Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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22

Bellamy las selten Zeitungen, nur der »Globe« hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Das einzige Blatt, das sonst sein Interesse erweckte, war der »Berkshire Herald«, ein wöchentliches Lokalblatt. Auch diese Zeitung las er nicht einmal selbst, sondern es gehörte zu Savinis Pflichten, ihm jeden Donnerstagabend – an diesem Tag wurde es ausgegeben – daraus vorzulesen. Manchmal mußte er jede gedruckte Zeile lesen, von der ersten Familienanzeige auf der Vorderseite bis zu den Berichten über irgendeine kleine landwirtschaftliche Ausstellung auf der letzten Seite. Manchmal wollte sein Herr auch nicht viel hören.

Obgleich Bellamy mit den Familien auf dem Lande nicht verkehrte und weder Einladungen ausschickte noch annahm, so war er doch sehr an allem interessiert, was in der Gegend von Berkshire vorging. Er lehnte es niemals ab, Gelder zu zeichnen, wenn man ihm eine Subskriptionsliste vorlegte, aber auf keinen Fall ließ er sich persönlich sprechen. Er gab mit vollen Händen für die Wohlfahrtsorganisationen der Umgegend. Er bestand aber stets darauf, daß sein Name nicht genannt werden durfte. Julius wunderte sich, warum ein so unzugänglicher, unliebenswürdiger und wenig wohltätiger Mann solche Summen für diese Zwecke ausgab. Sicherlich war seine Handlungsweise nicht von dem Wunsch diktiert, seinen Mitmenschen zu helfen oder das harte Los der Unglücklichen zu mildern. Savini machte einmal eine Bemerkung dieser Art, als Bellamy einen hohen Scheck an ein Wohltätigkeitskomitee sandte. Der alte Mann brummte darauf etwas, was als Erklärung für seine Großzügigkeit gelten konnte.

»Ich vermute, daß die Besitzer von Gurre Castle immer gegeben haben,« sagte er.

Er setzte also nur die Tradition der Herren fort, deren Banner einst von dem Flaggenmast der Burgkapelle geweht hatte.

Abel Bellamy gehörte seinem Wesen nach ins Mittelalter, zu jenen starken Männern, die schwergepanzerte Pferde bestiegen und ihre Mordbuben ausschickten, um sich ihrer Feinde zu entledigen.

Als sie von dem Hundekäfig zurückkamen, dachte Julius daran, daß der »Berkshire Herald« heute erschienen sei. Er seufzte innerlich, denn er war gerade nicht in der Stimmung, die kindlichen Aufsätze laut vorzulesen, die die Spalten dieses Lokalblattes füllten. Er hoffte schon, daß die Ankunft der neuen Hunde Bellamy so in Anspruch nehmen würde, daß er seine gewöhnliche Donnerstagserholung vergessen würde. Aber das erste Wort Abels bei dem Betreten der Bibliothek zerstörte seine Illusionen.

Der Alte setzte sich in seinen Lehnstuhl, legte die Hände zusammengefaltet in den Schoß und schaute auf die brennenden Holzscheite im Kamin.

»Holen Sie die Zeitung, Savini,« sagte er dann, und Julius gehorchte.

An diesem Tag war Bellamy von einer außerordentlichen Wißbegierde. Julius mußte jede Spalte lesen, von Warenverkäufen, von einer Wahlversammlung in einer benachbarten Stadt, wofür sich Bellamy doch sonst niemals interessierte.

»Ich kümmere mich nicht darum, was sie für Politik machen, habe mich auch nie darum gekümmert,« brummte er. »Das ist doch alles nur dummes Zeug, aber lesen Sie nur ruhig.«

Julius war bei den persönlichen Nachrichten angekommen. Es war eine durch viele Annoncen unterbrochene Spalte, in denen die Vorzüge von Kleesalz als Zugabe zum Viehfutter angepriesen wurden oder irgendein Mechaniker sich zur Reparatur von landwirtschaftlichen Maschinen empfahl.

»Hier sieht eine Bemerkung über die Bewohner von Lady's Manor,« sagte Savini und schaute fragend auf.

»Lesen Sie.«

Bellamy saß mit vorgebeugtem Kopf, geschlossenen Augen und schien zu schlafen. Einmal, aber nur einmal, hatte Julius den Fehler gemacht, zu glauben, Bellamy schliefe wirklich. Aber er hütete sich wohl, wieder in diesen Irrtum zu verfallen.

»Der neue Mieter von Lady's Manor ist ein bekannter Petroleummagnat, dessen Leben recht romantisch verlaufen ist. Als er vor Jahren nach Amerika auswanderte, war er zuerst ein armer Farmer in Montgomery County in Pennsylvania –«

»Wie?«

Abel Bellamy war plötzlich ganz wach und saß gerade und aufrecht in seinem Stuhl.

»Ein Farmer in Montgomery County in Pennsylvania?« wiederholte er. »Weiter, weiter!«

Julius war sehr erstaunt über das plötzlich erwachende Interesse seines Herrn.

»Na, vorwärts!« rief der Alte.

