Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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3

Spike sah auf die Uhr – es war fünf Minuten vor eins. Aber kaum hatte er sich in einem bequemen Sessel in der Eingangshalle niedergelassen, um auf John Wood zu warten, als dessen schlanke Gestalt sich schon im Hoteleingang zeigte. Die Erscheinung dieses hochgewachsenen Mannes fiel allgemein auf. Er war vor der Zeit ergraut, aber sein Gesicht war von einer eigenartigen Schönheit, die sich besonders in den lebhaften Augen konzentrierte. Sein ausdrucksvoller Mund schien zu sprechen, auch wenn er schwieg.

Er reichte Spike die Hand und drückte sie freundlich.

»Ich komme doch nicht etwa zu spät? Ich war den ganzen Vormittag sehr beschäftigt, und ich möchte den Zug um halb drei nach dem Kontinent nehmen. Deshalb bin ich so eilig.«

Sie gingen zusammen in den großen Speisesaal, und der Oberkellner führte sie zu einem reservierten Tisch in einer Ecke. Spike war durch das interessante Gesicht des anderen gefesselt und stellte unwillkürlich Vergleiche mit der abstoßenden Häßlichkeit des Mannes an, den er soeben verlassen hatte. Wood war aber auch das gerade Gegenteil von Abel Bellamy. Sein gütiger Charakter spiegelte sich in seinem seelenvollen Blick wider, und ein freundliches Lächeln lag ständig in seinen Augen. Alle seine Bewegungen waren gewandt und lebhaft, und seine langen, weißen, zarten Hände schienen niemals zu ruhen.

»Nun, was wollen Sie von mir erfahren? Vielleicht kann ich Ihnen alles erzählen, bevor die Suppe serviert wird: Ich bin Amerikaner –«

»Das hätte ich nicht vermutet.«

John Wood nickte.

»Ich habe lange Zeit in England gelebt, ich bin –« er machte eine Pause – »lange Jahre nicht daheim gewesen. Ich möchte nicht viel von mir selbst erzählen und meine bescheidenen Verdienste mit möglichst wenig Worten abtun. Ich lebe jetzt in Wenduyne in Belgien und leite dort ein Heim für schwindsüchtige Kinder. Ich will die Anstalt aber noch dieses Jahr nach der Schweiz verlegen. Die Woodsche Lungenheilmethode stammt von mir – nebenbei bin ich Junggeselle – aber das ist alles, was von mir zu berichten ist.«

»Ich möchte gerne wegen der Kinderheime mit Ihnen sprechen. Wir haben einen längeren Artikel darüber in einer belgischen Zeitung gefunden. Dort stand auch, daß Sie die Absicht haben, große Summen zusammenzubringen, um in jedem Lande Europas ein Mutterhaus zu errichten. Was verstehen Sie darunter?«

Mr. Wood lehnte sich in seinen Stuhl zurück und dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete.

»In allen Ländern Europas, besonders in England, wird eine Frage immer brennender – ich möchte sie das Problem der ungewünschten Kinder nennen. Vielleicht ist ungewünscht nicht das richtige Wort. Nehmen wir einmal an, eine Witwe bleibt nach dem Tod ihres Mannes ohne Mittel zurück und muß ein oder zwei Kinder ernähren. Sie kann unmöglich einem Beruf oder einer Beschäftigung nachgehen, es sei denn, daß sich jemand um ihre Kinder kümmert, und das kostet wieder Geld. Dann gibt es andere Kinder, deren Geburt man fürchtet, deren Existenz Schande und Verlegenheit bringt, die versteckt werden müssen und dann in solche verrufenen Kinderheime kommen, deren Inhaberinnen es für ein paar Dollars die Woche übernehmen, nach ihnen zu sehen und sie großzuziehen. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht in dem einen oder anderen Lande die Leiterinnen solcher Heime unter schwerer Anklage vor Gericht gestellt werden, sei es, daß sie die Erziehung dieser Kinder vernachlässigt oder daß sie direkt beschuldigt werden, sie beiseite gebracht zu haben.«

Dann begann er in großen Zügen seinen Plan über die Errichtung von Mutterhäusern zu entwerfen, in denen solche unerwünschten Kinder Aufnahme finden könnten und sorgfältig von besonders zu diesem Beruf vorgebildeten Pflegerinnen betreut werden sollten.

»Allmählich könnte man dann Schülerinnen annehmen, die für ihre Ausbildung in der Kinderpflege ein Lehrgeld zahlen. Meiner Meinung nach könnte man im Lauf der Zeit diese Anstalten so organisieren, daß sie sich selbst unterhalten. Dann würde man der Welt gesunde Knaben und Mädchen schenken, die fähig wären, den Kampf ums Dasein erfolgreich zu bestehen.«

Während des Essens sprach er nur über kleine Kinder. Ihre Pflege war sein Lebensinhalt. Er erzählte des langen und breiten von einem kleinen deutschen Waisenkind, das er in seinem Heim besonders hegte und schilderte es so lebhaft, daß die Gäste an den anderen Tischen sich nach ihm umwandten.

»Seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen das sage, Mr. Wood, aber Sie haben doch eine sonderbare Liebhaberei.«

Der andere lachte.

»Das ist schon möglich,« meinte er. »Wer sind diese Leute?« fragte er dann plötzlich.

Zwei Herren und eine junge Dame hatten den Speisesaal betreten. Der erste war hochgewachsen, schlank und hatte weiße Haare. Über seine Gesichtszüge breitete sich eine stille Melancholie. Sein Begleiter war ein elegant gekleideter junger Mann, dessen Alter zwischen neunzehn und dreißig liegen konnte. Er schien von der tadellosen Frisur bis zu den Lackschuhen eine lebende Reklame für seinen Schneider zu sein. Aber am meisten fesselte die Erscheinung der jungen Dame.

»Sie ist von unwirklicher Schönheit, als ob sie aus einem Gemälde gestiegen sei,« sagte Spike.

»Wer ist sie denn?«

»Miß Howett – Valerie Howett. Der ältere Herr ist Mr. Walter Howett, ein Engländer, der viele Jahre in den Vereinigten Staaten in dürftigen Verhältnissen lebte, bis Petroleum auf seiner Farm gefunden wurde. Auch dieser elegante junge Mann ist Engländer – Featherstone. Er treibt sich überall herum – ich habe ihn schon in fast allen Nachtklubs von London getroffen.«

Die kleine Gesellschaft nahm an einem Tisch in ihrer Nähe Platz, und Wood konnte von da aus die junge Dame genauer betrachten.

»Sie ist in der Tat außerordentlich schön,« sagte er mit leiser Stimme. Aber Spike war vom Tisch aufgestanden, zu den anderen hinübergegangen und begrüßte den älteren Herrn mit einem Händedruck.

Nach kurzer Zeit kam er zurück.

»Mr. Howett hat mich eben gebeten, nach Tisch auf sein Zimmer zu kommen. Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mich nachher einen Augenblick zu entschuldigen?«

»Natürlich.«

Die junge Dame vom Nebentisch schaute während des Essens zweimal mit fragenden, ungewissen Blicken zu ihnen herüber, als ob sie John Wood schon früher gesehen hätte und sich nun überlegte, wo und unter welchen Umständen.

Spike hatte die Unterhaltung auf ein Thema gebracht, das ihn im Augenblick viel mehr interessierte als kleine Kinder.

»Mr. Wood, ich vermute, daß Sie auf Ihren vielen Reisen noch niemals einem wirklichen Geist begegnet sind?«

»Nein,« erwiderte der andere mit einem ruhigen Lächeln. »Ich glaube wirklich nicht.«

»Kennen Sie Bellamy?«

»Abel Bellamy – ja, ich habe von ihm gehört. Er ist doch der Mann aus Chicago, der Garre Castle kaufte?«

Spike nickte.

»Und in Garre Castle treibt der Grüne Bogenschütze sein Wesen. Der alte Bellamy freut sich gerade nicht so sehr über den Spuk, obwohl viele andere recht stolz sein würden über einen solchen Schloßgeist. Er hat versucht, mich vollständig auszuschalten und mir diese schöne Geschichte vorzuenthalten.«

Er erzählte alles, was er von dem Grünen Bogenschützen von Garre wußte, und Mr. Wood hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.

»Es ist merkwürdig. Ich kenne die Legende von Garre Castle auch und habe auch von Mr. Bellamy gehört.«

»Kennen Sie ihn genauer?« fragte Spike schnell. Aber der andere schüttelte den Kopf.

Gleich darauf brach Mr. Howetts Gesellschaft auf. Mr. Wood winkte dem Kellner und zahlte. Dann erhoben sie sich.

»Ich muß einen Brief schreiben,« sagte Wood. »Haben Sie lange mit Mr. Howett zu tun?«

»In fünf Minuten bin ich wieder hier. Ich weiß nicht, was er von mir will, aber ich glaube nicht, daß es länger dauern wird.«

Howetts Zimmer waren auf demselben Flur wie die Bellamys. Als Spike hinaufkam, wurde er schon von Mr. Howett erwartet. Mr. Featherstone hatte sich scheinbar schon vorher verabschiedet. Nur der Millionär und seine Tochter waren in dem Zimmer.

»Treten Sie bitte näher, Holland.« Howett sprach mit einer müden Stimme und sah niedergedrückt aus. »Valerie, dies ist Mr. Holland, er ist ein Journalist und kann dir vielleicht helfen.«

Die junge Dame nickte ihm freundlich zu.

»In Wirklichkeit möchte nämlich meine Tochter Sie sehen, Holland,« sagte Howett zu Spikes Genugtuung.

