Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Als Clive Boyd nach langer Fahrt gegen Mitternacht in St. John's Wood von seinem Motorrad stieg, war er sehr zufrieden, daß er wieder einmal einer seiner plötzlichen Eingebungen gefolgt war.

Er hatte sich eigentlich an diesem Abend der Persönlichkeit Wellbys widmen wollen, aber als dieser Mann mit seiner seltsamen Begleiterin aus dem Restaurant bei der County Hall getreten war, hatte das Mädchen seine besondere Aufmerksamkeit erweckt. Es bildete zu der Erscheinung des Reporters ein krasses Gegenstück, daß sich dem Detektiv unwillkürlich die Frage aufdrängte, was die beiden wohl verband, und auch sonst gab es an ihr einiges, was ihm auffiel, während er anscheinend nur mit der Bändigung seines widerspenstigen Motors beschäftigt war. Er hatte dabei einige neugierige Zuschauer, aber deren Interesse und Ausdauer waren so aufdringlich, daß er bald weghatte, worum es sich handelte.

Wellby und das junge Mädchen hatten sich kaum dreißig Schritte entfernt, als die Leute den weißhaarigen Herrn im Stich ließen, aber da der Motor plötzlich zu laufen begann, konnte auch Boyd aufsitzen. Das Rad machte zwar noch Schwierigkeiten, und er kam immer nur eine kurze Strecke vorwärts, konnte aber dabei feststellen, daß es eine regelrechte Eskorte war, die hinter dem ungleichen Paar herschritt. Er kannte keines der Gesichter, und die Leute sahen auch gar nicht bedenklich aus. Es waren durchwegs große kräftige Burschen, und der breitspurige, wiegende Gang sagte dem Detektiv, wo er sie einzureihen hatte.

Unter solchen Umständen Wellby zu folgen, war eine schwierige Sache, und diese Einsicht veranlaßte Boyd zu dem Entschluß, lieber zunächst hinter dem Bus herzurattern, den das Mädchen bestiegen hatte. Es wurde eine umständliche Fahrt auf vielen Umwegen, aber als sich das Tor des stillen alten Hauses in Brompton hinter dem Auto geschlossen hatte, bedauerte der Detektiv nicht, sie gemacht zu haben. Die Begleiterin Wellbys war unbedingt eine ebenso interessante Persönlichkeit wie dieser selbst, und während Boyd den langen Weg von Brompton hinauf nach St. John's Wood fuhr, um sich wieder einmal nach dem ›Professor‹ umzusehen, gingen ihm die mannigfaltigsten Mutmaßungen und Schlußfolgerungen durch den Kopf.

Die Paradies-Bar lag im Kellergeschoß eines nüchtern aussehenden Geschäftshauses, und es wäre für einen Fremden schwer gewesen, den Weg dorthin zu finden. Man kam zunächst in einen spärlich erhellten Flur, mußte dann einen dunklen Hof überqueren, und erst hier kündete die erleuchtete Türscheibe, die von der Hand eines phantasievollen Malers mit Adam, Eva, dem gewissen Apfelbaum und einer schauerlichen Riesenschlange geschmückt war, daß man seinem Ziele nahe sei.

Boyd kannte die Gegend und ihre Sitten und schob daher sein Rad nicht nur bis in den dunklen Hof, sondern auch noch durch die Eingangspforte zum ›Paradies‹, wo in einem kleinen Vorraum ein Hausmeister von herkulischem Wuchs ihn mit kritischen Blicken empfing. Aber kaum hatte der Ankömmling die Kappe von dem schneeweißen Scheitel genommen, als die mißtrauischen Mienen des Riesen sich zu einem ehrerbietigen Grinsen verzogen, wie er es nur für die wenigsten Stammgäste seines Lokals übrig hatte. Er erhob seine zweihundertzehn Pfund mit einer gewissen Hast aus dem massiven Stuhl, um dem Besucher bei der Unterbringung des Rades zu helfen.

