Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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46

Es war schon spät am Abend, aber der Mann sah repräsentabel und unverdächtig aus. Valerie kam sofort in das Wohnzimmer herunter, wo er auf einer Ecke des Stuhles saß und das Teppichmuster betrachtete. Er erhob sich sofort als sie eintrat.

»Ich bin Sergeant Brown, Miß Howett. Captain Featherstone hat mich hierher geschickt, um Sie nach Scotland Yard zu begleiten. Wir glauben, daß wir Mrs. Held gefunden haben.«

Valerie blieb erstaunt stehen.

»Wirklich? Das ist doch nicht möglich! Sind Sie Ihrer Sache auch gewiß?«

»Ja. Wir haben sie im ›Goldenen Osten‹ gefunden, das ist ein Klub, der von einem gewissen Coldharbour Smith geführt wird. Allem Anschein nach ist sie dort schon zwei Jahre gefangengehalten worden.«

»Warten Sie!« rief sie, eilte in ihr Zimmer und kleidete sich um. Ihre Finger zitterten vor Aufregung.

Sie kam wieder herunter und wollte ihren Wagen bestellen, aber der Mann erwartete sie schon im Flur»

»Mein Auto steht zu Ihrer Verfügung,« sagte er. »Captain Featherstone dachte, es wäre bequemer, wenn Sie unseren Wagen benützten.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen,« sagte sie dankbar.

Sie nahm schnell ihren Pelz, schrieb noch eine eilige Botschaft für Mr. Howett, die ihm bei seiner Rückkehr gegeben werden sollte, und stieg dann in den Wagen. Den Chauffeur konnte sie nicht erkennen, er hatte seinen Kragen hochgeschlagen.

Als sie durch das Dorf fuhren, mußten sie einmal halten, um einen Lastwagen vorbeizulassen, der mit gefällten Bäumen beladen war. Julius Savini, der am Tor des Pförtnerhauses stand, sah hinüber und erkannte in dem Lichte der Laternen, die über dem Eingangstor von Garre Castle brannten, Valerie und ihren Begleiter. Aber er wurde nicht von ihnen bemerkt, denn er stand im Schatten. Julius faßte sofort einen Entschluß. Der Lastwagen gab eben die Passage frei und das Auto fuhr an. Julius lief hinterher und schwang sich auf den hinteren Gepäckhalter. Es gelang ihm nur mit Aufbietung aller Kräfte, denn der Wagen war schon in voller Geschwindigkeit. Er war ganz außer Atem und fluchte leise, daß er diese Verrücktheit begangen hatte. Ein Polizist sah das Auto am Ende der Dorfstraße und war sehr verwundert, als er Julius hinten auf dem Gepäckhalter sitzen sah.

Die Eisenstangen schmerzten ihn, und manchmal klammerte sich Julius in Verzweiflung und Todesangst daran fest. Aber trotzdem er glaubte, daß jeder Augenblick der letzte sein könnte, hielt er doch mit großer Zähigkeit aus. Schmutzig und zerzaust fuhr er durch die hellerleuchteten Straßen der Londoner Vorstädte. Die Leute sahen ihm böse und aufgebracht nach, aber nun war er der Lage vollständig gewachsen und hatte sich entschlossen, auszuhalten, was auch kommen mochte.

Valerie sprach während der Fahrt nicht. Sie malte sich das Wiedersehen mit ihrer Mutter aus. Welche wunderbaren Möglichkeiten eröffneten ihr die letzten Ereignisse! Sie wollte sich nicht in diesen glücklichen Gedanken stören lassen. Erst als sie über den Fluß gefahren waren und sich dem Osten Londons näherten, brach sie das Schweigen.

»Fahren Sie nicht nach Scotland Yard?« fragte sie.

»Nein, mein Fräulein, der Captain wartet im ›Goldenen Osten‹ auf Sie.«

Sie erkannte den Klub wieder, aber der Eingang, vor dem der Wagen hielt, war nicht derselbe, den sie bei früheren Gelegenheiten benützt hatte. Der Mann neben ihr sprang aus dem Wagen und öffnete die Tür.