»Es handelt sich um folgendes, Mr. Holland,« begann sie. »Ich möchte eine Dame ausfindig machen, die vor zwölf Jahren in London lebte.« Sie zögerte. »Es ist eine Mrs. Held, die in der Little Bethel Street, Camden Town, wohnte. Ich habe bereits Nachforschungen in der Straße selbst gemacht, es ist eine schrecklich armselige Gegend, und niemand kann sich dort an sie erinnern. Ich wüßte überhaupt nicht, daß sie sich jemals dort aufgehalten hat, wenn ich es nicht durch einen Brief erfahren hatte, der in meinen Besitz kam.« Wieder machte sie eine Pause. »Daß der Brief in meinem Besitz ist, ist dem Adressaten unbekannt. Er hat auch allen Grund, alle Nebenumstände möglichst geheimzuhalten. Einige Wochen, nachdem der Brief geschrieben wurde, verschwand Mrs. Held.«

»Haben Sie öffentliche Nachfragen in die Zeitungen eingesetzt?«

»Ja, ich habe alles getan, was nur irgend möglich war. Auch die Polizei unterstützt mich schon seit Jahren.«

Spike schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen dabei nicht viel helfen.«

»Das dachte ich auch,« sagte Mr. Howett. »Aber meine Tochter glaubte, daß Zeitungsleute viel mehr hören als die Polizei –«

Plötzlich wurde sie durch Lärm auf dem Flur unterbrochen. Man hörte eine rauhe, erregte Stimme, dann einen Fall. Spike schaute auf und eilte sofort in den Korridor hinaus.

Dort bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Der Mann mit dem grauen Bart, den der Sekretär Creager nannte, erhob sich langsam vom Boden. Auf der anderen Seite sah Spike die große, unförmige Gestalt Bellamys im Rahmen seiner Zimmertür stehen.

»Das wird Ihnen noch leid tun,« rief Creager erregt.

»Scheren Sie sich zum Teufel,« brüllte Bellamy. »Wenn Sie noch einmal hierherkommen, werfe ich Sie zum Fenster hinaus.«

»Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen!«

Creager schluchzte beinah vor Wut.

»Aber nicht in Dollars und Cents,« fuhr der Alte böse auf. »Und hören Sie, Creager, Sie beziehen eine Pension von der Regierung – nehmen Sie sich in acht, daß Sie die nicht verlieren!« Mit diesen Worten drehte er sich um und warf die Tür heftig ins Schloß.

Spike wandte sich an den Mann, der den Gang entlanghinkte.

»Was ist denn los?«

Creager stand einen Augenblick still und rieb seine Knie.

»Sie sollen alles erfahren! Sie sind doch ein Reporter? Ich habe eine gute Sache für Sie.«

Spike war ein Zeitungsmann mit Leib und Seele, und irgendeine Geschichte, über die man einen guten Artikel schreiben konnte, war für ihn das halbe Leben und bedeutete Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche. Er ging schnell zu Howett zurück.

»Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen? Ich muß diesen Mann sprechen.«

»Wer hat ihn so zu Boden geworfen – Bellamy?«

Valerie fragte ihn. Eine gewisse Erregung klang in ihrer Stimme, so daß Spike erstaunt aufschaute.

»Jawohl, Miß Howett – kennen Sie ihn?«

»Ich habe manches über ihn gehört,« sagte sie langsam.

Spike begleitete den wütenden Craeger in die Hotelhalle. Er war bleich und zitterte, und es dauerte einige Zeit, bevor er seine Stimme wieder beherrschte.

»Es stimmt, was er sagte. Es ist möglich, daß ich meine Pension verliere, aber das will ich auf mich nehmen. Sehen Sie, Mr. –«

»Holland ist mein Name.«

»Hier kann ich Ihnen nicht alles erzählen, aber wenn Sie in mein Haus kommen wollen – Rose Cottage, Field Road, New Barnet –«

Spike notierte sich die Adresse.

»Ich habe Ihnen etwas zu erzählen, was eine große Sensation hervorrufen wird. Bestimmt!« sagte er mit Befriedigung.

»Das ist fein!« rief Spike. »Wann kann ich Sie sprechen?«

»Kommen Sie in ein paar Stunden.« Mit einem kurzen Gruße entfernte sich Craeger.

Wood, der interessiert zugeschaut hatte, trat auf Spike zu.

»Der Mann sah ziemlich mitgenommen aus.«

»Ja, man hat ihm böse mitgespielt – aber er hat eine Geschichte zu erzählen, die ich brennend gern schreiben möchte.«

»Ich habe gehört, was er Ihnen mitteilte,« sagte Wood lächelnd. »Aber nun muß ich mich verabschieden. Besuchen Sie mich doch einmal in Belgien.« Als er Spike die Hand schüttelte, sagte er noch: »Vielleicht kann ich Ihnen eines Tages eine Geschichte über Abel Bellamy erzählen, die beste, die Sie jemals gehört haben. Wenn Sie noch genauere Nachrichten über die Kinderheime haben wollen, wenden Sie sich nur ruhig an mich.«

Als Wood gegangen war, kehrte Spike zu Howett zurück, aber dort erfuhr er nur, daß sich Miß Howett mit bösen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte, und daß die Besprechung, wie er ihr bei ihren Nachforschungen vielleicht helfen könnte, auf unbestimmte Zeit verschoben war.


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