»Guten Abend, Sir. Sie sind lange nicht hier gewesen. Mrs. Emerson wird sich sehr freuen.«

Es war dies die längste Rede, die Denny seit erdenklicher Zeit gehalten hatte, und sie hatte ihn sehr angestrengt, aber er wußte, daß er diesem Gentleman besondere Höflichkeit schuldig war. Nicht bloß deshalb, weil Mrs. Emerson noch tagelang mit verträumten Augen umherging, wenn dieser Gast hier gewesen war, sondern auch, weil dieser weißhaarige Herr, der kaum hundertfünfzig Pfund wiegen mochte, Dinge konnte, die selbst ihm, Denny, der doch im Ring der Schwergewichtler manchen auf die Schulter gelegt hatte, gewaltig imponierten. So vermochte dieser unscheinbare Mann mit seinen feinen weißen Händen ein Silberstück glatt entzweizubrechen, mit den Zähnen einen Stuhl aufzuheben und mit seiner Faust Schläge auszuteilen, gegen die kein Kraut gewachsen war. Denny selbst war Zeuge gewesen, wie Mac Potter, der berüchtigtste Raufbold und Messerstecher Londons seit Menschengedenken, von ihm einen solchen Hieb unter das Kinn erhalten hatte, daß er melancholisch alle Vorderzähne ausgespuckt hatte und dann wie ein Sack zu Boden gefallen war. Seit jenem Tag war der weißhaarige Herr in der Paradies-Bar eine Persönlichkeit, der die Stammgäste mit außerordentlichem Respekt begegneten, und wenn ein Neuling auch nur eine harmlose Frage nach diesem Besucher tat, so wurde er wohlwollend aufmerksam gemacht, sein Gebiß nicht unnütz in Gefahr zu bringen.

Boyd legte den wasserdichten Mantel ab, unter dem er einen tadellosen dunklen Anzug trug, und machte sich vor dem kleinen Spiegel sorgfältig zurecht.

»Großer Betrieb heute?« fragte er Denny, der ihm behilflich war.

»Wie immer«, flüsterte der ehemalige Ringkämpfer mit strahlendem Gesicht, und als Boyd die schmale Treppe hinabgestiegen war und von der Schwelle aus den Raum überblickte, fand er, daß der Portier nicht zu viel gesagt hatte. Die kleinen Logen und der Bartisch waren dicht besetzt, und in der Mitte der Diele tanzten ungefähr zwölf Paare. Es war dasselbe Bild, das alle anderen Vergnügungsstätten dieser Art boten, und beim Anblick dieser gutgekleideten Männer und Frauen, die sich tadellos benahmen, wäre niemand auf die Vermutung gekommen, daß die Paradies-Bar das bevorzugte Lokal der Größen der Londoner Verbrecherzunft war.

Der Detektiv kannte so ziemlich alle Gesichter und wußte, was jeder dieser harmlos aussehenden Herren und jede dieser eleganten, koketten Damen auf dem Kerbholz hatte, und er berechnete lächelnd, daß diese illustre Gesellschaft insgesamt wohl auf mindestens zweihundert Jahre Gefängnis zurückblicken konnte. Von dem kleinen Kreis, dem eigentlich sein heutiger Besuch galt, gewahrte er aber zu seiner Enttäuschung niemanden, und als er den schmalen Gang hinter den offenen Logen langsam entlangschritt, sagte er sich, daß er entweder zu früh oder überhaupt vergeblich gekommen war.

So unauffällig Boyd seinen Auftritt auch vollzogen hatte, war er doch nicht unbemerkt geblieben. Sogar die tanzenden Paare wandten den Kopf nach dem eleganten weißhaarigen Herrn, der zwar hier kein Fremder war, dessen Erscheinen aber immer ein Ereignis bedeutete. Man wußte bis heute nicht genau, ob er zum eigenen oder zum feindlichen Lager gehörte, aber alle diese schweren Jungen hatten instinktiv das Gefühl, daß sie sich nicht mit ihm messen konnten. Nicht nur wegen seiner unangenehmen Schlagfertigkeit, sondern vor allem, weil die Vornehmheit und Ruhe, die an den Tag zu legen ihnen oft so schwerfiel, bei ihm echt waren.