»Der Captain ist oben, mein Fräulein!«

Sie zweifelte keine Sekunde daran, daß er die Wahrheit sprach, und selbst als sie in den kleinen Raum hinter der Bar kam und Coldharbour Smith sah, ahnte sie noch nichts von der Gefahr, in der sie sich befand. Sie kannte Smith nicht, obgleich sie schon einmal eine Ausfahrt unternommen hatte, um ihn auszufragen. Aber trotzdem wußte sie sofort, daß er es war.

»Sie sind doch Mr. Smith?« fragte sie lächelnd.

»Ja, das bin ich, mein Fräulein. Der Captain wird gleich kommen. Er sagte, ich sollte Ihnen inzwischen eine kleine Erfrischung anbieten.«

Eine Flasche Champagner stand auf dem Tisch, und mit starken Händen löste er Draht und Korken.

»Er meinte, es wäre möglich, daß Sie von der langen Fahrt ermüdet wären.«

»Ich bin aber nicht müde, und ich trinke auch keinen Champagner,« entgegnete sie.

Es wurde ihr plötzlich unheimlich zumute, und eine innere Stimme sagte ihr, daß Gefahr im Anzug sei. Zum erstenmal wurde ihr klar, wie unklug sie gehandelt hatte.

»Würden Sie so liebenswürdig sein, Captain Featherstone zu rufen?«

»Er ist noch nicht hier, mein Fräulein,« sagte Coldharbour und betrachtete mit gierigen Augen ihre schöne Gestalt. »Er hat Ihre Mutter gefunden – ja, es ist Ihre Mutter.«

»Meine Mutter!« rief das Mädchen. »Sind Sie auch sicher?« Sie hatte wieder alle Gefahr vergessen.

»Ja, es ist Ihre Mutter. Sie haben sie gefunden, gerade als der alte Bellamy sie nach Südamerika schicken wollte. Der Captain hat sie auf einem Schiff gefunden, sie ist sehr krank.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Die kränkste Frau, die ich jemals gesehen habe, Miß Howett. Eine Krankenpflegerin ist Tag und Nacht bei ihr. Sie müssen die junge Dame zur ›Contessa‹ bringen.« Mit diesen Worten wandte er sich an den Mann, der Valerie begleitet hatte.

»Auf ein Schiff? Aber das geht doch nicht . . . wie weit ist denn der Weg dahin?« fragte sie bestürzt.

»Es ist keine Meile von hier entfernt. Sie brauchen sich doch nicht zu fürchten, solange der Sergeant bei Ihnen ist. Außerdem ist doch die Themse voll von Polizeibooten.«

Hätte sie ruhig nachgedacht, so hätte sie sich sicher darüber wundern müssen, daß das Auto noch unten vor der Tür wartete. Aber in ihrem Eifer, die Frau zu sehen, die sie so lange gesucht hatte, fielen ihr diese Widersprüche nicht auf, und sie dachte nicht daran, daß dieser Trick Bellamy ähnlich sah.

Der Wagen bog in eine lange, enge Seitenstraße ein, wandte sich dann nach links, fuhr an den hohen Mauern eines Warenspeichers vorbei und hielt plötzlich vor einer schmalen Passage zwischen hohen Häusern. Sie konnte hinten den Fluß sehen. In der Nähe spielten ein paar schmutzige Kinder Soldaten. Sie wunderte sich im Vorbeifahren, woher der kleine Anführer wohl seinen blitzenden Säbel hatte.

»Ich glaube, daß das Boot auf Sie wartet, mein Fräulein,« sagte der angebliche Detektiv.

Sie stand unentschlossen da. Der enge Gang erschien ihr dunkel und drohend, und sie konnte nur undeutlich die Umrisse des Bootes sehen.

»Würden Sie nicht Captain Featherstone bitten, mich hier abzuholen?« sagte sie. Ihr Mut verließ sie plötzlich.

»Es ist besser, Sie fahren hin, mein Fräulein. Es ist wirklich keine Gefahr. Wahrscheinlich hat der Captain ein Boot von der Themsepolizei geschickt.«

Aber das stimmte nicht. Sie erkannte es gleich, als sie sich hinten in das zitternde Boot gesetzt hatte. Die Leute der Besatzung sahen gewöhnlich und gemein aus, und ein unangenehmer Geruch von Whisky machte sich bemerkbar.

