Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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66

Mr. Howett und Valerie saßen beim Frühstück, als Spike Holland mit einer großen Neuigkeit zu ihnen kam. Sie sah sofort an seinem Gesicht, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war.

»Ist Featherstone vorigen Abend hier gewesen?« fragte er schnell.

»Nein,« sagte Valerie besorgt, »warum meinen Sie?«

»Ich habe gerade telephonisch mit Jackson gesprochen, er ist der Assistent Featherstones,« berichtete Spike. »Er sagt, daß der Captain in der vergangenen Nacht fortgerufen worden sei. Seine Wohnung war leer, als sein Diener heute morgen dorthin kam, – auch sein Auto war fort – es wurde dann später im Fluß gefunden, drei Meilen von hier entfernt.«

Valerie Howett wurde es dunkel vor den Augen, und sie war einer Ohnmacht nahe. Spike sprang schnell an ihre Seite.

»Er hatte eine Botschaft von Garre bekommen. Die Polizei hat die Telephonzentrale kontrolliert. Das Gespräch ist von der Burg aus geführt worden. Danach kann man genau feststellen, wann Featherstone weggefahren ist,« fuhr Spike fort. »Ob er zu der Burg gegangen ist, wissen wir nicht. Jackson will nicht, daß ich mit Bellamy spreche, bis er hier ist. Er kommt von Scotland Yard mit einem Erlaubnisschein, die Burg zu durchsuchen. Ich glaube, daß es für Bellamy sehr viel Unannehmlichkeiten geben wird.«

Mr. Howett wollte eigentlich in die Stadt fahren, aber auf diese Nachricht hin entschloß er sich zu bleiben. Valerie bestand jedoch darauf, daß er doch abfuhr, denn sie wollte allein sein. Sie war davon überzeugt, daß Jim noch am Leben sei, eine innere Stimme sagte es ihr, aber ebenso stand es bei ihr fest, daß er in Bellamys Hand gefallen war.

Als die Polizeiautos ankamen, war sie auch im Ort. Der weißhaarige Chefinspektor selbst leitete die Unternehmung und interviewte Spike sofort nach seiner Ankunft.

»Sie haben doch nicht etwa Bellamy gesehen und ihn gewarnt?«

»Nein,« antwortete Spike bestimmt.

»Sind Sie auch ganz sicher, daß Captain Featherstone hierherkam – zu der Burg – meine ich?«

»Ich kann Ihnen auch nur das erzählen, was mir gesagt wurde. Ein Arbeiter, der heute morgen auf der Straße ging, sah einen Wagen, der dem Auto Featherstones sehr ähnlich war, aus dem Parktor herausfuhr und die Richtung nach London nahm.«

»Das muß auch stimmen,« sagte der Beamte. »Der Wagen zeigte die Richtung nach London, als er aufgefunden wurde.«

Er sah sich die festgeschlossenen Parktore an. An der Seite des einen Mauerpfeilers war eine elektrische Glocke angebracht, und er klingelte. Es kam keine Antwort vom Portier. Er klingelte noch einmal länger. Die Tore waren zu hoch, um darüber wegzuklettern, und der Chefinspektor faßte einen schnellen Entschluß. Ein Traktor kam gerade des Wegs und er hielt ihn an.

»Fahren Sie doch einmal mit Ihrem Wagen mit aller Gewalt gegen dieses Tor,« sagte er kurz.

»Da geht das Tor doch in Trümmer,« entgegnete der aufgebrachte Chauffeur.

»Das wollen wir doch gerade.«

Der Traktor donnerte gegen das Tor mit halber Geschwindigkeit. Mit lautem Krachen und Poltern öffneten sich die Torflügel, und der Weg war frei.

Sie traten gerade aus den Büschen heraus und konnten von den vorderen, gittergeschützten Fenstern der Burg gesehen werden, als sie einen scharfen Knall hörten. Einer der Beamten, der neben Spike ging, strauchelte, fiel auf die Knie, schaute sich wild um und brach dann in einer Blutlache zusammen.