Das fand auch Mrs. Emerson, und deshalb hatte sie Boyd eine Sonderstellung unter ihren Gästen eingeräumt. Wenn er kam, erschien sie selbst in der Bar, die sie sonst nur von ihrem Büro aus leitete, und das war dann auch für die anderen Gäste stets ein besonderes Ereignis. Denn die schöne, schlanke Frau mit den wunderbaren Augen war für diese hartgesottene Gesellschaft eine Erscheinung aus einer anderen Welt, und wehe dem, der gewagt hätte, ihr irgendwie nahezutreten. Selbst die Damen mußten sich hüten, eine anzügliche Bemerkung über Mrs. Emerson zu äußern, da sonst ihre Kavaliere böse wurden.

Boyd hatte noch nicht das Ende des Saales erreicht, als ihm die Besitzerin auch schon mit einem herzlichen Lächeln entgegenkam.

»Ich dachte schon, Sie würden sich überhaupt nicht mehr sehen lassen«, begrüßte sie ihn, und das wehmütige Lächeln um ihren Mund sagte ihm, wie nahe ihr das gegangen wäre. »So lange sind Sie noch nie ausgeblieben. Volle fünf Wochen und drei Tage.«

Sie errötete wie ein junges Mädchen, weil er sie so überrascht anblickte, und ließ es gerne geschehen, daß er ihre Hand in der seinen behielt, während sie weiterschritten.

»Daran sind die dummen Geschäfte schuld«, sagte er etwas verlegen. »Aber wenn ich gewußt hätte . . .«

Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern drängte ihn in eine Loge, die eben von einigen Gästen geräumt wurde. Man fand es selbstverständlich, daß Mrs. Emerson in ihrem Etablissement einen guten Platz beanspruchen konnte, und rechnete es sich zur besonderen Ehre an, ihr ihn abtreten zu dürfen.

»Die Sache macht sich, wie ich sehe«, meinte der weißhaarige Herr, indem er in den überfüllten Raum blinzelte, wo die teuersten Getränke serviert wurden.

Die hübsche Frau hob mit müdem Lächeln die Schultern.

»Oh, darüber kann ich wirklich nicht klagen. Aber ich wünschte, daß . . .« Sie vollendete nicht, sondern sah mit einem traumverlorenen Blick an ihm vorüber.

»Haben Sie gute Nachrichten von Ihrer Tochter?« fragte er mit warmer Anteilnahme, und sie wurde plötzlich sehr lebhaft.

»Danke, ja. Das Kind schreibt mir begeisterte Briefe, und es ist mir eine Beruhigung, sie in so guter Hut und in einer solchen Umgebung zu wissen.«

Boyd hatte etwas für diese seltsame Frau übrig, sogar mehr als seinen Beziehungen dienlich war. Es verging kein Tag, an dem es ihn nicht nach St. John's Wood gezogen hätte, aber er war ein korrekter, nüchterner Mann, der den Verhältnissen Rechnung trug. Je mehr Zwang er sich auferlegen mußte, desto näher ging ihm das Schicksal dieser stillen, feinen Frau, die die grausame Ironie des Lebens zur Inhaberin einer Verbrecherbar gemacht hatte. Nach dem Tode ihres Gatten, der in Flandern gefallen war, hatte Mrs. Emerson nach einer Gelegenheit gesucht, die ihr und ihrem Kind einen Lebensunterhalt bieten konnte, und in ihrer Unerfahrenheit war ihr die Paradies-Bar als diese Gelegenheit erschienen, deren Erwerb sie mit ihren bescheidenen Mitteln gerade noch erschwingen konnte. Hier hatte sie dann, in ihren Hoffnungen betrogen und an der Zukunft verzweifelnd, monatelang vor leeren Tischen gesessen, bis eines Nachts eine Bande nach einem glücklichen Raubzug in dieses leere, stille Lokal eingefallen war. Die Leute fanden hier alles, wie sie es wünschten, und wie auf ein geheimes Losungswort kam ein Gast nach dem anderen plötzlich die enge, steinerne Treppe herunter, und zuweilen hatte sie Mühe, für die Menge der Besucher Platz zu schaffen.

