Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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57

Am nächsten Morgen stand Julius schon sehr früh auf. Er hatte genügend Entschuldigungsgründe, um in den Wachtraum zu gehen, denn seine jetzigen Pflichten brachten ihn in alle Teile der Burg. Als er den Raum aber betrat, erwartete ihn eine Überraschung. Er sah eine schwere Gittertür dort, die aus starken Stahlstangen bestand. Bellamy mußte sie noch in der Nacht angebracht haben, um den Zugang zu den Kerkern zu schließen. Julius konnte sich nicht darauf besinnen, jemals früher diese Tür gesehen zu haben. Er sah auch, daß die Tür mit einem ganz neuen Vorhängeschloß gesichert war. Als er Bellamy später traf, erwähnte er seine Entdeckung.

»Eins von Ihren verrückten Dienstmädchen wäre in Ihrer Abwesenheit beinahe die Treppe hinuntergefallen,« erklärte er. »Deshalb habe ich sie jetzt geschlossen, damit nichts mehr passieren kann. Aber warum fragen Sie?«

»Ich hätte meiner Frau gern die Kerker gezeigt,« log Julius.

»Das geht jetzt nicht,« war die ablehnende Antwort.

Aber als sie sich nach einiger Zeit wieder begegneten, brachte der alte Bellamy von selbst das Gespräch wieder darauf zurück.

»Wenn Ihre Frau die Kerker sehen will, so werde ich sie ihr selbst eines Tages zeigen,« meinte er.

Julius dankte ihm und berichtete Fay von seiner Unterhaltung.

»Ich will die alten, verfluchten Kerker nicht sehen,« rief sie. »Julius, ich gehe von hier fort. Unsere Wohnung in Maida Vale ist sicher kein Palast, aber es ist doch nicht so schauerlich dort.«

Julius nahm ihren Entschluß ohne Widerrede hin.

Aber Bellamy wurde aufgebracht, als er davon hörte.

»Sagen Sie ihr nur, daß sie nicht so ohne weiteres fortgehen kann,« rief er erregt. »Ich brauche sie hier. Auf alle Fälle muß sie eine Woche hier bleiben.«

»Es wäre besser, wenn Sie ihr das selbst mitteilen, Mr. Bellamy,« erwiderte der kluge Julius.

»Schicken Sie Ihre Frau zu mir.«

Fay kam sofort.

»Savini sagte mir eben, daß Sie die Burg verlassen wollen?«

»Das stimmt – Ihr Garre Castle fällt mir auf die Nerven, Mr. Bellamy.«

»Sie fürchten sich wohl vor Geistern?« brummte er.

»Nein, vor Ihnen.«

Abel Bellamy lachte. Wenn sie sich angestrengt hätte, ihm etwas Angenehmes zu sagen, so hätte sie es nicht besser machen können.

»Was, Sie fürchten mich? Was ist denn an mir dran, wovor Sie sich fürchten könnten? Vor häßlichen Männern haben die Frauen doch keine Furcht – im Gegenteil, die haben die Frauen doch gerne?«

»Ich habe noch niemals an Höhlenmenschen Gefallen gefunden. Ich sehne mich nicht nur wegen Ihrer häßlichen Erscheinung nach meiner alten Wohnung. Sie sind gerade kein Adonis, das wissen Sie ja selbst, Mr. Bellamy, aber darum bekümmere ich mich nicht. Das ist die schreckliche alte Burg und vor allem die Geräusche in der Nacht.«

»Julius hat mir gesagt, daß es die Wasserrohren sind, und vielleicht hat er auch recht. Aber ich kann bei dem Spektakel nicht schlafen, ich verliere mein hübsches Aussehen und das will ich nicht.«

Er beobachtete sie durch halbgeschlossene Augenlider, und als sie zu Ende war, lachte er wieder leise in sich hinein, als ob er eine unbändige Freude meistern müßte.

»Machen Sie es so, wie Sie wünschen, aber bleiben Sie noch bis zum Ende der nächsten Woche, dann können Sie gehen.«

Sie hatte sich fest vorgenommen, die Burg sofort zu verlassen, aber merkwürdigerweise gab sie Bellamy doch ihre Einwilligung, noch so lange zu bleiben.

