte er sich rasch, »noch nicht ganz genau, aber ich vermute ihn. Ich habe Aufzeichnungen, die in dieser Hinsicht gewisse Schlüsse zulassen.«

Sie hörte ihm mit ängstlicher Spannung zu und war verzweifelt, daß sie alle Einzelheiten aus ihm herausholen mußte.

»Aufzeichnungen? Von wem?«

»Von Benjamin Cartwright. Es ist eine Stelle aus seinem Tagebuch, die er offenbar damals unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse geschrieben hat. – Aber interessiert Sie die Sache überhaupt?« fragte er höflich.

Sie nickte krampfhaft, und er entnahm seiner Tasche ein Notizbuch und begann darin zu blättern.

»Am besten ist es, ich lese Ihnen die Geschichte vor«, sagte er eifrig. »Sie können sich dann selbst ein Urteil bilden.«

Dann begann er in dem geheimnisvollen Tonfall eines Märchenonkels: »In einer Nacht beim Brunnen der sieben Palmen spielten sich Dinge ab, die mir bis heute ein Rätsel geblieben sind. Ich habe Osborn, Selwood und Bryans wiederholt darüber befragt, aber sie antworteten mir immer ausweichend. Ich war damals durch ein tropisches Fieber so geschwächt, daß ich mich nach dem anstrengenden Tagesmarsch nicht von meinem Lager rühren konnte, und dem armen Morton ging es nicht viel besser. Nur die drei anderen kannten keine Müdigkeit. Kaum hatten wir knapp vor Sonnenuntergang die Zelte aufgeschlagen, als es sie schon wieder hinaustrieb. Wir hatten auf der letzten Strecke unseres Weges Großwild gespürt, und sie wollten es aufstöbern. Es wurde sehr spät, bevor sie zurückkehrten, aber sie kamen ohne Beute und waren sehr wortkarg. Bald darauf ging alles zur Ruhe, aber um Mitternacht gab es vor dem Lager plötzlich einen wilden Lärm, und gleich darauf fielen Schüsse. Ich versuchte mich zu erheben, um nachzusehen, was los sei, kam aber nur bis vor das Zelt, wo meine Füße versagten. Ich fiel Morton in die Arme, der auch herausgeeilt war, und er hatte Mühe, mich auf mein Lager zurückzubringen. Endlich erschien Osborn und teilte uns ziemlich erregt mit, daß wahrscheinlich ein Überfall auf unser Lager beabsichtigt gewesen sei, den er aber mit Selwood und Bryans abgeschlagen habe. Es sei aber nicht geraten, länger zu bleiben, und er habe daher den Befehl zum sofortigen Aufbruch gegeben. Tatsächlich wurden auch bereits alle Vorbereitungen für den Weitermarsch getroffen, und Morton und ich bemerkten, daß die Eingeborenen eine geradezu fieberhafte Hast entwickelten. Sie zeigten plötzlich eine Scheu, die wir an ihnen bisher noch nie beobachtet hatten, und als wir der Sache nachgehen wollten, begegneten wir überall einem verlegenen Schweigen. Nur einer von ihnen ließ sich zu einer geheimnisvollen Andeutung herbei, die wir aber nicht verstanden. ›Es war die Königin der Nacht‹, flüsterte er erschauernd. ›Sie steht unter dem Schutze Allahs und des Propheten, aber man hat gegen sie die Hand erhoben, und das bringt Verderben.‹ – Mehr war weder jetzt noch später herauszubekommen, und Osborn führte die Andeutung auf die rege Phantasie und die Geisterfurcht unserer Leute zurück. In Wirklichkeit habe es sich um irgendwelches Raubgesindel gehandelt, das wohl eine günstige Gelegenheit für einen Überfall zu finden glaubte, aber durch die Schüsse, die er abgegeben habe, verscheucht worden sei. – Seine Erzählung schien mir trotz ihrer Einfachheit nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen, aber ich mußte sie glauben, da ich nie eine andere Erklärung für diese rätselhafte Episode erhalten habe . . .

