Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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13

»Mr. Bryans hat eine sehr schlechte Nacht gehabt«, erklärte der etwas schlampige Diener verlegen, indem er an seiner gestreiften Drillichjacke herumzupfte, »und ich weiß nicht, ob er zu sprechen sein wird.«

Die Osborns zählten zwar zu den wenigen Bekannten des Hauses, aber sein Herr befand sich wirklich in einem Zustand, daß ihm ein Besuch wohl kaum willkommen war.

»Machen Sie keine Geschichten und melden Sie uns«, sagte Osborn scharf und half seiner Frau aus dem Wagen. »Oder«, er blinzelte ihn mit einem vielsagenden Lächeln an, »ist er heute am Morgen schon so weit, wie sonst erst am Nachmittag?«

»Das nicht«, versicherte der Diener hastig. »Im Gegenteil, Mr. Bryans hat heute noch sehr wenig zu sich genommen. Viel weniger als sonst. Aber« – er war sichtlich verwirrt und ratlos –, »er benimmt sich sehr eigen und erzählt ganz konfuse Geschichten.«

Osborn sah den Mann forschend an und nagte eine Weile an den Lippen.

»Ist das so plötzlich gekommen?« fragte er endlich.

»Heute in der Nacht«, erklärte der Diener eifrig und war sichtlich froh, jemandem davon Mitteilung machen zu können. »Kurz nach Mitternacht hörte ich plötzlich einen furchtbaren Schrei aus dem Schlafzimmer des Herrn, und als ich hinstürzte, saß er aufrecht im Bett und starrte mit unheimlichen Augen um sich. Er muß über irgend etwas sehr erschrocken sein, denn er wollte nicht mehr allein bleiben, und ich mußte mich an sein Bett setzen. Nach einer Weile hat er mir dann geheimnisvoll zugeflüstert, daß die ›Königin der Nacht‹ bei ihm gewesen sei und daß sie wiederkommen werde. Er wisse auch, warum, könne sich aber nicht mehr so genau erinnern, doch werde er schon noch darauf kommen. Und plötzlich hat er dann angefangen, von Afrika zu erzählen, aber es war lauter unzusammenhängendes Zeug. Dazwischen schrie er immer wieder, daß er es nicht gewesen sei und daß er auch nicht geschossen habe, sondern ein ganz anderer. Er trieb es so arg, Sir, daß ich mich schließlich gefürchtet habe, und ich wollte schon einen Arzt rufen, aber plötzlich wurde Mr. Bryans wieder ganz ruhig und vernünftig, und ich habe es sein lassen, denn ich weiß, daß er furchtbar zornig wird, wenn man von einem Arzt spricht.«

William Osborn hatte mit gelbem, steinernem Gesicht zugehört, und nur die schweren Lider, die die verschleierten Augen halb bedeckten, hatten kaum merklich gezuckt.

»Gehen Sie also und sagen Sie Mr. Bryans, daß wir hier sind«, befahl er ruhig. »Und wenn Ihr Herr Mrs. Osborn nicht empfangen kann, so werde ich allein nach ihm sehen.«

Der Diener geleitete den Besuch in ein großes düsteres Zimmer zu ebener Erde, das nur notdürftig mit altem Möbelkram angefüllt und gerade kein würdiger Empfangsraum war. Das kleine Gut hatte das Schicksal so ziemlich aller Landsitze in der Umgebung Londons geteilt. Die wachsende Riesenstadt hatte allmählich den Grund und Boden für ihre Zwecke an sich gerissen, und nur die Baulichkeiten waren als unschöne und unnütze Überreste geblieben.

Als der Diener gegangen war, begann Osborn mit verkniffenen Mienen auf und ab zu wandern, und Helen wandte keinen Blick von ihm.

»Sie ist auch schon bei ihm gewesen«, hauchte sie endlich, und es schien, als ob sie nun doch einmal aus ihrem unerschütterlichen Phlegma aufgestört worden sei. Sie trippelte aufgeregt umher und trat dann zu dem vergitterten Fenster, das Ausblick auf einen holperigen Feldweg und eine spärliche Rasenfläche bot. Dann begann sie mit ihren gepflegten Nägeln auf den Scheiben einen wilden Marsch zu trommeln, der Osborn durch Mark und Bein ging.

»Laß das«, herrschte er sie an und hielt sich verzweifelt die Ohren zu. »Du bist wirklich nur dazu da, einem gerade in den unangenehmsten Augenblicken auf die Nerven zu fallen.«

Sie brach gehorsam ab und wandte sich um.