»Warum ich schließlich Ja sagte, kann ich mir eigentlich gar nicht erklären. Wenn ich noch eine Woche hier bleiben soll, bekomme ich graue Haare, Julius.«

»Ach, du bist verrückt.«

In der nächsten Nacht hörten sie das Klopfen wieder, aber es störte sie nicht weiter im Schlafe. In der dritten Nacht aber wachte Julius plötzlich auf und sah, daß auch Fay erschreckt im Bett saß.

»Was war denn das?« fragte er.

»Es klang wie eine Explosion.« Während sie noch sprach, kam wieder ein dumpfer Knall, der das ganze Gebäude erzittern ließ.

Savini eilte auf den Gang, die Treppe hinunter. Er war mitten in der Halle, als der Alte nach oben kam.

»Was wollen Sie hier?« fragte er.

Savini bemerkte irgendeinen sonderbaren Geruch. Sicher waren es die Rauchgase einer Explosion.

»Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Alles in Ordnung – ich habe nur eine kleine Sprengung vorgenommen, aber deshalb brauchen Sie sich nicht zu fürchten.«

»Eine Sprengung – mitten in der Nacht?«

»Ist das nicht die beste Zeit dafür? Eine der Kerkerwände sah mir so aus, als ob etwas dahinter verborgen wäre. In all diesen alten Burgen gibt es Schatzräume, und ich hatte schon seit einiger Zeit beschlossen, diese Mauer niederzulegen.«

Nun war aber Abel Bellamy nicht der Mann, der um drei Uhr in der Nacht auszog, um Schätze zu heben.

»Ihre Frau fürchtet sich wohl wieder? Ich dachte, ich wäre der einzige, vor dem sie sich fürchtet. Gehen Sie wieder zu Bett, Savini.«

Julius blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

»Der Alte hat Löcher in die Mauern gesprengt,« erzählte er Fay.

»Wenn das Loch, das er gesprengt hat, groß genug ist, daß ich hinauskommen kann, dann krieche ich sofort hinaus,« erwiderte Fay ganz bestimmt. »Und du kommst mit, Julius. Es ist ganz gleich, ob du hier viel Geld verdienst oder nicht. Warum wollte er dich denn wieder hier zurückhaben? – warum hat er mich hierhergerufen? Weil wir beide etwas wissen und ausplaudern könnten. Ich wußte, daß er hinter der Sache mit Smith steckte – hat er dich denn nicht zu mir gesandt, um mir Anweisungen zu geben? Smith hat mir das auch gesagt. Wegen seiner eigenen Sicherheit durfte er weder dich noch mich in der Stadt lassen. Wir sind blind gewesen! Er kann es doch durchaus nicht leiden, wenn Frauen in seiner Nähe sind, und trotzdem hat er nach mir geschickt. Wenn ich nur soviel Verstand gehabt hätte wie eine Mücke, dann hätte ich das vorher durchschauen sollen. Aber sobald es hell wird, gehen wir.«

Julius war es unheimlich zumute. Er ahnte, daß sie recht hatte und stimmte ihr zu.

»Natürlich habe ich recht,« sagte sie zornig. »Julius, du bist ein verlorener Mann, wenn du länger hier bleibst. Der alte Fuchs führt irgend etwas Böses gegen uns im Schilde. Ich bin nicht beunruhigt wegen der Sprengungen, ich vermute, er hat nicht genug Dynamit, um ganz Garre Castle in die Luft zu sprengen. Aber hinter all diesem Klopfen und den Geräuschen steckt irgendein geheimer Plan.«

Bellamy war in der Bibliothek, als die beiden zu ihm kamen. Er las gerade in einem Exemplar des »Daily Globe« den Bericht über die Leichenschau.

»Wollen Sie ausgehen?« fragte er, als er ihre Kleidung sah.

»Nein, wir gehen nach Haus,« antwortete Fay.

Bellamy legte die Zeitung nieder.