Das steht in dem Tagebuch Benjamin Cartwrights«, schloß Wellby, indem er seine Aufzeichnungen in die Tasche steckte. »Was meinen Sie zu der Geschichte, Miss Avery?«

Sie schreckte wie aus einem Traum auf, und ihre Augen wanderten unruhig hin und her.

»Sie klingt sehr seltsam«, brachte sie endlich leise und stockend hervor und stellte dann eine hastige Gegenfrage. »Welchen Zusammenhang glauben Sie zwischen diesen Aufzeichnungen und dem Wiederauftauchen der ›Königin der Nacht‹ gefunden zu haben? Ich meine die gewissen letzten Fälle . . .«

Er hielt ihr sein abgenütztes Zigarettenetui hin, und sie griff mit zitternden Fingern zu.

»Ich glaube«, sagte er bedächtig, nachdem er ihre und seine Zigarette in Brand gesetzt hatte, »daß damals wirklich so etwas wie eine ›Königin der Nacht‹ vor dem Lager erschienen ist. Eine Person, die die Eingeborenen so nannten, aus irgendwelchem nebensächlichen Grund. Und zwar denke ich, daß sie wegen einer Sache gekommen war, die sich abgespielt haben muß, während Osborn, Selwood und Bryans außerhalb des Lagers herumstreiften. – Hier liegt für mich das Rätsel. Denken Sie darüber nach, Miss Avery, und helfen Sie mir.«

Sie lachte gezwungen und zuckte mit den Schultern.

»Wie könnte ich das? Wenn Sie selbst nicht daraus klug werden . . .

»Oh, ich habe mir bereits eine Ansicht gebildet«, meinte er leichthin, »aber ich weiß nicht, ob sie zutrifft. Ich nehme an, daß der ›Königin der Nacht‹ irgend etwas Schlimmes zugefügt worden war und daß sie zum Lager kam, um ihr Recht zu suchen. Man hat sie aber mit Schüssen empfangen und verjagt. – Erst zwölf Jahre später ist sie dann durch Zufall in einem anderen Erdteil wieder auf die Männer vom Brunnen der sieben Palmen gestoßen, und Cartwright und Morton sind ihre ersten Opfer geworden – obwohl sie völlig unschuldig waren . . .«

»Das ist nicht wahr . . .!«

Die Worte gellten wie ein verzweifelter Schrei über das Wasser, und Clarisse Avery war so heftig aufgeschnellt, daß sie aus dem Boot gestürzt wäre, wenn Wellby sie nicht im letzten Augenblick aufgefangen hätte. Sie lag sekundenlang schwer atmend in seinen Armen, und es war ihm, als ob ein mühsam unterdrücktes Schluchzen ihren ganzen Körper erschüttere. Aber plötzlich machte sie sich mit einer raschen Bewegung frei und glitt auf die Bordwand nieder.

»Sie haben sich zu sehr übernommen«, meinte er unbefangen und herzlich. »Für das erste Mal war es doch etwas zu viel. Ruhen Sie sich nun ordentlich aus, bis Sie sich wieder kräftig fühlen. Wir können auch das Segeln ganz sein lassen; schon der Aufenthalt auf dem Wasser ist ja eine Erholung.«

»O nein«, wehrte sie mit einer müden Geste und einem gezwungenen Lächeln hastig ab. »Wir fahren natürlich wieder aus. Sie brauchen auf mich gar keine Rücksicht zu nehmen. Ich fühle mich bereits wieder völlig wohl. Es muß die ungewohnte Sonne gewesen sein«, erklärte sie verlegen und wandte ihm ihre dunklen Augengläser zu, aber er schien die Szene bereits vergessen zu haben und beeilte sich, das Boot in den Wind zu bringen.

Sie übernahm wieder das Steuer, aber ihre übermütige Lebhaftigkeit war verschwunden. Sie saß in ihrer alten schlechten Haltung teilnahmslos am Heck und war nicht mehr bei der Sache, so daß Wellby Mühe hatte, in glatter Fahrt zu bleiben.