Es währte lange, bis sie zu der erschreckenden Erkenntnis kam, welchen Kreisen die Gäste angehörten. Erst als die Polizei einmal mit drohenden Revolvern im Eingang stand und die so harmlos aussehenden Herren und sogar einige ihrer eleganten Begleiterinnen etwas betreten, aber mit sichtlicher Übung, gehorsam die Hände erhoben, wurde ihr dies klar.

Von diesem Tag datierte ihre nähere Bekanntschaft mit dem liebenswürdigen weißhaarigen Herrn, der, einsam und nachdenklich wie immer, an einem der Tische gesessen und gleich den übrigen rasch die Hände hoch genommen hatte. Als zwei der Gentlemen abgeführt worden waren und ein grimmiger Polizeioffizier die an allen Gliedern zitternde Barinhaberin in ihrem Büro sehr unsanft ins Gebet nahm, steckte der Herr plötzlich den Kopf herein und hatte mit dem Beamten eine längere leise Unterredung, worauf man Mrs. Emerson mit einem Male viel rücksichtsvoller und netter behandelte.

Für die völlig verstörte Frau bedeutete diese Episode einen furchtbaren Schlag, aber wenn sie nicht alles, was sie besaß, aufs Spiel setzen wollte, konnte sie nicht mehr zurück. Sie tat nach wie vor so, als ob sie nicht wüßte, wer ihre Gäste seien, und diese machten ihr das leicht, denn sie benahmen sich korrekt, und wer gerade einen kritischen Konflikt mit der Polizei hatte, vermied es um Mrs. Emersons und der übrigen Gesellschaft willen, die Paradies-Bar aufzusuchen. Nur Mac Potter hatte sich nicht daran gehalten und war erschienen, obwohl man ihm dicht auf den Fersen war, und im letzten Augenblick hatte er auch noch den Streit mit dem weißhaarigen Herrn begonnen, der für ihn so übel enden sollte.

Seither war es zu keinem Zwischenfall mehr gekommen, aber Mrs. Emerson konnte den Augenblick nicht erwarten, wo sie dieses gefährliche Geschäft ohne Schaden losschlagen konnte. Nun schien diese Möglichkeit nahe, und sie überlegte, ob sie ihrem Gast davon Mitteilung machen sollte. Er war der einzige, den sie in ihre Privatverhältnisse einigermaßen eingeweiht hatte, und schließlich hatte er sogar ein gewisses Recht darauf, von der Sache zu erfahren, denn sonst konnte es geschehen, daß er sie überhaupt nicht mehr hier antraf, wenn er wieder einmal längere Zeit ausblieb . . .

Mrs. Emerson begann bei diesem Gedanken schwer zu schlucken.

»Ich werde vielleicht schon demnächst verkaufen«, flüsterte sie ihm vertraulich zu und beobachtete mit einem schüchternen Blick, wie er diese Nachricht aufnehmen würde.

Er schien gar nicht überrascht, sondern nickte nur, aber dann sah er sie forschend an. »Nichts übereilen, Mrs. Emerson«, meinte er eindringlich. »Nur wenn das Angebot gut und das Geld wirklich sicher ist, würde ich Ihnen dazu raten. Sonst warten Sie lieber noch zu.«

»Man bietet mir eine große Summe«, vertraute sie ihm mit wichtiger Miene an. »Viel mehr, als ich je zu bekommen hoffte.«

»Wer?«

»Der Professor.«

Boyd lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nippte bedächtig an seinem Cocktail. »Der Professor«, wiederholte er mechanisch. »Ich habe mich schon gewundert, ihn nicht hier zu sehen. Er war doch sonst täglicher Gast.«

»Das ist er noch, aber er kommt jetzt immer erst spät. Er scheint sehr viele Geschäfte zu haben.«

»Wissen Sie etwas davon?«

Sie beantwortete die gleichgültig klingende Frage mit einem zögernden Achselzucken und sah sich eine Weile im Lokal um. Dann beugte sie sich plötzlich über den Tisch, und während ihre Finger glättend über das Tuch strichen, flüsterte sie: »Man hat ihn im Verdacht, daß er mit der ›Königin der Nacht‹, wie sie sie nennen, in Verbindung steht. Ich kümmere mich zwar nicht um das, was hier gesprochen wird, aber manches dringt doch zu mir. Besonders wenn es die Leute so beschäftigt wie diese Sache. Fast jede Woche gibt es einen neuen Fall, der sie in Angst und Schrecken versetzt.«

Der weißhaarige Herr zog bedächtig seine Zigarettendose heraus und bot Mrs. Emerson höflich eine Zigarette an.