»Ich dachte, Sie wollten die Woche noch aushalten. Und Sie wollen auch fort, Savini?«

Julius nickte.

»Ach was, Sie sind wohl nicht ganz bei Verstand! Aber ich will keinen Streit mit Ihnen anfangen. Hier ist Ihr Lohn. Eigentlich haben Sie auf gar nichts Anspruch, wenn Sie mich so verlassen. Schreiben Sie mir eine Quittung über das Geld aus.«

Julius gehorchte und setzte sich das letztemal an Abel Bellamys Schreibtisch.

»Savini, erinnern Sie sich an die Ledermappe? Fragen Sie mich nicht, welche ich meine. Besinnen Sie sich darauf, wie Sie hier herumspioniert haben, wenn ich nicht da war? Wie Sie alle Schubladen im Schreibtisch geöffnet haben? Wissen Sie noch, wieviel geheime Nachrichten Sie Valerie Howett gegeben haben? Und ich habe Ihnen nur Gutes für all dieses Böse getan.«

Julius war auf der Hut. Er schaute ganz erstaunt auf, als der Alte plötzlich mit einem harten Ruck den Schreibtisch zurückstieß und den Teppich aufhob.

»Ich bin ein verlorener Mann,« sagte Bellamy ruhig. »Dieser verdammte Spürhund, der Featherstone, hat alles über die Frau herausbekommen, die ich drunten gefangen halte. Und vermutlich wissen Sie es auch, sonst würden Sie nicht fortlaufen wollen.«

Er bückte sich, nahm ein Stück des Parkettfußbodens heraus, steckte den Schlüssel ein und öffnete. Savini beobachtete aufgeregt alle seine Bewegungen. Verwundert sah er, wie der Stein sich um die Stahlachse drehte. Ohne ein Wort zu verlieren, stieg Bellamy die Treppe hinunter.

»Kommen Sie und sehen Sie es sich an,« sagte er. Julius folgte ihm, und widerstrebend ging auch Fay hinter ihm her.

Der Alte zündete unten einen Gasarm an und schloß die Türe auf. Die Lampen brannten unten, wie er sie verlassen hatte.

»Kommen Sie ruhig herein,« sagte Bellamy, der am Eingang des Tunnels stand.

»Ich bleibe hier,« erwiderte Julius. Er fühlte zitternd Fays Hand, die ihn am Arm zurückzog. Bellamy drehte sich gleichgültig um.

»Nun ja, bleiben Sie dort, die Frau ist hier, wenn Sie sie sehen wollen –«

Blitzschnell drehte sich Bellamy um. Er packte Julius mit der einen, Fay mit der anderen Hand, und bevor Julius zu sich kam, hatte Bellamy ihn und seine Frau durch den Tunnel hindurchgestoßen. Die Tür fiel krachend ins Schloß, und sie hörten, wie er die Riegel vorschob.

Dann schaute der Alte durch das kleine Gitter in der Tür.

»Nach Hause gehen, was? Nun bei Gott, jetzt sind Sie zu Hause! Das ist Ihre letzte Heimat, Sie verdammter Nigger und Spürhund! Du Schmutzweib! Ihr meint wohl, ich hätte euch frei herumlaufen lassen, damit ihr überall Geschichten erzählt? Nun seid ihr hier, und da werdet ihr so lange bleiben, bis ihr krepiert!«

Bellamys Stimme war heiser, er war fast wahnsinnig vor Aufregung.

»Auf Sie habe ich gewartet, Savini! Und dieses Frauenzimmer –« begann er von neuem. Aber plötzlich sprang er beiseite, und zwar gerade noch zu rechter Zeit, denn es fiel ein Schuß, und ein Geschoß prallte hinter ihm an der Wand ab. Ein zweites Geschoß traf eine Eisenstange des Gitters in der Türe. Er hatte nicht geglaubt, daß Julius Waffen bei sich tragen könnte.

Unversehens schloß er die Falltür, die das Gitter bedeckte, und befestigte es mit Riegeln. Dann stieg er die Treppe wieder hinauf. Oben schrieb er einen langen Brief und brachte ihn selbst zu dem Pförtnerhaus.