Plötzlich hob er überrascht den Kopf und spähte aus halbgeschlossenen Augen über das Wasser. Ein klobiges Boot mit einem entsetzlich ratternden Außenbordmotor hatte bereits früher zweimal seinen Kurs gekreuzt, und da es eben wieder durch sein Kielwasser geknattert war, hatte es seine Aufmerksamkeit erregt. Die beiden Insassen waren offenbar betrunken, denn sie lavierten unter lautem Johlen auffallend unbeholfen und rücksichtslos, und wiederholt hatte es den Anschein, als ob sie im nächsten Augenblick eines der vielen Fahrzeuge, die den Strom bevölkerten, überrennen würden.

Der Reporter sah diesem Treiben eine Weile aufmerksam zu und zog dann plötzlich mit einem eigentümlichen Lächeln einen seltsam geschnittenen scharlachroten Wimpel am Mast auf. Sie befanden sich ziemlich weit von der Bucht inmitten des Flusses, und er ließ das Boot abfallen, um näher an das Ufer zu gelangen. Das Manöver währte einige Minuten, und bevor es noch ganz ausgeführt war, war auch schon wieder der Lärm des verrückten Bootes zu vernehmen. Es war zwar noch etwa einen halben Kilometer entfernt und schoß, von lauten Verwünschungen begleitet, ungeschickt hin und her, aber seitdem Wellby in einem der Insassen einen seiner Verfolger vom Morgen erkannt hatte, ahnte er, was kommen würde.

»Können Sie schwimmen, Miss Avery?« fragte er ernst.

Sie sah ihn überrascht an und zögerte mit der Antwort, aber er wurde plötzlich sehr ungeduldig.

»Sagen Sie es mir aufrichtig, damit ich weiß, was ich zu tun habe. – Können Sie schwimmen?«

»Ja«, kam es verständnislos, aber entschieden zurück.

»Gut?«

»Sehr gut sogar.«

Er nickte befriedigt und wandte den Kopf nach dem Boot, das nun freies Fahrwasser hatte und rasch näher kam.

»Wir werden vielleicht ein unfreiwilliges Bad nehmen müssen«, erklärte er lächelnd. »Es sieht ganz so aus, als ob die Burschen uns rammen wollten. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie darauf vorbereitet sind. Vorläufig ist es noch nicht soweit, und wenn wir Zeit gewinnen, kann alles noch anders kommen.«

Er lächelte grimmig, sah nach dem heranklappernden Fahrzeug und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bucht.

»Haben Sie keine Angst und achten Sie genau auf meine Weisungen.«

Das Mädchen am Steuer saß mit einem Male wieder kraftvoll aufgerichtet und blickte nun ebenfalls aufmerksam auf das lärmende Boot, das eben an ihnen vorüberschoß. Es hielt eine Strecke geradeaus, schlug dann einen Bogen gegen das Ufer und kam hierauf in torkelndem Kurs wieder zurück. Plötzlich schien am Motor etwas nicht in Ordnung zu sein, denn er stampfte lärmender denn je und setzte dann aus, worauf die beiden Insassen sich an ihm zu schaffen machten.

Aber Wellby ließ sich nicht täuschen. Er ahnte, daß nun der entscheidende Augenblick gekommen war, und während er das große Segel herumriß, raunte er dem Mädchen zu, wieder gegen die Flußmitte zu halten.

Das prächtige Fahrzeug stieß wie ein flinker Fisch in den neuen Wind, aber im selben Augenblick war auch drüben der Motor wieder zu Atem gekommen und begann ein wütendes Geklapper. Der alte Kahn schoß ruckweise vorwärts, und sein Steuermann schien nun völlig den Kopf verloren zu haben, denn er führte die tollsten Dinge aus. Was an Booten in der Nähe war, suchte schleunigst das Weite, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden, aber die kleine Segeljacht mit dem roten Wimpel kam bald in eine gefährliche Lage. Sooft sie auch den Kurs änderte, immer hielt der klobige Kasten gegen ihre Breitseite und kam näher und näher.

