Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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54

Am nächsten Tag saßen fünf Menschen vergnügt im Carlton-Hotel zusammen. Es war Sonntag, und das große Lokal war weniger besucht, aber für Jim und Valerie waren noch viel zu viel Leute da.

Mr. Howett sah düster und nachdenklich aus und war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er jedesmal aufmerksam gemacht werden mußte, wenn ein Kellner seinen Teller wechselte und ein neues Gericht angeboten wurde. Es war merkwürdig, daß er sich erst an der Unterhaltung beteiligte, als Julius ihn ansprach. Savini erzählte gerade noch von der Flucht, als Spike Holland in den Speisesaal kam. Wenn sich der Reporter hier sehen ließ, so war es unweigerlich ein Zeichen, daß er von irgend jemand eingeladen war, der sich im Hintergrund hielt. Sein Gastgeber war jener vornehme Herr, den Valerie vor ihrer Übersiedlung nach Lady's Manor im Carlton-Hotel gesehen hatte.

Jim erhob sich und grüßte John Wood, als er an ihrem Tisch vorüberging. Nach einer Weile kam Spike zu ihm herüber.

»Wer am Sonnabend einen Mord begeht, müßte sofort aufgehangen werden,« sagte er böse. »Alle Sonntagszeitungen sind voll von der Geschichte mit dem Grünen Bogenschützen, und das ist doch eigentlich mein Reservatrecht, Captain Featherstone. Ich habe von Ihnen nicht ein Wort erfahren, bis ich es in den Zeitungen las.«

»Das ist nicht schön,« lächelte Jim. »Aber ich bin nicht dafür verantwortlich, Spike, sonst hatten Sie den Löwenanteil der Nachrichten bekommen. Aber nach dem Essen werde ich Ihnen erzählen, wie es sich wirklich abgespielt hat. Wie ich sehe, sind Sie in der Begleitung Ihres Kinderfreundes?«

»Ja, Mr. Wood ist gestern angekommen und verbrachte die Nacht in meiner Wohnung. Er gründet jetzt ein Kinderheim in England und möchte dazu mit dem alten Bellamy verhandeln – er will nämlich Garre Castle kaufen. Was halten Sie von der Idee? Er sagte mir, er würde nicht eher ruhen, als bis er die ganzen zinnenbekrönten Mauern mit zweijährigen Kindern besetzt hätte, die den Grünen Bogenschützen mit ihren Klappern in die Flucht jagen sollen. Es ist doch merkwürdig, daß er annimmt, Garre Castle würde ein idealer Sitz für ein solches Heim sein. Und obwohl er Bellamy ganz und gar nicht leiden kann, will er ihn doch diese Woche noch aufsuchen.«

»Kennen Sie ihn genau?« fragte Mr. Howett, der plötzlich Interesse an dieser Unterhaltung zeigte.

»Nicht gerade sehr gut. Aber er ist wirklich ein lieber Mensch und es lohnt sich schon, ihn kennenzulernen. Nebenbei bemerkt, Mr. Howett,« fragte Spike obenhin, »waren Sie vor fünfzehn Jahren schon einmal in London?«

Mr. Howett nickte.

»Ich war neulich in der Gesellschaft für Bogenschießen,« fuhr Spike fort, »und habe dort Nachforschungen angestellt, um dem Grünen Bogenschützen auf die Spur zu kommen. Dabei sah ich Ihren Namen – L. B. Howett. Sie haben ja damals bei einem Preisschießen am besten abgeschnitten.«

»Ja, ich habe mich in jener Zeit ein wenig dafür interessiert,« erwiderte Howett kurz. »Schon vor vielen Jahren hatten wir eine Gesellschaft für Bogenschießen in Philadelphia. Ich glaube, sie ist jetzt eingegangen. Ich erinnere mich auch, daß ich mich während meines Besuches hier an einem Preisschießen beteiligte. Ich fühlte mich damals sehr vereinsamt und las die Ankündigung der Veranstaltung in den Zeitungen. Ich kann mich aber nicht mehr darauf besinnen, mit welchem Erfolg ich daran teilnahm.«

»Aber, lieber Vater, ich wußte niemals, daß du dich für Bogenschießen interessiertest,« sagte Valerie erstaunt.

»Es interessiert mich auch jetzt nicht mehr,« antwortete Mr. Howett und suchte der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben.

Julius horchte aufgeregt zu, aber das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu.

»Mr. Wood sieht doch sehr gut aus,« sagte Valerie, als sie Spike nachsah, der zu seinem Tisch zurückging. »Ich kann mich nicht besinnen, jemals ein so faszinierendes Gesicht gesehen zu haben.«

»Es tut mir leid, das zu hören,« sagte Jim.

»Für wie alt halten Sie ihn?« fragte sie, ohne auf seine Bemerkung zu achten.