»Du mußt mich mitnehmen«, drängte sie. »Ich bin so schrecklich neugierig, zu hören, was es gegeben hat. Und du erzählst es mir nachher doch nicht. Wenigstens nicht so genau.«

Er machte jäh halt, und sein Blick ließ einen neuerlichen Ausbruch seiner üblen Laune fürchten, doch er zuckte nur mit den Achseln und murmelte: »Alberne Gans.«

Es dauerte ziemlich lange, bis der Diener zurückkehrte, aber dann kam er mit großer Eile und Lebhaftigkeit angestürzt.

»Mr. Bryans läßt bitten. Auch Madame. Er ist jetzt wieder ganz ruhig und vernünftig«, fügte er vertraulich hinzu, »und ich glaube, daß nichts mehr zu befürchten ist.«

Er führte die Gäste durch einen langen, muffigen Gang, der nur mit rohen, abgetretenen Ziegeln ausgelegt war, und öffnete dann eine schwere Tür, die in ein gewölbtes Gemach führte, das anscheinend das Speisezimmer war, denn es wies eine massive Anrichte auf und einen großen Tisch, der zum Teil mit einem fleckigen weißen Tuch bedeckt war. In einem riesigen Kamin brannten einige Holzscheite, und an den Wänden standen mehrere alte Truhen, die mit einigen wurmstichigen Kästen und einem alten, zerschlissenen Armsessel die gesamte Einrichtung bildeten. Trotz des sonnigen Frühjahrstages herrschte in dem unbehaglichen Zimmer ein beklemmendes Halbdunkel, da uralte Bäume gerade über das einzige Fenster tiefe Schatten warfen.

Erst nach einer Weile tat sich die Tür zu einem Nebenraum auf, und der Besitzer von Threecourts schob seine gedrungene Gestalt schwerfällig herein. Er war kaum mittelgroß, aber sehr umfangreich, und das Trinken hatte sein aufgedunsenes, unreines Gesicht mit einem dunklen, ungesunden Rot gefärbt.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie warten ließ«, stieß er unter Schnaufen mit einiger Verlegenheit hervor, »aber ich empfange so wenig Besuch, daß ich nicht darauf vorbereitet bin. Ich freue mich dann doppelt, wenn jemand zu mir kommt.«

Er machte eine einladende Handbewegung, die seine Gäste auffordern sollte, Platz zu nehmen, bemerkte aber plötzlich, daß eigentlich keine richtige Sitzgelegenheit vorhanden war und schleppte eigenhändig zwei Stühle an den Tisch.

»So, bitte. Ich bin etwas primitiv eingerichtet, und es sieht hier nicht zum besten aus«, fuhr er entschuldigend fort, »aber wir Männer verstehen das eben nicht anders.« Er wischte mit seinen etwas zittrigen Händen einige Male glättend über das schmierige Tischtuch und sah dann seine Gäste aus den verschwommenen Augen etwas schüchtern und erwartungsvoll an. »Darf ich Ihnen vielleicht eine kleine Erfrischung anbieten? Was ich eben im Hause habe«, fügte er bescheiden hinzu.

»Tun Sie das, lieber Freund«, sagte Osborn und klopfte dem kleinen, dicken Mann freundschaftlich auf die Schulter. Er wußte, was nun kommen würde, und es lag ihm daran, daß der andere in Stimmung geriet.

Bryans klatschte wie ein Pascha in die Hände, und der Diener schien nur auf dieses Zeichen gewartet zu haben, denn er stürzte schon in der nächsten Minute mit einem Tablett mit Flaschen und Gläsern herein. Die Augen des Säufers begannen begehrlich zu funkeln, und er machte sich mit unsicheren Händen daran, einzuschenken.

»Zu essen habe ich leider nichts im Hause«, meinte er mit einem verlegenen Blick auf Mrs. Helen, »denn ich halte darauf nicht sehr viel, und zu beschaffen ist hier nichts. Aber wahrscheinlich haben die Herrschaften auch schon gefrühstückt, und da schmeckt nachher ein kleiner Schluck ganz gut.«

Bevor noch seine Gäste ihre Gläser recht an die Lippen gesetzt hatten, hatte er das seine bereits in einem Zuge geleert und mit Hast auch schon wieder gefüllt.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Osborn unbefangen, indem er sich eine Zigarre anzündete. »Wenn man nicht zu Ihnen kommt, hört und sieht man ja überhaupt nichts von Ihnen.«

Bryans schüttelte mit einem resignierten Lächeln den Kopf.