»Da muß es sich allerdings um etwas ganz Außergewöhnliches handeln.«

»Gewiß«, bestätigte sie, und man merkte kaum, daß sie die Lippen bewegte. »Niemand vermag sich zu erklären, wie es dabei zugeht, und das verbreitet eine lähmende Furcht. Wenn wieder etwas geschehen ist, herrscht hier manchmal stundenlang Totenstille, und die einzelnen Gruppen stecken die Köpfe zusammen wie die Schafe bei einem Gewitter.«

Für Boyd waren das interessante und äußerst wichtige Neuigkeiten, aber er wußte sich zu beherrschen.

»Hat Ihnen der Professor bezüglich der Kaufsumme irgendwelche Garantien geboten?« fragte er abschweifend.

»Jawohl. Er will mit mir bei einem Anwalt, den ich mir wählen kann, einen regelrechten Kaufvertrag machen und bei der Unterschrift den Betrag bar bezahlen. Wir sind bereits völlig einig, und es liegt nur an mir, das letzte Wort zu sprechen.«

Der Detektiv strich sich nachdenklich über das glatte Kinn.

»Tun Sie es bald, Mrs. Emerson. Am besten schon morgen oder spätestens übermorgen.«

Sie sah ihn betroffen an.«

»Weshalb?«

»Weil er sich die Sache vielleicht überlegen könnte oder . . .« Der weißhaarige Herr vollendete nicht, sondern stieß den Rauch seiner Zigarette umständlich aus. »Jedenfalls tun Sie, wie ich Ihnen rate. Sie sind damit das Geschäft, das doch nicht zu Ihnen paßt, glücklich los und haben genügend Mittel, um etwas anderes beginnen zu können.«

Sie nickte lebhaft und blickte ihn dankbar an.

»Sie haben recht, und ich werde Ihnen folgen. Der Professor wird ja gewiß heute wieder darauf zu sprechen kommen, und ich werde ihm also endgültig zusagen. Das wird das beste sein, denn bei der Stimmung, die gegen ihn herrscht, ist es möglich, daß ihm eines Tages etwas widerfährt, und dann hätte ich wirklich das Nachsehen.«

»Was hat er verbrochen?« fragte Boyd harmlos.

»Nun, eben wegen der ›Königin der Nacht‹«, erklärte sie im Flüsterton. »Man behauptet, daß er für sie die Gelegenheiten ausspioniert. Das ist ihm ja bei seinem Verkehr ein leichtes. Und dann hat sie nur den Leuten ihre Beute abzunehmen.«

Er sah sie mit einem verständnislosen Kopfschütteln an, und die hübsche Frau geriet in Eifer.

»Das geht nun schon einige Monate so. Haben Sie vielleicht von dem Raub in der City Bank gehört?«

»Flüchtig«, bemerkte er leichthin.

