Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

71

Bellamy saß an dem Fenster seines Schlafzimmers, sein Gewehr lehnte an der Fensterbank. Alle Lichter im Dorf waren auf Befehl der militärischen Leitung ausgelöscht, selbst in den Häusern durften die Leute kein Licht machen. Diese Maßregel kam in gewisser Weise Bellamy bei der Verteidigung der Burg zustatten, denn die einzelnen Lichter hatten ihn geblendet.

Nun konnte er genau unterscheiden, was vor ihm lag. Plötzlich sah er die drei Leute, die sich langsam die Anhöhe zur Burg emporarbeiteten. Zoll für Zoll glitten sie in der Dunkelheit vorwärts. Er schoß und sie hielten an. Aber das Militär hatte das Mündungsfeuer gesehen, und ein Maschinengewehr wurde gegen ihn in Tätigkeit gesetzt. Er warf sich flach auf den Boden und hörte, wie die Geschosse über seinem Kopf vorbeipfiffen.

Als es wieder ruhig wurde, schaute er vorsichtig hinaus. Die drei kamen näher und näher. Als er diesmal feuerte, schien er einen getroffen zu haben, denn er hörte einen Schrei. Die Leute zogen sich zurück, und er benützte die Gelegenheit, in das Wachtzimmer hinunterzugehen. Das Wasser schoß in zwei grünweißen Strömen aus den beiden zerstörten Hauptrohren. Er stieg über die hölzerne Barriere, die er selbst aufgerichtet hatte, watete zu der eisernen Gittertür und drehte das elektrische Licht an. Das Wasser stand beinahe bis zur obersten Stufe. Bellamy war zufrieden. Die Angreifer würden nicht mehr früh genug kommen, um das Leben dieser Leute zu retten, die er wie Ratten in der Falle ersäufte.

In der Halle traf er Sen. Der stumme Chinese zeigte zur Tür und Bellamy verstand. Er vermutete, was die Belagerer vorhatten – sie wollten den Eingang mit Dynamit sprengen.

Er ging zum Wachtraum zurück, schloß die eichene Tür, die dorthin führte, ebenso die Tür von der Eingangshalle zu dem Gang. Es würde einige Zeit dauern, bis die Leute entdeckten, was nicht in Ordnung war. Noch längere Zeit würde es in Anspruch nehmen, das Wasser abzustellen. Nichts konnte seine Feinde retten. Mit diesem glücklichen Gedanken ging er zu seiner Stellung in der Tür der Bibliothek zurück, um den Endkampf zu erwarten.

Zwei Eingänge führten zur Bibliothek: der eine von der Halle und der zweite vom Fuß der engen Treppe aus, die zu dem darüberliegenden Raum ging, in dem Lacy gewohnt hatte. Diese Tür war gewöhnlich fest geschlossen, aber Bellamy hatte sie nun geöffnet, falls er nach oben fliehen mußte. Er dachte an die Gefangenen unten im Kerker. Das Wasser mußte ihnen jetzt bis zum Hals reichen. Wahrscheinlich standen sie auf der Treppe – in zehn Minuten würden sie tot sein. Nun würden sie wissen, welche Genugtuung er hatte! Auch das Gefängnis der Frau war unter Wasser – wenn sie nur noch dort wäre! Das war der einzige unangenehme Gedanke, den er hatte. Aber sie war ihm entkommen.

Plötzlich erfolgte eine Explosion, und eine starke Detonation erschütterte die Grundfesten der Burg. Gleich darauf folgte eine zweite Explosion, und Bellamy wußte, daß das äußere Tor zerstört war und jetzt nur noch das Fallgatter zu nehmen blieb. Aber dieses war mit Stahl beschlagen und würde länger Widerstand leisten.

Er ließ Sen mit dem Gewehr auf dem Knie, auf dem Boden kauernd, zurück und trat in die Bibliothek ein. Er ging seinem Verhängnis mit unerschütterlicher Ruhe entgegen, er war jetzt bereit zu sterben. Er wollte sich nur noch vergewissern, daß alles, was er sich vorgenommen hatte, ausgeführt war, dann brauchte er nicht mehr länger zu leben.

Plötzlich hörte er, daß sich die hintere Tür öffnete, und schaute sich um.

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« sagte eine fremde Stimme. »Sie kennen mich, Abel Bellamy!«

Der Eindringling stand kurze Zeit still und hielt den gespannten Bogen. In der rechten Hand hatte er das Federende eines Pfeiles. Er stand da wie eine Statue, drohend wie das Schicksal. Das Licht, das aus der silbernen Hängelampe herabströmte, glänzte auf dem grünen Pfeil, dessen Spitze auf Bellamys Herz zeigte.

»Rühren Sie sich nicht, sonst sind Sie tot. Und ich wünsche nicht, daß Sie sterben, bevor Sie alles wissen.«

»Der Grüne Bogenschütze,« stammelte Bellamy abgerissen. »Sie – Sie sind der Grüne Bogenschütze!«

»Ich habe Ihre Verbündeten nacheinander ermordet, all die gemeinen Werkzeuge, die Sie anstellten, um Unschuldige und Unterdrückte zu verfolgen. Abel Bellamy, Sie sind der dritte und müssen nun selbst daran glauben. Was können Sie zu Ihrer Entschuldigung sagen, daß ich Sie nicht zum Tode verurteile?«

Die Worte hatten einen fremden und schauerlichen Klang. Bellamy wußte nicht, daß sie wörtlich aus der englischen Formel des Todesurteils genommen waren.

»Sie – der Grüne Bogenschütze!« Weiter brachte er nichts hervor – seine Gedanken wirbelten durcheinander.

Er konnte den hochaufgerichteten Mann nur hypnotisiert anstarren. Er sah auch den zweiten Pfeil, den er zwischen den Fingern hielt und wunderte sich, welche Kraft der andere aufwenden mußte, um den Bogen so gespannt und ruhig zu halten.

Bellamys Pistole lag auf dem Schreibtisch – mit zwei Schritten wäre er dort gewesen. Er überlegte schnell, aber er erkannte, daß der Grüne Bogenschütze auf jede seiner Bewegungen achtete. Er mußte Zeit gewinnen.

»Wenn ich irgend etwas getan habe, was ich durch Geld wieder in Ordnung bringen könnte –«

»Geld!« sagte der andere zornig. »Wie dürfen Sie es wagen, mir Geld anzubieten? Können Sie damit die acht Jahre gutmachen, die Sie eine unschuldige Frau gequält haben? Kann Geld die Schmerzen auslöschen und die Narben wegwischen, die ein Mann trägt, der auf Ihren Befehl hin mit der Peitsche geschlagen wurde? Können Sie Geld –«

»Warten Sie nur, warten Sie,« sagte Bellamy. »Ich kann Ihnen noch etwas mitteilen, worüber Sie sich freuen werden – etwas, was dem Grünen Bogenschützen Spaß macht –«

Die Augen des Mannes, der den Bogen hielt, verengten sich.

»Was meinen Sie?« fragte er schnell.

»Sie sind hier!« rief Bellamy. »Ich habe sie ersäuft wie Ratten – alle! Sie sind jetzt in der Hölle – Featherstone – Valerie Howett! Und Sie, Sie verdammter –«

Er sprang zum Schreibtisch und hörte noch die zweite große Explosion. Sie war ein großartiger Salutschuß bei dem Tod eines Mannes, der weder Gott, noch Menschen, noch Gerechtigkeit gefürchtet hatte.


 << zurück weiter >>