»Springen Sie vom Heck ins Wasser, wenn ich Ihnen das Zeichen gebe«, sagte Wellby hastig. »Möglichst weit, damit Sie nicht in die Leinen geraten. Ich werde mich schon um Sie kümmern.«

Seine Stimme und seine Blicke verrieten, wie besorgt er war, aber Clarisse beruhigte ihn durch ein tapferes Lächeln. Sie hatte plötzlich wieder frische Wangen, und die Sache schien ihr so viel Spaß zu machen, daß sie ihren Humor wiederfand.

»Was wird Ihre Wirtin sagen, wenn Sie ohne den kostbaren Eßkorb nach Hause kommen?« fragte sie, und er lachte erleichtert auf, als er hörte, daß sie in diesem Augenblick keine anderen Sorgen hatte.

Der Zusammenstoß konnte jede Minute erfolgen, denn die beiden Männer ließen nun an ihrer Absicht keinen Zweifel mehr, und Wellby unternahm einen letzten Versuch, ihnen zu entkommen. Er gewann auch wieder einigen Vorsprung, aber plötzlich ließ er das Boot abfallen, hockte sich gemächlich nieder und starrte mit einem schadenfrohen Lächeln auf seine Verfolger, die offenbar das Spiel bereits für gewonnen hielten. Sie steckten die glühenden Köpfe zusammen und überlegten nur noch, wie die Sache möglichst unauffällig und geschickt zu machen war. Allem Anschein nach sollte das Boot mittschiffs breit angerannt und einfach umgekippt werden, ein Manöver, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und sie nicht darauf achten ließ, was sonst um sie vorging.

Ein kleines, schnittiges Motorboot war schon seit Minuten dicht hinter ihnen her, und als der klobige Kahn der zierlichen Jacht in die Rippen rennen wollte, bekam er steuerbord einen Puff, der sein Heck mitsamt dem brummenden Motor in die Tiefe sinken ließ. Auf dem Wasser trieb ein jämmerliches Wrack, und als das kleine Fahrzeug beidrehte, um zu sehen, was es angerichtet hatte, tauchten aus der Tiefe zwei triefende, prustende Köpfe auf. Zwei Männer reckten ihre sehnigen Arme aus dem Boot und faßten zu, nahmen sich aber nicht erst die Mühe, die beiden strampelnden Gesellen über Bord zu holen. Sie wurden in gemächlicher Fahrt an Land bugsiert, und hin und wieder verschwand einer der Köpfe für längere Zeit unter dem Wasser. Der eigenartige Transport ging unter zahlreicher heiterer Eskorte vor sich, denn man gönnte den Störenfrieden ihr Mißgeschick.

»Was sollte das alles bedeuten?« fragte Clarisse neugierig, denn sie glaubte in einem der Männer, die das Unheil angerichtet hatten, den großen, jungen Burschen erkannt zu haben, der ihnen ihr Boot zugewiesen hatte.

»Das sollte bedeuten, daß manche Leute schrecklich hartnäckig sind«, gab Wellby orakelhaft, aber höchst vergnügt zur Antwort. Aber dann wurde er plötzlich sehr ernst und sah sie mit einem langen, eindringlichen Blick an. »Und daß alle, die mit der ›Königin der Nacht‹ irgend etwas zu schaffen haben, nicht vorsichtig genug sein können, Miss Avery.«

Als sie nach einer Stunde in die Bucht einliefen, half ihnen der junge, kräftige Bursche fürsorglich aus dem Boot.

»Wie haben Sie die Leute herausgebracht?« fragte der Reporter lächelnd.

»Danke, gut, Sir«, erwiderte der Mann höflich. »Sie hatten zwar etwas viel Wasser geschluckt, aber wir haben sie auf den Kopf gestellt und ein bißchen gequetscht, damit das ungesunde Zeug wieder aus ihnen herauskommt.«

Clarisse Avery saß in dieser Nacht lange Stunden grübelnd und träumend und ließ die Erlebnisse des Tages an sich vorüberziehen. Aber lebhafter als alles, sogar mehr als die geheimnisvolle Geschichte der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen beschäftigte sie das Bild eines jungen Mannes mit angegrauten Schläfen und einem kühnen Gesicht, das ihr ebenfalls eine Fülle von Rätseln aufgab.


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