»Schnell aus der Schußlinie,« rief der Chefinspektor und seine Leute warfen sich auf die Erde.

Bellamy war also zum Äußersten entschlossen.

Valerie hörte den ersten Schuß und wußte gefühlsmäßig, was sich ereignet hatte. Eine kleine Menschenmenge, die sich an den zerstörten Toren angesammelt hatte, wurde von der Lokalpolizei zurückgetrieben.

»Es ist gefährlich, mein Fräulein,« warnte ein Polizist. »Er feuert aus der Schießscharte in dem Turm, ich sah den Rauch dort herauskommen.«

Schon pfiff wieder eine Kugel dicht an ihr vorüber. Der Mann zog sie schnell aus der Schußlinie fort. Das Geschoß hatte das Glas einer Straßenlaterne zerschlagen und die Dachziegel eines Hauses zerbrochen.

»Das ist noch einmal gut gegangen, mein Fräulein. Ich wette, daß die für Sie bestimmt war.«

Valerie war froh, daß ihr Vater fortgefahren war, bevor die Polizei ankam, denn er würde sehr erschrocken sein über die Gefahr, in die sie sich begab. Sie handelte nicht richtig, weder ihm noch Jim gegenüber – Jim, der in diesem Augenblick als Gefangener hinter jenen grauen Mauern saß. Und doch konnte sie nicht fortgehen, bis sie wußte, was sich ereignen würde.

Spike kam auf sie zu, sein Gesicht war rot vor Aufregung.

»Bellamy verteidigt die Burg,« rief er mit einem fast hysterischen Lachen. »Ich sagte ja Syme, daß sich die Sache entwickeln würde, aber der arme alte Narr glaubte es nicht.«

Krach!

»Er schießt weiter,« schrie Spike.

»Ist Captain Featherstone hier?«

»Vermutlich.« Ihr schien das die größte Gefühllosigkeit. »Sie werden niemals die Burg stürmen können. Der Polizeiinspektor schickt nach Reading um eine Kompagnie Soldaten, und sie glauben, daß sie Artillerie mitbringen um die Tür einzuschießen, aber das würde nicht viel nützen.« Ohne ein Wort der Entschuldigung eilte er fort zu dem Gasthof und zu dem Telephon, um den bestürzten Mr. Syme zu sprechen.

Später erfuhr Valerie, daß man in London abgeneigt war, militärische Kräfte zur Einnahme der Burg zu verwenden, da Bellamy Bürger eines Landes war, das man nicht beleidigen wollte. Man hatte versucht, in telephonische Verbindung mit Bellamy zu kommen und nach verschiedenen Mißerfolgen wurde schließlich eine Verbindung hergestellt.

»Sie ergeben sich besser, Bellamy,« sagte der Polizeiinspektor. »Es wird am Ende leichter für Sie sein.«

»Ich weiß, was am leichtesten für mich ist,« sagte Bellamy. »Geben Sie mir zwölf Stunden Bedenkzeit.«

»Sie können eine Stunde haben.«

»Zwölf,« war die kurze Antwort. »Es wird länger als zwölf Stunden dauern, bevor Sie mich auf irgendeine andere Weise haben.«

Valerie kam noch einige Male zu dem Parktor. Die Polizeikräfte waren verstärkt worden, und es wurde ein großer Cordon gezogen, um die Annäherung jedes Unbeteiligten zu verhindern. Gewehre wurden für die Polizisten gebracht, und das planlose Schießen auf beiden Seiten ging während des Nachmittags fort.

