Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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65

Jim Featherstone kleidete sich eilig an und trat in die kalte, verlassene Straße hinaus. Aber dann überlegte er sich, daß es gar nicht so eilte, die Aufzeichnungen des toten Bellamy zu sehen. Er suchte sein Auto im Dunkeln und wurde einige Augenblicke von einem Polizisten aufgehalten, der von irgendwoher auftauchte und einen Automobildieb in ihm vermutete. Er nahm ihn sogar mit zu einer Polizeistation, aber Jim hatte sich bald legitimiert, und eine Viertelstunde nach dem Anruf fuhr er schon am Themseufer entlang und durch die einsame Gegend von Chelson.

Bellamy war tot! Es schien fast nicht möglich! Lacy hatte es ihm gesagt – Jim hatte seine Stimme sofort wiedererkannt. Der Mann, gegen den ein Haftbefehl erlassen war, hatte es gewagt, ihn anzurufen. Es mußte etwas Ungewöhnliches in Garre Castle geschehen sein. Er dachte angestrengt darüber nach.

Um halb fünf Uhr morgens fuhr er den Abhang nach Garre hinunter und hielt vor den Burgtoren. Offenbar wurde er erwartet, denn die Türflügel des Straßentors standen weit offen, obgleich er nichts vom Pförtner entdecken konnte.

Auch die Tür der äußeren Halle war geöffnet, ebenso der Eingang zur Bibliothek. Ohne Zögern ging er hinein. Plötzlich wurde die Tür hinter ihm zugeschlagen. Wie ein Blitz wandte sich Jim um, aber bevor er seine Pistole ziehen, konnte, wurde er von starken Händen ergriffen. Er wußte gleich, daß es Bellamy war.

»Ich freue mich, Sie hier zu sehen, Captain Featherstone,« hörte er seine sarkastische Stimme dicht an seinem Ohr. »Sie sind wohl zu meiner Beerdigung gekommen? Nun, wir werden ja auch ein Begräbnis haben, aber es ist nicht meines!«

Bellamy hielt Jim fest, so daß er sich nicht rühren konnte.

»Sie kommen gerade zur rechten Zeit,« sagte er vergnügt. »Nun müssen Sie einmal ein wenig mitkommen!«

Bellamys Stärke war unglaublich, es wäre Wahnsinn gewesen, sich gegen ihn zu wehren. Ein Schlag dieser großen Faust hätte genügt, ihn zu Boden zu strecken, und dann hätte er kaum noch Gelegenheit gehabt, zu entkommen.

»Das ist Ihre frechste Tat, Bellamy, ich glaube nicht, daß Sie jetzt noch ein anderes Verbrechen begehen können,« sagte Jim ruhig, während er neben dem Alten den Gang entlangschritt, der hinter dem Speisezimmer zu der gewölbten Halle führte, von wo aus man in die unterirdischen Kerker kam.

»Es wird vielleicht auch mein letztes Verbrechen sein,« stimmte Bellamy zu. »Daß ich Sie einfach gefangennehme, muß Ihnen doch schon sagen, was ich beabsichtige. Dies ist mein letzter Mord und der wird grandios werden!«

Jim sah das Eisengitter nicht, als er die Treppe hinuntergebracht wurde. Er war davon überzeugt, daß der Alte ihn zu den tiefer gelegenen Zellen bringen wurde, wo er seine schlimmsten Feinde einkerkern wollte. Er war deshalb überrascht, als Bellamy mit einem kurzen Griff ihm die Pistole aus der Tasche zog, als sie erst an dem Fuß der Treppe angekommen waren. Bellamy ließ ihn dann los.

»Ich werde Sie hier im Dunkeln lassen.«

Er nahm die brennende Laterne, die offenbar für Jims Ankunft hierhergestellt worden war.

»Ich bin neulich in der Stadt gewesen, Featherstone,« sagte Bellamy plötzlich. »Sie werden es auch wissen, denn zwei Ihrer Beamten haben mich die ganze Zeit verfolgt. Ich habe meinen Arzt aufgesucht. Er sagt, daß ich Arterienverkalkung im höchsten Grade habe und jeden Augenblick am Schlag sterben kann. Das hat mich natürlich sehr interessiert, denn ich hatte mir noch so manches vorgenommen, bevor es mit mir zu Ende ist. Und einer meiner Pläne war, Sie hier gefangen zu setzen. Dieser Savini,« fuhr er in Gedanken fort, »hat hier zuviel gelesen. Und eines der Bücher war Geschichte. In den alten Tagen, wenn ein großer König auszog, pflegte man eine Schar seiner Söldner zu opfern – es machte ihm den Tod ein wenig leichter, zu wissen, daß andere denselben Weg gehen mußten. Und dasselbe ereignet sich nun für mich, Featherstone.«

Er nahm seine Laterne auf und schwang sie im Rhythmus hin und her, als ob er sie im Takt mit einer unhörbaren Melodie hielte, die ihm durch den Sinn ging.

