Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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26

Der neue Hausmeister hatte wie sein Vorgänger das sogenannte Königszimmer in dem Flügel der Burgkapelle bezogen. Es war der einzige Raum, der in diesem Teil des Hauses bewohnt wurde, und man gelangte durch einen langen Gang dorthin. Die einfachen Schießscharten in der Wand waren zu kleinen, schmalen Fenstern erweitert worden, von denen aus man den Haupteingang zur Burg überschauen konnte. Der Hausmeister war schon lange in sein Zimmer gegangen, bevor Mr. Smith fortging, denn er hatte viel zu tun.

Bei seiner Ankunft brachte er nur zwei bescheidene Gepäckstücke mit. Eins enthielt einen weiteren Anzug und Wäsche, in dem andern befanden sich gewisse Geräte, die ein wissenschaftlicher Instrumentenmacher in größter Eile extra für ihn angefertigt hatte. Er breitete die etwa fünfzig Zentimeter langen Eisenstangen auf dem Tisch aus. Oben an der Spitze hatten sie eine Öse, ähnlich wie Nähnadeln, und darin waren kleine Thermometer befestigt, die von halbkreisrunden Schutzblechen umgeben waren. Mit Genugtuung betrachtete er die Apparate. Dann wandte er sich wieder der großen Tasche zu und suchte einen Schlegel heraus, dessen Kopf aber aus Gummi angefertigt war.

Ganz unten in der Handtasche lag ein Strick mit vielen Knoten, an dessen einem Ende ein Stahlhaken angebracht war. Diesen befestigte er an dem einen Pfosten seiner eisernen Bettstelle und zog daran. Da die Bettstelle an der Wand in der Nähe des Fensters mit eisernen Haken befestigt war, war es unnötig, nach einer anderen, besseren Befestigung Umschau zu halten. Er nahm den andern Anzug und ein paar weiche Filzschuhe heraus. Die Natur draußen lag im tiefsten Frieden, der Halbmond übergoß die Landschaft mit seinem silbernen Licht und ließ den ganzen Park in sanften Umrißlinien erscheinen.

Der Hausmeister drehte das Licht ab und ging in die Halle.

Es war zehn Minuten nach zwölf, und er hörte, wie Smiths Auto eben abfuhr. Abel Bellamy kam von dem Hundekäfig, die vier Tiere kamen hinter ihm her.

Der Hausmeister war der einzige Angestellte, der noch auf war. Julius hatte ihm das Aufschließen der Türen morgens übertragen, denn er liebte die Hunde nicht.

»Ist Savini schon zu Bett?« fragte Bellamy, als er die Tür von innen verriegelte.

»Jawohl, mein Herr,« erwiderte der Hausmeister. Die Hunds beschnüffelten seine Schuhe, und der wildeste knurrte bedenklich.

»Sie fürchten sich wohl nicht vor Hunden? Nun ja, es liegt auch kein Grund dazu vor, wenn ich dabei bin. Aber lassen Sie sich bloß nicht verleiten, über Nacht einmal durch das Haus zu gehen, mein junger Freund.«

Als ob er die Warnung seines Herrn bekräftigen wollte, hob der eine Hund, der wie ein Wolf aussah, seinen Kopf zu dem Hausmeister und bellte laut.

»Willst du wohl ruhig sein?« fuhr ihn Abel an, aber im geheimen war er sehr zufrieden mit ihm. »Sie können jetzt zu Bett gehen.«

Der Hausmeister ging die Treppe hinauf und drehte sich nicht um, obwohl einer der Hunde hinter ihm herlief und ihn beschnüffelte.

Sobald er in seinem Zimmer angekommen war, schloß er die Tür und zog sich um. Drei Minuten später ließ er sich Hand über Hand an dem Strick hinunter, nachdem er die ganzen anderen Instrumente schon vorher vorsichtig auf den Boden hinabgelassen hatte.

Unten knüpfte er den Bindfaden auf, der sie zusammenhielt und begann seine merkwürdige Arbeit. Dicht unter der Burgkapelle klopfte er einen der eisernen Bolzen in den Boden. Der Gummischlegel verursachte fast gar keinen Lärm. Nachdem er damit fertig war, ging er im Schatten der Mauer weiter, hielt nach ein paar Schritten wieder an und schlug ein zweites Eisen ein. Der Hausmeister hatte den eisernen Stab so weit in den weichen Boden getrieben, daß er vollständig darin verschwunden war. Plötzlich fiel ihm ein, daß es schwer sein würde, den Bolzen wieder zu finden. Er suchte schnell ein paar Steine und drückte sie an der betreffenden Stelle in den Boden.

So kreiste er die ganze Burg ein, bis er zu dem Platz zurückkam, wo er den ersten eisernen Stab eingeschlagen hatte. Nach einer Weile zog er ihn heraus und betrachtete das Thermometer im Lichte seiner Taschenlampe. Es zeigte sechs Grad, also eine normale Bodentemperatur. Er ging weiter und zog die langen Bolzen nacheinander heraus. Alle Thermometer zeigten ungefähr denselben Stand. Bis auf einen hatte er alle Stäbe wiedergefunden. Er hielt nach den Steinen Umschau, die er an die Stelle gelegt hatte, aber in der Dunkelheit verfehlte er sie und suchte lange ohne Erfolg.

Er war noch damit beschäftigt, als er plötzlich hörte, daß ein Fenster über ihm aufgemacht wurde. Er drückte sich ganz dicht an die Mauer und sah jetzt erst, daß er sich unmittelbar unter Bellamys Schlafzimmer befand.

»Dort ist er!« brüllte Bellamy mit rauher Stimme.