»Aber ein plötzlicher Glückszufall gab ihm die Mittel, eine größere Farm in einem anderen Teil der Staaten zu kaufen. Hier wurde Petroleum gefunden, und dies legte den Grund zu seinem großen Vermögen. Beide, Mr. Howett und seine Tochter, Miß Valerie Howett –«

»Wie war der Name?«

Abel schrie beinahe. Er war aufgesprungen und schaute auf seinen Sekretär. Seine Augen flammten.

»Valerie Howett!« rief er. »Das lügen Sie!«

Er riß Savini die Zeitung aus der Hand und starrte auf die gedruckte Seite.

»Valerie Howett!« wiederholte er dann leise für sich. »Donnerwetter!«

Zum erstenmal sah Julius seinen Herrn, seit er ihm diente, außer Fassung. Die Hand Bellamys zitterte.

»Valerie Howett!« sagte er noch einmal und starrte mit leerem Blick auf Savini. »In Lady's Manor . . . hier!«

Plötzlich ging er zu seinem Schreibtisch und zog an einer Schublade. Sie war verschlossen, aber er war zu ungeduldig, um erst den Schlüssel zu suchen. Er riß daran, das Schloß gab nach und die Schublade ging auf. Er hatte durch sein gewaltsames Zerren das Schloß abgebrochen, als ob es dünnes Holz sei. Er stieß die Papiere zurück, die darin lagen und zog ein kleines Bündel hervor, das er auf den Tisch warf. Julius sah, daß es das blutbefleckte Taschentuch war, das in dem Storeraum gefunden worden war.

»Wie?« rief Bellamy wieder. »Valerie Howett!«

Er schaute unter seinen buschigen Augenbrauen auf Savini.

»Sie wußten, daß es ihre Anfangsbuchstaben waren!«

»Ich habe nie daran gedacht, sie damit in Zusammenhang zu bringen. Aber abgesehen davon wohnte sie damals noch nicht in der Nachbarschaft.«

»Das ist wahr.«

Bellamy nahm das Taschentuch, hielt es in seiner großen Hand, stopfte es dann wieder in die Schublade und warf sie krachend zu.

»Sie können gehen,« sagte er kurz. »Lassen Sie die Zeitung hier. Ich werde Ihnen klingeln, wenn ich Sie wieder brauche. Mein Abendessen soll schnell serviert werden.«

Savini hatte sich aber kaum zehn Minuten in seinem Zimmer ausgeruht, als er plötzlich hörte, daß sich die Bibliothekstür öffnete und Bellamy ihn rief.

»Kommen Sie herein!« kommandierte der Alte.

Er hatte sich von seiner Erregung erholt und zeigte sich wieder wie gewöhnlich, obwohl der plötzliche Schreck Spuren in seinen Zügen hinterlassen hatte.

»Ich vermute, daß Sie sich den Kopf zerbrechen, worüber ich mich so aufgeregt habe, aber das brauchen Sie nicht. Ich kannte früher einmal jemand, der Howett hieß und ein junges Mädchen, deren Vorname Valerie war. Es war nur die zufällige Übereinstimmung der Namen, die mich stutzig machte. Wie sieht sie eigentlich aus?«

»Sie ist sehr hübsch.«

»So? Hübsch ist sie?« fragte Bellamy nachdenklich.

»Und ihr Vater?«

»Sie müssen die beiden doch gesehen haben, Mr. Bellamy. Sie wohnten auch im Carlton-Hotel und zwar auf demselben Flur wie wir.«

»Ich habe sie nicht gesehen,« unterbrach Abel ihn ungeduldig. »Wie sieht er aus?«

»Er ist schlank gewachsen und hager.«

»Ein bißchen elend, wie?« fragte Abel scharf.

»Sie haben ihn also doch gesehen?«

»Sie hören, daß ich ihn nicht gesehen habe – ich frage Sie doch nur. Wie ist seine Frau? – Ist sie bei ihm?«

»Nein, mein Herr, ich glaube, Mrs. Howett ist tot.«

Der Alte stand mit dem Rücken gegen den Kamin gelehnt und betrachtete aufmerksam seine Zigarre. Er biß das Ende ab und steckte sie an, bevor er wieder sprach. Es war ganz ungewöhnlich, daß er vor dem Abendessen rauchte, und Julius vermutete, daß die Zigarre als Beruhigungsmittel für seine aufgeregten Nerven diente.

»Möglicherweise habe ich ihn auch gesehen. Das Mädchen sollte hübsch sein, jung und intelligent? Hat sie eine dunkle oder helle Gesichtsfarbe?«

»Sie ist dunkel.«

»Und sehr lebendig, wie? Äußerst lebhaft – ist das nicht der Ausdruck, mit dem Sie sie beschreiben würden?«

»Jawohl, ich glaube, diese Worte passen sehr gut auf sie.«

Bellamy nahm die Zigarre aus dem Mund, betrachtete die lange Asche, streifte sie dann ab und steckte sie dann wieder in den Mund. Er starrte zu der getäfelten Decke empor.