»Nein. Allerdings nicht. Ich mache ja fast keinen Schritt aus dem Haus. Es geht auch so. Ich fühle mich dabei ganz wohl.« Er griff wieder nach dem Glas, das er hastig hinunterschüttete und neuerlich füllte. »Gewiß«, bekräftigte er fortfahrend und wischte sich mit dem Handrücken den ungepflegten blonden Bart. »Aber hie und da plaudere ich doch gern einmal von den alten Zeiten«, versicherte er lebhaft. »Von den schönen nämlich, die wir zusammen verlebt haben.« Es schien ihm plötzlich etwas einzufallen, denn er dachte eine Weile angestrengt nach, und sein Gesicht bekam einen traumverlorenen Ausdruck. »Sie sind der einzige, der sich meiner noch zuweilen erinnert«, sagte er plötzlich wehmütig. »Ihr Vetter war noch nie bei mir.«

»Charlie hat sehr viel zu tun«, bemerkte Osborn entschuldigend und blies eine Rauchwolke gegen die Decke.

Bryans nickte lebhaft.

»Natürlich. Wenn man es nicht macht wie ich und sich verkriecht, hat man keine Ruhe. Er war ein netter Junge, Ihr Vetter. Wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Und es war überhaupt wunderbar. Mein Gedächtnis ist zwar schlechter geworden«, gestand er, »aber manchmal erinnere ich mich doch noch an verschiedenes. Zum Beispiel an Sir . . .« Er konnte nicht weiter und sah Osborn hilflos an. »Die Namen geben mir besonders zu schaffen«, klagte er, »aber Sie werden schon wissen, wen ich meine. Er war ein vollendeter Gentleman.«

»Sir Benjamin ist bereits tot«, bemerkte Osborn leichthin. Er hatte das Bryans bereits einige Male mitgeteilt, aber dieser schien es nicht behalten zu haben, und es machte auch jetzt keinen Eindruck auf ihn. Bryans war offenbar schon wieder mit einer anderen Sache beschäftigt, und sein sprunghaft arbeitendes, krankes Gehirn konnte damit nicht so rasch ins reine kommen. Er griff zweimal hastig nach dem Glas, aber plötzlich hatte er den Faden erhascht, den er suchte. Er befand sich offensichtlich in dem Stadium alkoholischer Geschwätzigkeit, und während er seine Hand vertraulich auf den Arm seines Gastes legte, kam in seine Augen ein flackerndes Feuer.

»War sie auch bei Ihnen?« fragte er geheimnisvoll und rückte dicht an Osborn heran. Mrs. Helens Anwesenheit schien er völlig vergessen zu haben, und er wartete auch die Antwort Osborns nicht erst ab, sondern beeilte sich, das, was in seinem Kopf vorging, mit lallender Zunge so rasch als möglich hervorzusprudeln. »›Die Königin der Nacht‹, Sie wissen ja. Es muß zwar schon sehr lange her sein, und eigentlich habe ich nie mehr daran gedacht, aber ich habe sie doch sofort erkannt.« Er zog schaudernd die Schultern ein und deutete scheu nach dem Nebenraum. »Da drinnen war sie. Genauso, wie wir sie in jener Nacht gesehen haben, in der wir dann so furchtbare Angst hatten. Sie, Ihr Vetter und ich, weil der Herr wissen wollte, warum geschossen worden war.« Sein verängstigtes Gesicht bekam einen verschmitzten Ausdruck, und er begann unvermittelt zu kichern. »Draußen vor dem Lager in der kleinen Schlucht, wissen Sie noch? – Mir haben sie am wenigsten gegeben, aber ich habe ja auch nicht viel dabei getan. – Nein, ich beklage mich gar nicht. Es war ganz recht so.« Er bemühte sich sichtlich, die Vorgänge, die ihn beschäftigten, in der Erinnerung einzufangen. »Wie war es doch gleich? Wer hat das Zeug gefunden und uns gesagt, daß wir ihm helfen sollen? Und wer hat auf die ›Königin der Nacht‹ und ihre Leute geschossen?« Er schüttelte verzweifelt den Kopf und sah Osborn hilflos an. »Sehen Sie, da komme ich nicht weiter. Aber es wird mir schon einfallen. Und wenn die ›Königin der Nacht‹ wiederkommt, werde ich ihr sagen, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich gebe ihr zweitausend Pfund oder auch dreitausend, obwohl ich damals nur wenig für die Sachen bekommen habe, weil man mir sagte, ich dürfe nicht gleich verkaufen, und ich brauchte doch Geld.«

Die Worte kamen immer schwerer und verworrener aus ihm heraus, und als er nach der Anstrengung wieder ein Glas Whisky hinuntergeschüttet hatte, saß er ganz starr.