»Ich will wieder aussteigen,« rief sie und erhob sich. »Bitte lassen Sie mich aussteigen.«

»Setzen Sie sich hin! Sie werden das Boot zum Umkippen bringen, wenn Sie nicht vorsichtig sind, und wir werden alle ertrinken. Ich glaube nicht, daß Captain Featherstone sehr zufrieden mit Ihnen ist, wenn er erfährt, wie Sie sich benehmen.«

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als stillzusitzen. Sie zitterte und fühlte sich furchtbar hilflos. Sie sah ein Ruderboot, das mit ziemlicher Geschwindigkeit gegen die Strömung ankämpfte. Die Ruder bewegten sich im Rhythmus, fast mit maschinenmäßiger Genauigkeit. Ein Schrei, und sie wäre gerettet gewesen, denn es war ein Patrouillenboot der Strompolizei, aber sie wußte es nicht. Sie erkannte auch die furchtbare Lage noch nicht, in der sie sich befand.

Sie mußte an einer senkrecht herunterhängenden Strickleiter in die Höhe klettern, um das verlassene Deck zu erreichen.

»Sie sind alle unten,« sagte der Mann, der sie begleitet hatte.

Sie war etwas außer Atem von der Anstrengung des Kletterns.

»Ich werde Ihnen den Weg zeigen.«

Sie folgte ihm über das schmutzige Deck. Er öffnete eine Tür und bevor sie wußte, was geschah, war sie hineingegangen, und die Tür schloß sich hinter ihr. Die Salonkabine war nicht sehr groß und roch unangenehm nach Knoblauch. Die runden Fenster waren dicht geschlossen, so daß nicht ein einziger Strahl der Petroleumhängelampe nach draußen fiel. Sie wollte die Tür wieder aufmachen, aber sie wußte schon, daß ihr Versuch vergeblich war. Wenn sie doch nur daran gedacht hätte, Spikes Revolver mitzunehmen, aber sie hatte es vergessen. Hier konnte sie keine Waffe finden, obgleich sie alles fieberhaft danach absuchte.

Auf der Treppe erklangen Schritte. Die Tür wurde aufgeschlossen, ein Mann kam herein, schloß die Tür wieder hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dann sah er Valerie belustigt an.

»Mr. Smith,« sagte sie stotternd, »wo ist Captain Featherstone – und was hat dies alles zu bedeuten?«

»Was das zu bedeuten hat? Das will ich Ihnen gleich sagen. Wir beide, Sie und ich, werden uns heiraten, und wir fahren nach Rio, um dort unsere Flitterwochen zu verleben.«

Valerie starrte ihn an.

»Ich verstehe Sie nicht. Gehen Sie bitte von der Türe weg, ich will an Deck gehen. Ich muß das Schiff verlassen.«

In ihrer Aufregung versuchte sie, ihn von der Türe wegzuziehen, aber er packte sie, hielt sie in Armlänge von sich ab und lachte ihr ins Gesicht.

»Nein, meine Liebe, Sie gehen auf eine lange Reise mit mir, und ob Sie mich nun zu Anfang oder zu Ende der Reise heiraten, ist ganz gleich. Wenn Sie sich mir aber widersetzen und mir Unannehmlichkeiten machen –« sein Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich – »dann sollen Sie sehen, was ich mit Ihnen anfange.«

Seine dicken unförmigen Hände umschnürten ihre Kehle. Sie versuchte sich loszureißen, aber seine grausamen Finger preßten sich um ihren Hals, bis sie keinen Atem mehr holen konnte und ihr das Blut in den Kopf stieg.

Plötzlich löste sich sein Griff, sie stürzte auf die Knie und rang nach Atem.

»Behandeln Sie mich anständig, dann werde ich es ebenso mit Ihnen machen,« warnte er sie. »Es gibt nichts, das ich nicht für Sie tun würde, wenn Sie mich darum bitten, aber wenn Sie niederträchtig sind, dann –« er biß die Zähne knirschend aufeinander.

Sie schauderte, schwankte zum nächsten Stuhl und setzte sich. Sie versuchte, ihre wilden Gedanken zu ordnen.

»Es ist nicht gut, hier Spektakel zu machen, besonders jetzt nicht,« sagte Coldharbour Smith. »Der Kapitän ist betrunken und wenn er das nicht ist, dann ist er schlimmer als ich. Verhalten Sie sich ruhig, mein Fräulein –«

Es wurde an der Türe geklopft und eine erregte Stimme rief nach ihm. Er ging nach draußen, kam aber nach zwei Minuten wieder.