In großer Sorge kehrte sie am Nachmittag nach Hause zurück. Alle Dienstboten waren fortgegangen, um dieses seltsame Schauspiel zu sehen. Es kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie ging zu der Gartenmauer, legte eine Leiter an und stieg auf die Spitze. Von hier ans hatte sie eine klare Übersicht über das Feuergefecht. Die Schüsse und der Rauch kamen von den Schießscharten oberhalb der Burgkapelle. Es war ein außerordentlich guter Platz, denn von hier aus beherrschte man nicht nur den Eingang zu dem Pförtnerhaus, sondern auch alle anderen Stellen, von denen aus man sich dem Gebäude nähern konnte. Dort hinter den alten grauen Steinmauern, die so manche Belagerung ausgehalten und Blüte und Niedergang der englischen Ritterschaft gesehen hatten, über denen die Banner der Kreuzfahrer geweht hatten, als sie ins heilige Land zogen, stand ein Mann, der alle Gesetze der Welt verachtete.

Plötzlich schlug ein Geschoß dicht neben ihr auf der Gartenmauer ein, so daß der Stein zersplitterte. Im Nu eilte sie die Leiter hinunter, aber ein zweiter Schuß traf die Oberfläche der Mauer an der Stelle, wo sie eben gestanden hatte. Ein Steinsplitter streifte ihre Hand und verwundete sie leicht.

Bellamy hatte diese Schüsse nicht abgefeuert. Er wandte sich dem stummen Chinesen zu, der an einer anderen Schießscharte kauerte. Plötzlich packte ihn Bellamy am Arm, richtete ihn auf und schaute ihn drohend an.

»Das ist nun schon das zweitemal, daß du nach ihr geschossen hast, du dummer Kerl! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen?«

Über Sens Gesicht huschte ein merkwürdiges Lächeln, dann lud er sein Gewehr wieder.

»Schieß doch lieber auf die Büsche, wo die Polizisten sind!« sagte der Alte.

Bellamy selbst ging nach unten in sein Schlafzimmer, um die eisernen Fensterläden herunterzulassen, denn in dieser Nacht würde der Gegner eventuell versuchen, die Burg zu stürmen.

Nachdem er dies getan hatte, ging er in die Halle, um das Fallgatter zu besichtigen, das nur wenige Besucher jemals gesehen hatten. Es hing in einem Schlitz der Steinmauer, war den Blicken verborgen und konnte heruntergelassen und aufgezogen werden mit derselben Leichtigkeit, mit der man die äußeren Türen öffnen konnte. Er machte die Stricke, die sie festhielten, lose, und zog daran. Langsam kam das Gatter herunter und schloß den Eingang. Als er es unten befestigt hatte, eilte er den Gang entlang zu den Kerkerzellen.

»Sind Sie da, Featherstone?«

Jim antwortete ihm.

»Ihre Freunde sind draußen, vermutlich wissen Sie das schon!«

»Ich hörte die Schüsse.«

»Zuerst habe ich geschossen, aber jetzt haben sie Gewehre unter den Mannschaften ausgeteilt. Über Nacht werden sie irgend etwas unternehmen, Featherstone.«

Langsam kam Jim die Treppe herauf, faßte an zwei der eisernen Gitterstangen und schaute aus dem Gefängnis hinaus.

»Sie werden Sie fassen, Bellamy,« sagte er ruhig.

»Ja, wenn ich tot bin. Glauben Sie, daß ich mich deshalb gräme?« Er schaute gelassen in Featherstones Gesicht, der ihn unentwegt ansah. »Sie irren sich, ich bin niemals in meinem Leben so zufrieden und glücklich gewesen wie jetzt. Ich fühle mich so vergnügt, daß ich Sie und die andern alle herauslassen konnte, aber dann würde ja alles verdorben werden. Ich bin in so guter Stimmung, weil ich weiß, daß Sie hier eingesperrt sind, und weil ich weiß, daß die Polizisten draußen sind. Die Burg kann Widerstand leisten, und ich stehe hier und lache Sie aus! Das ist etwas ganz Wunderbares, Featherstone! Beneiden Sie mich nicht darum?«

»Ebenso könnte ich auch eine ekelhafte Kröte beneiden,« sagte Jim. Er hatte noch rechtzeitig seine Hände fortgezogen, denn die schweren Schuhe Bellamys donnerten gegen das Eisengitter, wo er noch eben seine Finger gehabt hatte.