»Ich fürchte mich, William«, flüsterte Helen mit großen entsetzten Augen, die unaufhörlich herumirrten, als ob sie den kürzesten Weg zur Flucht suchten.

Auch Osborn fand den Augenblick für den Aufbruch gekommen. Der Zweck, den sein Besuch gehabt hatte, war erreicht, und er war sich nun völlig klar darüber, daß dieser durch den Schrecken plötzlich so geschwätzig gewordene Bryans ebenso zu fürchten war wie der rätselhafte Wellby und die geheimnisvolle ›Königin der Nacht‹.

Während der Fahrt nach Weybridge saß Osborn mit finsterem Gesicht, und seine verschüchterte Frau wagte nicht, ihn auch nur durch ein Wort zu stören. Erst, als sie fast schon am Ziel waren, faßte sie Mut zu einer Frage.

»Glaubst du, daß sie ihn wirklich noch einmal aufsucht?«

»Ich hoffe es«, erwiderte er mit einem grimmigen Lächeln, denn er hatte kein Interesse daran, daß Bryans noch lange seine konfusen Erinnerungen seinem Diener und vielleicht jedem, der ihm sonst noch in den Weg kam, zum besten gab.

Aber der Herr auf Threecourts tat nichts dergleichen, sondern schien die aufregende Nacht und alles, was mit ihr zusammenhing, völlig vergessen zu haben. Er sprach nicht ein Wort mehr von der Sache, trank schweigsam und mit Genuß wie früher und schlief dann ruhig und sorglos seinen Rausch aus.

Als ihm am übernächsten Tag sein Diener mit ratlosem Gesicht eine Karte überreichte und meldete, daß der Herr sich nicht abweisen lasse, war er zwar nicht mehr imstande, den Namen zu lesen, aber noch zu lallen: »Schmeiß ihn hinaus!«

Nichtsdestoweniger betrat einige Augenblicke später ein rosiger Herr mit weißem Haar das Speisezimmer und ließ sich ohne weiteres neben dem etwas verlegen und hilflos blinzelnden Mr. Bryans nieder, der es nicht wagte, die Tragfähigkeit seiner Beine auch nur auf die geringste Probe zu stellen. Im übrigen störte ihn der Besuch auch gar nicht, denn der Herr hatte ein sehr freundliches Gesicht, und seine Stimme klang ganz angenehm, obwohl Bryans nicht verstand, was sein Besucher eigentlich sagte. Aber plötzlich fing er ein Wort auf, das einen Hebel in seinem Kopf auslöste, und er begann zu lallen.

»›Die Königin der Nacht‹ . . . Jawohl . . . Weiß schon. Warum kommt sie nicht selbst? Sagen Sie ihr, daß ich mich vergleiche. Mit zweitausend Pfund. Das ist viel Geld, da ich doch am wenigsten bekommen habe. Und geschossen habe ich auch nicht. Was will sie von mir?«

Seine Stimme bekam plötzlich einen weinerlichen Klang, und er begann heftig zu schlucken, was ihn ganz außer Atem brachte. Als er sich dann von seinem Besucher Antwort holen wollte, war dieser verschwunden, und Bryans meinte, einen seiner häufigen Wachträume gehabt zu haben. Er trank daher beruhigt weiter, bis der Abend herabsank und der Diener die bescheidene Petroleumlampe über dem Tisch anzündete. Sie reichte gerade aus, das Glas zu finden und die Flasche nicht ins Leere zu stellen.

Der Besitzer von Threecourts fühlte sich sehr behaglich und erschrak nicht einmal, als er am Fenster gegenüber seinem Platz plötzlich eine leuchtende Mondsichel und drei flimmernde Sterne zu sehen glaubte. Er lächelte sogar überlegen, denn er kannte diese netten Streiche, die ihm seine Sinne manchmal spielten, wenn er etwas getrunken hatte. Und auch den kleinen, milchweiß schimmernden Ballon, der mit einem Male vor ihm auf dem Tisch tanzte und dicht vor seinem Gesicht wie eine Seifenblase platzte, beäugte er höchst belustigt.

Aber gleich darauf schlug Arthur Bryans mit dem Kopf und den Armen so heftig nach vorne, daß Glas und Flasche splitternd zu Boden fielen.


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