»Das ist schwer zu sagen. Er kann achtunddreißig sein, er kann aber auch ebensogut achtundzwanzig sein. Offenbar ist sein Haar vor der Zeit grau geworden.«

»Erzählen Sie mir mehr von ihm,« bat sie.

Kein Mann rühmt einer geliebten Frau gegenüber gern die Vorzüge eines anderen, aber Jim sprach mit bewunderungswürdiger Selbstüberwindung von John Wood und seiner auffallenden Vorliebe für kleine Kinder.

»Ich dachte, ich hätte Ihnen das alles schon früher berichtet,« sagte er schließlich. »Sicher hat er ein bemerkenswertes Gesicht und ist ein hervorragender Mensch. Er hat kein anderes Interesse im Leben als sich um die Wohlfahrt der Kinder zu kümmern. Ich habe wohl niemals einen Mann getroffen, der sich mehr für seine Liebhaberei interessierte als er.«

»Er soll Bellamy nicht gern haben, kennt er ihn denn?«

»O ja, er kennt ihn sehr gut. Er war doch ein Freund von Bellamys Neffen, der ihm all sein Vermögen hinterließ, als er starb. Ich habe das Testament durchgesehen, es wurde in England aufgesetzt und ist in Somerset House registriert, und obgleich die Erbschaft keinen großen Wert besaß – sie bestand hauptsächlich aus Büchern und wissenschaftlichen Instrumenten – bestätigt doch die Tatsache, daß er ihn zum Universalerben einsetzte, seine Zuneigung zu ihm. Zufällig konnte Wood mir einige Hinweise geben, die wertvoll für die Auffindung Ihrer Eltern sein können, Valerie,« setzte er mit leiser Stimme hinzu. Dann erzählte er ihr kurz die Geschichte von dem geraubten Kind und dem Eisenbahnunglück. »Zuerst dachte ich, es handelte sich um Sie, aber Sie hätten in diesem Fall schon drei Jahre alt sein müssen, während Sie doch offenbar kaum ein Jahr alt waren, als Sie zu den Howetts kamen.«

Sie nickte nachdenklich.

»Ich glaube, ich habe auch etwas von dem River Bend-Unglück gehört, aber ich kann es nicht gewesen sein, denn ich habe später die Kleider gesehen, die ich trug, als ich zu meinen Pflegeeltern kam.«

Jim war überrascht, daß Mr. Howett nach Lady's Manor zurückkehren wollte. Ei dachte, er hätte sich durch die schrecklichen Erfahrungen, die seine Pflegetochter dort gemacht hatte, warnen lassen und würde sie nun entweder in der Stadt lassen oder sie nach Amerika schicken – diese letzte Möglichkeit stimmte ihn allerdings sehr traurig.

Aber Mr. Howett fuhr schon am Nachmittag mit Valerie nach Lady's Manor ab. Jim begleitete sie zum Wagen. Die Leichenschau für Coldharbour Smith war auf Mittwoch festgesetzt, und obgleich er Valerie gern die Zeugenaussage erspart hätte, waren doch gerade ihre Angaben dringend notwendig.

Er kehrte in die Vorhalle zurück, um Mantel und Hut zu holen, nachdem das Auto abgefahren war. Er traf dort auch Mr. Wood und Spike Holland, die leise miteinander sprachen. Er wollte sie in ihrer Unterhaltung nicht stören und ging mit einem Lächeln an ihnen vorüber.

Am Sonntag war Jims Besuch in Scotland Yard gewöhnlich eine Formsache. Aber infolge der neuen Entwicklungen im Falle des Grünen Bogenschützen wartete diesmal viel Arbeit auf ihn. Der wachthabende Beamte hielt ihn am Eingang an, als er vorüberging.

»Inspektor Fair von der Flußpolizei wartet in Ihrem Bureau. Ich sagte ihm, daß Sie bald kommen würden. Er hat Ihnen sicher Wichtiges mitzuteilen. Ich habe deswegen auch schon an Ihre Wohnung telephoniert.«

Jim hatte diesen Besuch erwartet, aber er war erstaunt, daß der Mann ihn so dringend zu sprechen wünschte. Der Inspektor war ein wetterharter Mann, der mehr nach einem Seemann als nach einem Polizeibeamten aussah.

»Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, Captain Featherstone. Aber Sie besinnen sich doch darauf, daß wir letzte Nacht einen Freund von Ihnen in dem Boot trafen, – es war doch Mr. Howett, wenn ich nicht irre?«

»Mr. Howett, jawohl.«

Inspektor Fair nahm zwei Gegenstände von dem Boden auf, die hinter dem Klubsessel verborgen lagen, und legte sie auf Jim Featherstones Schreibtisch. Der eine war ein kurzer, starker Stahlbogen, der andere ein dazugehöriger grüner Pfeil.

»Wo haben Sie dies gefunden?« fragte Jim überrascht.

»In Mr. Howetts Boot,« antwortete Inspektor Fair.


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