Einen Augenblick dachte der Hausmeister, er sei entdeckt, aber als er quer über den Rasen schaute, vergaß er sofort die gefährliche Lage, in der er sich selbst befand.

Aus dem schützenden Schatten der nördlichen Umfassungsmauer hatte sich eine Gestalt gelöst und bewegte sich jetzt auf eine Gruppe von Sträuchern zu, die sich quer in den Rasen hineinschoben und bis zur Ostmauer verliefen.

Es war eine Frau, und er vermutete sofort, wer es war. Ohne Rücksicht auf seine Umgebung eilte er zu ihr hin.

Bellamy war nicht sogleich ins Bett gegangen, die Entdeckungen des heutigen Tages hatten ihn doch zu sehr aufgeregt, er mußte noch nachdenken. Er stellte einen Stuhl an das offene Fenster, setzte sich nieder, legte die Ellenbogen auf die Fensterbank und schaute in den schweigenden Park hinaus, der vom Mondlicht überstrahlt war. Bellamy konnte alles genau überschauen bis zu der Umfassungsmauer. Aber weder die Schönheit der Natur noch die Geheimnisse der Mondnacht machten irgendwelchen Eindruck auf ihn. Seine Gedanken waren fern. Er dachte an die Zeit vor einundzwanzig Jahren. Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Es gab Tausende, die den Namen Howett trugen, und es gab Hunderte von Valerie Howetts in der Welt. Aber eine Valerie Howett, die von Montgomery County stammte – das gab der Sache eine ganz bestimmte Bedeutung.

»Wenn sie es nun wirklich war!« Er lächelte spöttisch und zeigte seine weißen Raubtierzähne in einem erbarmungslosen Grinsen. Welch eine wunderbare Nachricht konnte er dann der ergrauten Frau überbringen! Dieser Gedanke belebte ihn wieder, machte ihn jung und ließ sein Herz schneller schlagen als in den letzten sieben Jahren.

Er stand auf und schaute durch das Fenster. War das nur ein Schatten oder spielte ihm das unsichere Mondlicht einen Streich? Er hätte schwören können, daß sich eine schlanke Gestalt dort drüben im Schatten der Rhododendronbüsche bewegte. Jetzt sah er sie wieder, als sie über eine freie Stelle zwischen den Sträuchern eilte. Es konnte keiner der Dienstboten sein, er hatte ihnen doch streng befohlen, über Nacht im Hause zu bleiben. Er rief laut zum Fenster hinaus, wandte sich um und eilte auf den Korridor, wo er das Tappen der Hunde hörte. Zwei von ihnen rannten sofort auf ihn zu und rieben ihre Köpfe an seinen Knien. Die beiden andern waren unten in der Halle. Er sah ihre Augen in der Dunkelheit leuchten und pfiff ihnen leise.

Geräuschlos zog er die gutgeölten Riegel zurück und öffnete die Haupttür. Er hielt die Hunde noch einen Augenblick an, um seiner Sache ganz sicher zu sein. Ja, dort drüben sah er die Gestalt wieder!

»Vorwärts, faßt ihn!« brüllte er und die vier Hunde sausten davon.

Sie eilten fast lautlos über den grünen Rasen. Aber der Eindringling drüben erkannte die Gefahr, und auch der Hausmeister sah die Hunde. Die Gestalt lief wieder in den Schatten der Bäume zurück und eilte an der Mauer entlang. Zwei der Hunde erspähten ihr Opfer, aber nur einer nahm die Spur auf.

Valerie Howett lief, so schnell sie konnte. Ihr Herz schlug wild, ihr Atem ging schnell, und sie keuchte schwer. Der Hund, der sie verfolgte, kam näher und näher, und dahinter hörte sie menschliche Fußtritte. Sie erreichte wieder die schützenden Bäume. Sie war nur von dem einen Gedanken beherrscht, ob es ihr noch glücken würde, die Leiter zu erreichen. Sie durfte sich nicht umsehen – das war auch nicht notwendig, denn sie hörte das Jappen des Hundes dicht hinter sich. Sie dachte nicht an den Revolver, den sie in der Tasche trug, obwohl er bei jedem Sprung gegen ihre Hüfte schlug.

Das Gehölz, durch das sie eilte, lag etwas erhöht. Sie lief einen kleinen Hügelpfad hinauf, aber es wurde ihr schwerer und schwerer, weiter zu kommen. Und dann sprang der Hund plötzlich zu. Sie hörte das Schnappen seiner Zähne, aber er hatte ihr Bein nicht gefaßt. Durch diesen Fehlsprung war das Tier etwas zurückgeblieben. Die Gefahr gab ihr übermenschliche Kräfte und beflügelte ihre Schritte noch einmal. Aber jetzt mußte sie wieder über eine offene Stelle. Sie hatte es nicht bemerkt, bis sie aus den Sträuchern herauskam. Die Spitze des Hügels lag vor ihr.

Ihre Eile trieb sie vorwärts, sonst würde sie vor Schrecken zusammengebrochen sein, denn klar und scharf sah sie eine schlanke, grüne Gestalt vor sich mit geisterhaft weißem Gesicht, das sie anstarrte. Ein langer Bogen blitzte grün im Mondlicht.

Valerie konnte nicht anhalten, sie mußte weitereilen. Sie sah, wie der Bogen gehoben wurde, sie hörte die Sehne schwirren. Ein schwerer Körper prallte an ihre Schulter, sie erkannte sekundenlang einen gelb und schwarz gefleckten Hund, der sich im Todeskampf streckte – dann brach sie ohnmächtig zusammen.


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