»Sehen Sie, das war einer der ersten Fälle, aber man ist erst viel später auf die seltsamen Zusammenhänge aufmerksam geworden. Die Polizei wußte die längste Zeit nicht, wer den Einbruch verübt hatte, den Leuten hier war es jedoch bekannt, und man wunderte sich, daß die drei Täter plötzlich spurlos verschwunden waren. Und als eines Nachts irgendwer die Nachricht brachte, daß die Burschen aus der Themse gezogen worden seien, war das Rätsel noch größer. Was war geschehen und wo war die Beute geblieben? Ich glaube, es waren an dreißigtausend Pfund. Man zerbrach sich darüber lange den Kopf, bis die zweite Sache kam. Der rote John und noch einer hatten einen Juwelierladen in Belgravia ausgeplündert, aber als sie sich mit vollen Taschen davonmachen wollten, trat ihnen plötzlich eine maskierte Gestalt mit einer Mondsichel und drei Sternen auf der Stirn in den Weg, machte eine rasche Bewegung mit dem Arm, und John stürzte, wie vom Blitz getroffen, zu Boden. Sein Begleiter aber bekam es so mit dem Entsetzen zu tun, daß er davonlief. Er hat dann die Geschichte überall herumerzählt, und seither ist die ›Königin der Nacht‹ der Schrecken der ganzen Londoner Unterwelt. Die Leute trauen sich nicht mehr etwas Größeres zu unternehmen, weil sie nicht nur für die Beute, sondern auch für ihr Leben fürchten müssen. Die ›Königin der Nacht‹ soll wie ein Schatten auftauchen und ebenso rasch wieder verschwinden, und die Angst vor ihr ist so groß, daß schon wiederholt Einbrecher alles von sich geworfen und die Flucht ergriffen haben, weil sie den Schleier mit der Mondsichel und den drei Sternen zu erblicken glaubten.«

»Und warum bringt man gerade den Professor mit diesen Geschichten in Verbindung?« wollte Boyd wissen, aber Mrs. Emerson konnte darauf keine bestimmte Antwort geben.

»Das vermag ich nicht zu sagen. Ich merke nur, daß man ihm in der letzten Zeit sehr mißtrauisch begegnet. Selbst die leiseste Unterhaltung verstummt, wenn er das Lokal betritt. Das war früher nicht so. Er hat im Gegenteil hier immer das große Wort geführt, und jeder hat sich an seinem Tisch Rat geholt.« Sie sah den weißhaarigen Herrn mit ihren großen schönen Augen vielsagend an. »Er soll ja in gewissen Dingen sehr geschickt sein. – Nun sitzt er meistens allein oder mit einigen seiner Kreaturen und schneidet der übrigen Gesellschaft höhnische Grimassen. Er weiß offenbar, daß man etwas gegen ihn hat, kümmert sich aber nicht darum. Er reizt sogar die Leute noch, indem er herausfordernde Bemerkungen macht und mit dem Geld nur so um sich wirft. Man erzählt sich auch, daß er in Hackney ein kleines Haus gekauft haben soll, und dieser plötzliche Wechsel in seinen Verhältnissen, den man sich nicht erklären kann, hat wahrscheinlich den Verdacht auf ihn gelenkt. Ich glaube, man hätte ihm längst etwas angetan, wenn man ihn und die ›Königin der Nacht‹ nicht so fürchten würde.«

Mrs. Emerson war froh, daß sie endlich einmal mit jemandem von der Sache sprechen konnte, denn sie fühlte sich mehr beunruhigt, als sie sich selbst gestehen wollte. Die ganze Atmosphäre um sie herum war von einer kritischen Spannung erfüllt, und der geringste Anlaß konnte eine Entladung bringen.

Das sagte sich auch Boyd, und während er mit gleichgültiger Miene dasaß, überlegte er, was zu tun wäre, um die Frau davor zu bewahren, daß sie von der Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Dinge, die sie ihm erzählt hatte, waren für ihn weit weniger rätselhaft und überraschend, als sie sich anhörten. Sie bestätigten nur eine Vermutung, die er schon längst gehegt hatte, und er war auch überzeugt gewesen, in der Paradies-Bar irgendeinen Anhaltspunkt für die Richtigkeit seiner Annahme zu finden. Seitdem ihm Hanson, der große, dicke Mann, vor dem Cartwright-Haus aufgefallen war, ahnte er, daß dessen Chef, der ›Professor‹, die Hand irgendwie im Spiel hatte, und die Persönlichkeit Cummings', dieses entgleisten Genies, ließ ihn plötzlich in den geheimnisvollen Fällen der ›Königin der Nacht‹ viel klarer sehen. Was ihm noch an Zusammenhängen gefehlt hatte, ging aus dem aufgeregten Bericht der jungen Frau hervor. Boyd sah nach der Uhr.