»Sie fahren doch Rad?« fragte er den Pförtner. »Nehmen Sie diesen Brief und bringen Sie ihn nach Lady's Manor.«

Der Mann entfernte sich sofort und Bellamy sah ihm nach. Nach zehn Minuten kam der Bote zurück und gleich darauf erblickte Bellamy eine bekannte Gestalt.

»Gehen Sie schnell und sagen Sie dem Herrn dort, daß ich ihn gern sehen möchte.«

Kurze Zeit später kam der interessierte Spike mit dem Pförtner zum Tor.

»Guten Morgen, Holland, Ihr Freund hat mich verlassen.«

»Meinen Sie etwa Savini?«

Bellamy nickte.

»Er ist eben mit seiner Frau gegangen. Ich überraschte sie dabei, wie sie über Nacht meinen Geldschrank aufbrechen wollten. Im Augenblick habe ich sie hinausgeworfen. Ich dachte, Sie können diese Nachricht vielleicht für Ihre Zeitung brauchen.«

»Das ist ja eine große Neuigkeit,« sagte Spike ohne sichtliche Begeisterung. »Welchen Weg sind sie denn gegangen? Am ›Blauen Bären‹ sind sie jedenfalls nicht vorbeigekommen.«

»Nein, sie gingen in der Richtung nach Newbury. Wenigstens sagte Savini so. Er drohte auch, daß er dort zu einem Rechtsanwalt gehen würde. Ich habe jetzt genug von dieser Burg, Holland. Man kann diesen Engländern überhaupt nicht trauen – dieser Kerl, der Savini, ist doch auch ein halber Engländer.«

»Was wollen Sie denn dann anfangen?«

»Ach, ich werfe die ganze Dienerschaft hinaus – zahle die Gehälter bis zum nächsten Ersten und schließe die Bude. Ich behalte nur den Pförtner und einen Verwalter. Vielleicht kann ich Ihnen eines Tages, wenn Sie zu mir kommen, eine gute Geschichte erzählen.«

Spike zwinkerte mit den Augen.

»Und was wird aus dem Grünen Bogenschützen?« fragte er.

»Das ist ja doch gerade mein neuer Verwalter,« antwortete Bellamy prompt. »Vielleicht kann ich Ihnen nächstens etwas mehr über ihn berichten, Holland. Er hat alle Leute an der Nase herumgeführt, nur mich nicht. Haben Sie sein Gesicht noch nie gesehen?«

»Nein,« sagte Spike ruhig. »Ich möchte es auch nicht sehen. Was ich sehen möchte, ist sein Rücken.«

Bellamy zog die Stirne kraus.

»Was soll das heißen – Sie wollen seinen Rücken sehen?«

»Ich möchte die Narbe sehen, die Creager ihm schlug, als er ihn auspeitschte.«

Er hatte nicht erwartet, daß seine Worte einen so großen Eindruck auf Bellamy machen würden. Der Alte taumelte, als ob er von einem Geschoß getroffen worden wäre, seine große Hand hob sich, und er stützte sich an dem Steinpfeiler des Tores, um sich aufrechtzuhalten. Sein Gesicht war vollkommen totenblaß, und sein Blick war leer.

»Sie wollen seinen Rücken sehen . . . den Creager ausgepeitscht hat! . . .« flüsterte er. Dann wandte er sich um und eilte zu dem Eingang der Burg, als ob ihn ein leibhaftiges Gespenst verfolgte.

Er eilte geradenwegs in die Bibliothek, warf die Tür donnernd hinter sich zu, taumelte zu seinem Sessel und fiel atemlos hinein.

Der Mann, den Creager ausgepeitscht hatte! Ein Geist war in Garre aufgetaucht, schrecklicher als der Grüne Bogenschütze! Er saß zwei Stunden lang und schaute bewegungslos aus dem Fenster. Ein entsetzliches Gefühl des Schreckens hatte sich seiner bemächtigt – es war die Furcht vor dem Tode.


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