»Ihre Mutter ist also tot?« wiederholte er. »Wo wohnte Valerie Howett denn, bevor sie nach England zurückkam? Das müssen Sie herausfinden. Ich möchte auch wissen, ob sie in New York war« – er schaute wieder auf seine Zigarre – »vor sieben Jahren und ob sie damals im Fifth Avenue Hotel gewohnt hat. Senden Sie sofort ein Telegramm und sehen Sie, ob Sie irgendwelche Informationen darüber erhalten können. Ich will ganz genau wissen, ob sie am 17. Juli 1914 im Fifth Avenue Hotel war. Gehen Sie direkt zur Post, und wenn sie hier schon geschlossen sein sollte, nehmen Sie den Wagen und fahren Sie nach London. Schicken Sie das Telegramm an den Geschäftsführer des Hotels. Sicher haben die doch noch die alten Fremdenlisten. Aber nun machen Sie schnell!«

»Wenn die Post geschlossen sein sollte, kann ich das Telegramm ja telephonisch aufgeben,« meinte Julius.

Bellamy nickte und schaute auf die Uhr.

»Es ist jetzt sieben Uhr, dann ist es in New York zwei. Wir müßten eigentlich noch diese Nacht Antwort erhalten. Sagen Sie den Leuten hier auf dem Telegraphenamt, daß wir ein eiliges Telegramm aus Amerika erwarten und fragen Sie, ob sie das Bureau nicht für uns offen halten können heute nacht. Es macht nichts aus, wieviel es kostet. Hören Sie zu, Savini: Ich muß es noch heute nacht wissen! In dem Hotel in New York kennt man meinen Namen genau, ich habe dort damals das ganze Jahr über ein Zimmer gehabt. Ich war nicht dort, aber ich hatte es gemietet. Aber nun gehen Sie schnell!«

Julius gab das Telegramm telephonisch auf und kam fünf Minuten später mit der Nachricht zurück, daß es unterwegs sei. Er fand Bellamy genau in derselben Stellung, wie er ihn verlassen hatte, die Zigarre in einem Mundwinkel, die Hände auf dem Rücken und den Kopf nach vorne geneigt.

»Haben Sie jemals mit der Dame gesprochen?«

»Einmal, als ich sie zufällig im Carlton-Hotel sah,« erwiderte Julius.

»Hat sie sich eigentlich für mich interessiert? Ich glaube kaum. Oder hat sie Sie über mich und mein Leben ausgefragt?«

Julius schaute ihn an und fing einen argwöhnischen Blick von ihm auf.

»Nein,« sagte er mit wohlgespielter Überraschung. »Wenn sie das getan hatte, würde ich ihr natürlich nichts gesagt haben, außerdem hätte ich Ihnen das erzählt.«

»Sie sind ein alter Lügner. Wenn sie Sie um Auskunft gebeten und Ihnen nur genügend Geld dazu gegeben hätte, dann hätten Sie alles ausgeplaudert, was Sie nur wußten. Vermutlich gibt es nichts auf der Welt, was Sie nicht für Geld tun würden, es sei denn ein Mord!«

In diesem Augenblick hätte Julius selbst einen Mord zu seinen vielen anderen Verbrechen hinzugefügt, so haßte er seinen Herrn.

In Savinis Abwesenheit hatte Bellamy die Schublade wieder geöffnet und das Taschentuch herausgenommen. Es lag unterhalb des Stuhles, von dem er aufgestanden war. Jetzt nahm er es wieder von der Erde auf.

»Sie hat doch wahrscheinlich irgendeine Zofe. Machen Sie sich an die heran und bringen Sie heraus, ob dieses Taschentuch der jungen Dame gehört. Die Anfangsbuchstaben beweisen noch gar nichts. Nein, lassen Sie es da liegen, Sie sollen es nicht wegnehmen, Sie sollen es nur ansehen, damit Sie sich genau darauf besinnen können. Wenn möglich, besorgen Sie mir ein anderes Taschentuch, sicher hat sie solche Dinge dutzendweise. Legen Sie ruhig Geld aus und zahlen Sie jede Summe, die verlangt wird. Sie können alles Geld haben, das Sie dazu brauchen.«

Ganz mechanisch nahm Bellamy den langen, dünnen Schlüssel aus der Tasche, den Julius nur einmal vorher gesehen hatte, und betrachtete ihn genau, gewissermaßen um sich zu überzeugen, daß er noch in seinem Besitz sei.

»Ist der Zeitungsmensch noch im Dorf?« fragte er.

»Ich weiß es nicht. Ich spreche niemals zu Zeitungsreportern.«

»Zum Donnerwetter,« sagte Bellamy ungeduldig. »Ich mache Ihnen doch in keiner Weise einen Vorwurf! Wissen Sie nicht, ob er noch hier ist? Gehen Sie sofort hin und fragen Sie. Und wenn er noch da ist, dann bringen Sie ihn gleich hierher.«

Julius war über diesen Auftrag sehr erstaunt, aber er gehorchte sofort.

»Bevor Sie gehen, stellen Sie noch eine Telephonverbindung für mich her, 789 Limehouse – stecken Sie nach der Bibliothek durch.«


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