»Und es ereignet sich auch für Sie, mein Junge,« sagte er.

Halb auf der Treppe wandte er sich noch einmal um und sah zurück.

»Wenn Sie etwas wünschen –« er zeigte auf die Mauer – »Sie werden Savini dort finden. Sie brauchen nur nach ihm zu klingeln. Gute Nacht!«

Er war so höflich, als ob er sich von einem ehrbaren Gast verabschiedete. Aber als er das Gitter mit einem Krachen fallen ließ und mit dem Vorhängeschloß sicherte, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht, das glücklicherweise niemand sah, denn es machte ihn noch weniger anziehend als sonst.

Sen wartete in der Halle.

»Nimm das Auto dieses Mannes, Sen, fahre es bis zur Brücke, ungefähr drei Meilen von hier. Dort läuft ein Pfad entlang, du hast ihn gesehen?« Sen nickte. »Fahre direkt ins Wasser. Du kannst zu Fuß zurückgehen oder dein Rad auf dem Wagen mitnehmen, das wird leichter sein.«

Er sah nach der Uhr, es war ungefähr fünf.

»Es sind noch zwei Stunden bis Tagesgrauen,« stellte er mit Genugtuung fest und ging zu seinem Zimmer zurück, wo jemand auf ihn wartete.

Featherstone hörte, wie die eiserne Gittertür oben zuschlug und vermutete, warum er hier gefangengesetzt worden war. Als er allein war, untersuchte er zunächst sorgfältig alle seine Taschen. Er fand nur seine Pfeife und wenn er sein Taschenmesser nicht mitrechnen wollte, so war er vollständig ohne Waffen. Seine Gefängniszelle lag in vollkommener Dunkelheit, und es war ihm unmöglich, die Hand vor den Augen zu sehen. Die einzige Lichtquelle, über die er verfügte, war das Zifferblatt seiner Armbanduhr, das so hell leuchtete, als ob die Zahlen mit Feuerschrift geschrieben wären.

Er tastete sich vorwärts, erreichte eine Wand und ging langsam an dieser entlang. Er erwartete, jeden Augenblick über den Körper Julius Savinis zu stolpern. Aber er war schon vollkommen in dem Raum umhergegangen, ohne seinen Leidensgefährten gefunden zu haben. Er hatte es schon aufgegeben und suchte nach einem Platz, wo er sich hinsetzen konnte, als er plötzlich eine Stimme flüstern hörte.

»Wer ist dort?«

»Featherstone,« antwortete Jim. »Sind Sie das, Savini?«

»Ja, ich bin es, Fay ist auch hier.«

»Wo sind Sie denn?«

»In Bellamys Luxuszelle,« erwiderte Fay. »Strecken Sie einmal Ihre Hand aus, dann fühlen Sie ein Gitter.«

Jim tat es und berührte plötzlich eine kleine schmale Hand, die er schüttelte.

»Meine liebe, arme Fay,« sagte er sanft, »so hat er Sie doch noch zwischen seine Zangen bekommen.«

»Ich würde es nicht Zangen nennen, es ist einem Grabgewölbe ähnlicher,« antwortete Fay. »Dies ist schrecklicher und schlimmer als irgendein Gefängnis, in das Sie mich früher hätten hineinstecken können.« Dann sprach sie leiser. »Wir müssen vorsichtig sein, es ist möglich, daß er oben an der Treppe lauscht.«

»Ich glaube nicht,« meinte Jim. »Ich hörte ihn den Gang entlanggehen, außerdem sagte er mir, daß ich Sie hier irgendwo finden würde. Wo sind Sie denn eigentlich?«

»In dem Gefängnisraum, in dem er die Frau gefangenhielt,« antwortete Fay. »Sie wissen doch, die Frau, nach der Sie so gesucht haben, Mrs. Held.«

»Ist sie nicht mehr da?« fragte Jim erstaunt.

Er hörte nichts mehr und nahm an, daß Fay den Kopf schüttelte.

»Ich vermute, daß noch jemand anders kommt? Ist außer Ihnen und Julius niemand in der Zelle – mein Gott!« Plötzlich erinnerte er sich an Valerie.

»Denken Sie an Miß Howett?« fragte Fay, die ihn verstanden hatte. »Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen, Featherstone. Aber sagen Sie, haben Sie ein Messer bei sich?«

»Ja, ich habe ein kleines Messer bei mir,« erwiderte er in demselben leisen Ton.

»Tasten Sie doch einmal das Eisengitter entlang,« bat sie ihn. »Es ist möglich, daß der Zementmörtel noch nicht vollständig hart geworden ist.«

Er tat so, wie sie gesagt hatte, nahm sein Messer und versuchte, die granitharte Oberfläche aufzukratzen, in der das Gitter eingelassen war.