»Glauben Sie, daß Cummings bald erscheinen wird?« fragte er. »Ich möchte Sie bei Ihrem Geschäft nicht stören, denn es ist wirklich sehr dringend.«

Der Nachdruck, mit dem er dies sagte, machte sie unruhig, und sie bemühte sich, in seinem Gesicht zu lesen, begegnete aber nur einem harmlosen Lächeln.

»Das läßt sich schwer sagen«, erwiderte sie. »Er kann jeden Augenblick hier sein, es kann aber auch noch eine Stunde vergehen. Er ist jetzt ziemlich unpünktlich.«

Sie hatte gehofft, daß ihn diese Bemerkung veranlassen würde, noch eine Weile zu bleiben. Aber Boyd enttäuschte sie. Er hatte ihr bereits die Hand gereicht und war im Begriff, das Lokal zu verlassen, als er plötzlich noch einmal zurückkam.

»Es wäre möglich, Mrs. Emerson«, meinte er leichthin, »daß Sie in den nächsten Tagen vielleicht eines Rates oder Beistandes bedürfen. Dann rufen Sie mich einfach an.« Er schrieb seine Telefonnummer auf den Rand einer Getränkekarte. »Sie können mich jederzeit erreichen. Wenn ich aber nicht zu Hause sein sollte, so sagen Sie der Person, die sich melden wird, nur ruhig, was Sie wünschen. Ich werde es dann raschestens erfahren.«

Er nickte ihr nochmals freundlich zu, und sie sah ihm mit verträumten Augen nach, bis er verschwunden war. Dann trennte sie die Nummer von der Karte und ging in ihr Kontor.

Der Detektiv war bereits in seinen Mantel geschlüpft, als er sich plötzlich entschloß, sein Motorrad in der Obhut Dennys zu lassen, um möglichst unauffällig aus dem Haus zu kommen. Schon auf dem dunklen Hof zeigte es sich, daß er gut daran getan hatte, denn als er von dem Flur des Vorderhauses her Schritte vernahm, konnte er sich bequem in einen Winkel drücken, um die Kommenden an sich vorüber zu lassen. Die beiden Männer machten wenige Schritte vor ihm halt, und obwohl er nur die Umrisse wahrzunehmen vermochte, wußte er doch sofort, wen er vor sich hatte.

»Tu, was du willst«, sagte der Kleinere gereizt, »aber komm mir nicht mit Drohungen. Du solltest doch schon wissen, daß das bei mir nicht verfängt. Hundert solche Burschen wie ihr bringen mich nicht ins Mauseloch. Was geht mich überhaupt die ganze Geschichte an? Ich habe dir und den anderen doch nur ein Geschäft zugeschanzt . . .«

»Ein schönes Geschäft«, knurrte sein großer, dicker Begleiter. »Ed hat es den Arm gekostet. Man hat ihn ihm gestern abgenommen. Und dafür verlangt er natürlich nun Schmerzensgeld und hält sich an mich. Es war ja wirklich auch ein Bettel, den wir für diese verdammte Geschichte bekommen haben.«

»Es war viel zuviel für eure Stümperei«, gab der andere höhnisch zurück, »und ich wünschte, Ed hätte den Hieb statt auf den Arm auf seinen albernen Schädel bekommen.«

»Mit fünfzig Pfund läßt sich die Sache aus der Welt schaffen«, drängte der Große. »Du weißt, wie es um dich steht, und ich an deiner Stelle möchte mir nicht noch mehr Feinde machen. Dabei soll es nicht einmal aus deiner Tasche gehen. Sage mir nur, wo der Mann, für den wir gearbeitet haben, zu finden ist. Ich werde alles selbst in Ordnung bringen. Daß wir nicht zufrieden sind, habe ich ihn schon wissen lassen, als wir nach der Geschichte an dem vereinbarten Ort zusammentrafen. Er hat auch versprochen, etwas zuzulegen, hat sich aber seither nicht mehr blicken lassen. Nun will ich ihn zu fassen kriegen, und du mußt mir dabei behilflich sein. Das bist du uns schuldig.«

Die schmächtige Gestalt ließ ein aufreizendes Lachen hören und machte einige Schritte gegen den Eingang zur Bar.