»Kommen Sie hierher,« rief er, und als sie nicht gleich gehorchte, brüllte er: »Kommen Sie hierher!«

Er packte sie am Arm, zerrte sie die Treppe hinauf und führte sie das unordentliche und schmutzige Deck entlang. Der Mann, der die Rolle des Sergeanten gespielt hatte, hob vorn am Schiff eine kleine eiserne Falltür auf und schlüpfte hinein, mit den Füßen zuerst.

»Machen Sie, daß Sie hineinkommen,« zischte Coldharbour Smith ihr zu.

Mechanisch kletterte sie an der eisernen Leiter nach unten. Ein scharfer Geruch von rostigem Eisen schlug ihr entgegen. Sie befand sich in einem engen Raum und trat auf Ketten. Es war kaum Platz genug, daß man aufrecht stehen konnte, trotzdem folgte ihr auch Smith noch und zog die eiserne Tür dicht hinter sich zu. Sie standen dicht beieinander. Coldharbour Smith war hinter ihr und hatte seine dicken Hände auf ihre Schultern gelegt.

»Ich dachte nicht, daß sie schon so bald kommen würden,« flüsterte er heiser. »Aber der Kapitän ist ja betrunken, der Kessel ist kalt, da werden sie nicht denken, daß ihnen ein Streich gespielt wird.«

»Wer hat die Sache verraten?« fragte der andere im selben Ton.

»Barnett . . . vielleicht hatten sie auch jemand zum Klub geschickt . . . Featherstone ist ein sehr umsichtiger Mensch, ein verdammter Kerl!«

Der kleine Raum, in dem sie standen, lief spitz nach vorne zu, und am engsten Teil sah Valerie zwei schmale, ovale Öffnungen, durch die die Ankerketten hindurchliefen. Von ihrem Platz aus konnte sie den Fluß sehen, und sie hörte deutlich das Geräusch eines näherkommenden Motorboots.

Sie vernahmen den Anprall, als es an dem Dampfer anlegte, und dann hörte sie eine Stimme – es war Jim Featherstone. Sie öffnete den Mund und wollte schreien, aber Coldharbours Hand legte sich mit eisernem Griff auf ihren Mund.

»Wenn Sie rufen, drehe ich Ihnen das Genick um!«

Er fürchtete sich und sie konnte fühlen, wie er zitterte. Schritte tönten auf dem eisernen Deck, dann wurde es ganz ruhig.

»Sie sind nach unten gegangen,« flüsterte der andere Mann. Smith nickte ihm zu.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Leute, die das Schiff durchsuchten, wieder nach oben kamen. Sie hörte die Schritte über ihrem Kopf.

»Das ist der Raum für die Ankerketten, dort können sie nicht sein, aber ich will den Raum durchsuchen, wenn Sie es wünschen,« sagte eine Stimme, die Valerie nicht kannte.

»Ich glaube nicht, daß sie überhaupt an Bord sind. Barnett ist bestochen worden, uns auf eine falsche Fährte zu führen.«

Coldharbour grinste in der Dunkelheit.

Oben berieten sich die Leute, dann gingen sie nach der Seite des Schiffes. Man hörte, wie sie ins Motorboot kletterten und wie sich das Fahrzeug langsam entfernte. Das Geräusch wurde schwächer und schwächer.

»Sie sind fort,« sagte Coldharbour Smith und fühlte, wie das Mädchen unter seinen Händen zusammenbrach.

Sie hoben sie an Deck und brachten sie schnell wieder in die Kabine. Währenddessen legte ein kleines Boot an dem hinteren Teil des Dampfers an, und der Mann, der darin angekommen war, kletterte langsam an einem herunterhängenden Tau an Deck.

Er war vollständig beschmutzt von dem Staub der Landstraße, und sein sonst so sorgfältig gebürstetes Haar war unordentlich und zerzaust. Seine zarten Hände waren zerkratzt und bluteten Von den ungewohnten Anstrengungen. Es war Julius Savini. Er hatte das Boot unten festgebunden und schritt nun behutsam auf dem Deck vorwärts. In den Händen trug er eine merkwürdige Waffe.


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