»Das ist nutzlos. Ich kann nichts machen. Sie sind doch tatsächlich schon ziemlich lange hier – seit dem Tag, an dem Sie diese Burg verlassen haben sollen?«

»Hat Bellamy Ihnen das gesagt?« fragte Julius. »Hören Sie, Captain, wir haben die Tür, die zu unserer Zelle führt, geöffnet. Aber wir können die obere steinerne Falltür nicht zwingen.« In wenigen Worten erklärte er ihm den Mechanismus dieser Tür, die von Bellamys Bibliothek herunterführte.

»Das hätte ich eigentlich wissen sollen, daß dort eine Treppe war,« sagte Jim bitter. »In den alten Plänen der Burg wurde die Bibliothek stets Gerichtshalle genannt, und in alten Burgen steht die Gerichtshalle direkt in Verbindung mit den Gefängnissen. Gewöhnlich führt eine Steintreppe hinunter, man kann es überall beobachten, in Nürnberg, selbst im Tower und im Schloß von Chillon. Wenn ich nicht der größte Tor gewesen wäre, der jemals bei der Polizei diente, hätte ich den Fußboden untersuchen müssen. Haben Sie eigentlich eine Pistole?«

»Nein, er hat mir meinen Revolver weggenommen.«

»Ich habe mich noch niemals so schwach gefühlt, Savini, als jetzt, wo ich mich in seiner Gewalt befinde. Haben Sie ihn gesprochen?« fragte er besorgt. »Hat er irgend etwas über Miß Howett gesagt oder daß er die Absicht hätte, sie auch hierherzubringen? Jetzt wird er vor nichts mehr zurückschrecken. Nachdem er mich hier gefangen hält, hat er alle Brücken hinter sich abgebrochen.«

»Vielleicht hat Bellamy ein paar Werkzeuge in Ihrem Raum zurückgelassen,« sagte Julius. »Warten Sie, ich will sehen, daß Sie etwas Licht bekommen. Wir haben nämlich das Eisengitter verdeckt, weil wir nicht wollten, daß der Alte uns von dort aus beobachten kann.«

Fay nahm das Bettuch fort, das das letzte Ende des kleinen Tunnels bedeckte, und im Augenblick war der Gefängnisraum, in dem sich Featherstone befand, so hell, daß er alle Ecken sehen konnte. Fay verschwand und reichte ihm, als sie zurückkam, eine Tasse dampfenden Kaffees durch die Gitter hindurch.

»Wie haben Sie denn eigentlich die schwere Tür aufgebracht?« fragte Jim, und sie erzählten ihm beide von Fays Plan und seiner glücklichen Durchführung.

»Ich hatte schon die Absicht, dieselbe Methode bei diesem Eisengitter zu versuchen, aber dazu müßten wir ein Brecheisen oder sonst ein starkes Instrument haben, und das besitzen wir nicht,« sagte Julius traurig. »Wenn es Tag geworden ist, könnten Sie vielleicht einmal die Treppe von Ihrer Zelle nach oben gehen und versuchen, ob Sie sie nicht aufmachen können, Featherstone.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum er dieses Loch in die Wand gemacht hat. Sicherlich hat er es nicht getan, damit wir uns besser unterhalten können,« unterbrach ihn Fay. »Darauf möchte ich meinen Kopf wetten, Bellamy gehört nicht zu diesen Leuten. Wenn es nicht dieses schreckliche Eisengitter wäre, würde ich mich auch nicht so fürchten. Aber jedesmal, wenn ich es sehe, schaudert mich.«

Langsam wurde es Tag. Jim hatte wenigstens etwas Sonnenschein in seinem Raum. Ein Strahl des hellen Lichtes schien durch die rostige Eisentür oben am Eingang zu der Treppe. Sobald es hell genug war, stieg er nach oben, griff durch die Gitter hindurch und konnte das Vorlegeschloß fassen. Aber als er es untersucht hatte, wußte er, daß es keine Hoffnung gab, auf diesem Wege zu entkommen. Das Schlüsselloch war von einer ganz besonderen Beschaffenheit. Wenn er sich sehr weit vorbeugte, konnte er sehen, daß die Tür des Ganges oben fest zugemacht war. Auch erinnerte er sich daran, daß sie besonders stark war. Auch ein noch so lautes Rufen war nutzlos, da ja kein Dienstbote im Schloß war.

Zum erstenmal sah er das große Gelenkknie eines dicken Leitungsrohres, das aus der Wand des Wachtraumes hervorragte und durch den Boden hindurchging. Er untersuchte, was es wohl sein mochte.

»Es gibt zwei solche Rohre,« sagte Julius. »Der Alte wollte früher ein Schwimmbassin in der Nähe der Burg anlegen, deshalb hatte er das Wasser dorthin gelegt. Es hat ihn schon Tausende gekostet, bis ihm nachher einfiel, daß er es nicht brauchte. Es ist eins an jeder Seite. Ich glaube nicht, daß Sie das andere von dort aus sehen können.«

Jetzt erkannte Featherstone plötzlich, warum Bellamy das Gitter zwischen den beiden Gefängnissen angebracht hatte.


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