»Hol dich der Teufel mit deinem ›schuldig‹«, stieß er zwischen den Zähnen« hervor. »Wenn ich euch etwas schuldig bin, so eine gehörige Tracht Prügel, daß ihr euch so jämmerlich verhauen ließet. Feine Garde! Wenn ich mir ein paar alte Weiber zusammentrommle, so machen die es besser. Nur wenn es ums Geld geht, da seid ihr tüchtig. Aber wenn der Mann noch etwas herausrücken will, kann es mir recht sein. Du mußt ihn dir suchen, denn meine Kunden pflegen nicht ihre Visitenkarte mit der Adresse zu hinterlassen. Wenn du etwas mehr Grütze in deinem Riesenschädel hättest, könntest du dir das denken.«

Er stand bereits vor der erleuchteten Tür, und zwischen Adam, Eva und der Schlange erschien ein hageres Gesicht mit einem gepflegten dunklen Bart und tiefliegenden Augen.

»Und jetzt komm herein, aber nicht ein Wort mehr von dieser Sache. Ich habe genug davon.«

Der große, dicke Mann rührte sich nicht vom Fleck.

»Nein«, gab er trotzig zurück. »Es ist keine besondere Ehre mehr, sich mit dir zu zeigen. Man verdirbt sich's nur mit den andern. Und wenn du dich so gegen deine Leute verhältst, lohnt es sich nicht, deinetwegen etwas zu riskieren. Den gewissen Herrn aber werde ich auch ohne dich finden«, schloß er drohend und ging mit schweren Schritten davon.

»Viel Glück«, rief ihm der Schmächtige nach und griff nach der Türklinke, ließ jedoch plötzlich die Hand sinken und ging leise hinter dem anderen her.

Boyd heftete sich blitzschnell und wie ein Schatten an seine Fersen, aber kaum erreichte er das Vorderhaus, da sah er den ›Professor‹ vor dem Tor stehen und gespannt die Gasse hinaufspähen. Plötzlich zog er eine Taschenlampe hervor, knipste sie an, beschrieb damit dreimal einen geschlossenen Kreis in der Luft und stürzte dann so schnell ins Haus, daß der Detektiv sich kaum noch in Deckung bringen konnte.

Wenige Sekunden später schoß Boyd ins Freie, aber so sehr er auch alle seine Sinne anspannte, er vermochte nichts Auffälliges wahrzunehmen. Es war eine ziemlich helle Nacht, und die Gasse war nach der einen wie nach der anderen Seite gut auf etwa fünfzig Schritte zu überblicken.

Der Detektiv nahm die Richtung, in der Cummings das Signal gegeben hatte. Kurz darauf sah er auch den großen, dicken Mann vor sich herstapfen. Hanson befand sich eben im Lichtkegel einer Straßenlampe, und Boyd vermochte seine Umrisse und auch jede seiner Bewegungen genau wahrzunehmen. Der Mann ging mit weit ausgreifenden Schritten und bog eben um eines der vorgelagerten Häuser, als er plötzlich die Arme in die Luft warf, zu taumeln begann und in sich zusammenstürzte.

Boyd ahnte sofort, daß die ›Königin der Nacht‹ kaum fünfzig Schritte vor ihm wieder einmal ihre Arbeit getan hatte, aber er wußte auch, daß dieser Vorsprung zu groß war, um ihm irgendwelche Chancen zu geben.

Er ging daher im gleichen Tempo weiter, bis er auf den Toten stieß, den er flüchtig untersuchte und den Boden Zoll für Zoll ableuchtete. Dann schüttelte er ratlos den Kopf und ließ den Schein seiner Lampe auf die dunkle Ecke spielen, aus der der Tod über den Mann gekommen sein mußte. Aber die ›Königin der Nacht‹ pflegte keine Spuren zu hinterlassen, und Clive Boyd setzte mißmutig seine Polizeipfeife an die Lippen, um die Arbeit, die hier zu tun war, anderen zu überlassen.


 << zurück weiter >>