Jim ging wieder die Treppe hinunter und kroch zu der vergitterten Öffnung, um mit Fay zu sprechen.

»Ich muß schon sagen, dieser Abel Bellamy ist ein angenehmer junger Mann,« meinte er.

»Was ist denn passiert, Featherstone? Wer schießt draußen?«

»Die Polizeitruppen – in sehr starker Zahl. Die Lage ist offenbar so ernst, daß man sie mit Gewehren bewaffnet hat. Der Alte hat sich wahrscheinlich auf ein Gefecht mit ihnen eingelassen, um die Burg zu verteidigen.«

Sie nickte.

»Dann ist es also nur noch eine Frage von Stunden,« erwiderte sie ruhig. »Featherstone, was denken Sie jetzt von Julius?«

Er zögerte.

»Ich möchte nichts mehr gegen ihn sagen, nach allem, was er für mich und Miß Howett getan hat.«

»Aber Sie halten ihn doch noch für einen schlechten Menschen, nicht wahr? Sie haben gehört, wie ich ihn früher bis aufs Blut verhöhnt habe. Vielleicht glauben Sie, daß ich ihn verachte – aber das stimmt nicht. Ich liebe ihn, und oft möchte ich gern wissen, ob er es weiß. Leute wie wir kümmern sich nicht viel um Liebe, und selbst eine Trennung bedeutet uns nicht viel mehr, als daß wir gut für die Zukunft vorsorgen. Aber ich liebe ihn jetzt so sehr, daß ich mich beinahe glücklich fühle, wenn ich mit ihm zusammen sterbe.«

Er streckte seine Hand durch das Gitter und streichelte ihren Arm.

»Sie sind ein gutes Kind, Fay. Wenn wir jemals wieder hier herauskommen sollten, dann –«

»Erzählen Sie mir nicht, daß Sie irgendeine gute Stelle für mich suchen wollen,« bat sie. »Ich würde es doch immer mehr vorziehen zu stehlen als Fußböden zu scheuern. In der Beziehung bin ich nicht stolz.«

Jim hörte Hammerschläge und eilte die Treppe hinauf, um zu sehen, was das bedeutete. Bellamy stand mit nacktem Oberkörper dort und nagelte schwere Holzbalken gegen die Tür, die aus dem Wachtraum in den Gang führte. Er arbeitete mit fieberhafter Eile.

»Wozu machen Sie das, Bellamy? Wollen Sie uns hier noch fester einschließen?«

Bellamy drehte sich nach ihm um.

»Ach, Sie sind es. Ja, ich mache die Luke hier dicht.«

Jim beobachtete ihn eine Weile schweigend, wie er fußlange Nägel in die Balken trieb. Querholz erhob sich über Querholz, und die Holzmauer reichte schon bis zu den Knien Bellamys.

»Man wird Sie aufhängen, wenn man Sie fängt, Bellamy.«

»Bilden Sie sich nichts ein – mich kriegen Sie nicht!« Er richtete sich auf und streckte seine Arme nach oben.

Jim handelte blitzschnell. Als Bellamy mit dem Hammer in die Nähe der Eisenstangen kam, ergriff er das obere Ende des Hammers und entriß Bellamy das Werkzeug durch einen schnellen Drehgriff. In weitem Bogen warf er es die Treppe hinunter.

»Geben Sie mir den Hammer zurück!« brüllte der Alte. »Geben Sie mir ihn zurück, oder ich schieße Sie auf der Stelle tot!«

»Kommen Sie doch herunter und holen Sie sich ihn!« höhnte Jim.

Er wartete unten am Fuß der Treppe und war bereit, den Hammer auf ihn zu werfen. Aber Bellamy führte seine Drohung nicht aus. Jim hörte seine Schritte, als er sich auf dem Gang entfernte. Fünf Minuten später nahm das Gewehrfeuer oben von der Burg aus wieder an Stärke zu. Jim vermutete richtig, daß Bellamy seinen Posten an der Schießscharte wieder eingenommen hatte.


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