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Die Schere der Atropos.

Kurz vor Mitternacht stakte ich so rasch wie möglich los, wobei ich die belebtesten Stadtteile mied. Aber Dunkelheit, Enge, Straßenschmutz ließen mich nur langsam vorwärts. Endlich gelangte ich bei dem nun ruhigen Hafen zu einer halbausgebauten Werft. Das Wetter war günstig. Der Wind hatte keine feste Richtung, wechselte zwischen allen Himmelsstrichen. Schwarze, weiße Wolkengeschwader rangen miteinander; ab und zu, wenn sie über dem Mond zusammenprallten, verdunkelte sich die Erde fast völlig. Das Hallo der Leute, die vom Strande ihre Schiffe um Boote anriefen, und das »Alles richtig!« der Sepoywachen waren die einzigen vernehmlichen Laute. Außerhalb der Stadt wurde mir leichter, meine Schritte länger, als ich die freie See rechts, die Berge vor mir hatte. Jetzt glaubte ich mich außer Gefahr. Ich kam an einen Holzzaun und eine kleine Reihe von Kabusen, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Ein Posten trat aus dem Schutz einer Hütte: »Halt! Wer da?«

Ich wollte verhüten, daß er Lärm schlug; das wäre bestimmt geschehen, wenn ich nicht beigedreht hätte. Deshalb gehorchte ich und erwiderte auf hindostanisch: »Gut Freund!«

Nun fragte er mich aus wie üblich: wohin ich ginge, in was für Geschäften. Auf meine Antwort versetzte er: »Ohne Erlaubnisschein dürft Ihr hier nicht vorbei.«

»Weiß ich, – hab einen.« Dabei kramte ich aus den Taschen einen Brief oder ein andres Papier heraus und schritt mit der harmlosesten Miene auf ihn zu: »Da!«

Er hieß mich Abstand halten und fällte das Gewehr. Ich auf ihn los, packte ihn bei der Kehle, daß er nicht mucksen konnte, und legte ihn im Nu auf den Rücken. Die Büchse entfiel ihm, und der kleine wütende Bombaysoldat bot alle Kraft auf, sich von mir freizumachen und die Oberhand zu gewinnen; doch hatte er nicht mehr Aussicht als eine Katze gegen einen Bullenbeißer. Ich preßte ihn, bis er fast erwürgt war. Als dann der Mond abermals hinter die Wolken trat, schmiß ich sein Bajonett nach rechts, seine Knarre nach links, ließ locker, sprang auf und huschte in der alten Richtung davon, als ob ich in die Stadt zurück wolle. Aber ich lief grade entgegengesetzt und schlug einen weiten Haken um die Werft. Als ich weit genug zu sein glaubte, wandte ich mich von neuem seitlich der See zu. Mehrmals war mir, als ob mir jemand nachspüre. Ich stoppte und schaute mich um. Wieder auf gebahntem Wege, dünkte mich, als schleiche eine Gestalt längs einer Mauer hin, woran ihr Widerschein sich abzeichnete. Ich zog den Kris, kehrte, suchte aber bei dem schütteren Halblicht vergeblich. Ich redete mir ein, es sei ein Trugbild meiner erregten Sinne gewesen, und trottete weiter.

Als der Mond wieder auftauchte, gewahrte ich zwischen mir und der See hart am Strand ein Gebäude, – ein öffentliches Schlachthaus, wie ich wußte. Etwas weiter unten war ein eingeplankter Bauplatz, auf dem ein Schiff gezimmert oder ausgebessert war. Noch eine halbe Meile seewärts erwartete mich meine Prau.

Auf einem Erdhaufen verhielt ich, ob nicht das Boot in Sicht sei. Eine Wand des Schlachthauses ging nach dieser Seite, und ich lehnte mich dran. In dem Augenblick erwuchs durch einen Strahlenkegel des Mondes hinter mir mein Schatten schräg auf dem weißen Grund, – ein Riesenarm zückte eine Waffe, mächtig wie ein Speer. Ich fuhr herum und deckte mich mit der linken Hand, um die mein Wolltuch gewickelt war; denn es war ein Mensch, der mich eben mit einem Kris abfertigen wollte. Der Stich drang durch einige Falten des dichten Kamelhaars; aber die Spitze wurde abgelenkt, glitt an den Hüften hinab. Ich schrie auf, zuckte zurück, erwischte die kleine Pistole, die Aston mir geschenkt hatte, und drückte sie dem Angreifer ins Gesicht ab. Aber das Birminghamer Spielding versagte. Verfluchter Pfuscher! Ich warf's fort und griff zu dem Kris, den ich dank dem Reis vollendet beherrschte. Ich stand höher, – der Mordbube konnte den Stoß nicht wiederholen. Er glaubte, schon der erste habe mich verwundet. Nun wußte er, daß die Klinge vergiftet war und ich genug hätte, auch wenn nur die Haut geschlitzt wäre; so strebte er zu fliehen.

Ich ihm sofort auf den Hacken! Er hatte leichte Füße, – ich auch. Seinen Wendungen und Drehungen nach war er mit dem Boden bekannt, auf dem ich wiederholt strauchelte. Ich scharf hinterher und brüllte, obwohl ich kein Schießeisen hatte, ununterbrochen: »Halt, oder ich feure!« Plötzlich bog er in die Spalte einer Mauer ab, woraus ich ihm einen losen Stein nachkrachte. Immer noch scharf hinter ihm, merkte ich an dem Bauholz und den Stengen, die mir im Wege lagen, daß ich in dem Helling war. Ich hatte hier zweimal mit meinen Leuten gesprochen und erinnerte mich, daß der Helling auf jeder Seite eine hohe Einfriedung hatte. Gegenüber klaffte der tiefe Kanal, worin man ein Schiff vom Stapel lassen konnte, der aber grade wasserleer war. Nun war der Unbekannte in der Schlinge! Er wanderte indes immer weiter, machte dann kehrt, zögerte. Doch nicht wieder eine Hinterhältigkeit? Obwohl es sich etwas aufgelichtet hatte, konnte ich in seinem dunklen Antlitz nur seine starr auf mich gerichteten Augen unterscheiden. Hin! Er entschlüpfte durch einen Seitensprung. Er war ganz am Rande des Einschnitts, schwebte scheinbar in der Luft und heulte: »Räuber und Mörder, weiter kommst du nicht!«

Der abermals entschleierte Mond löste das Rätsel: ein entrindeter Baum streckte sich mit dem dickem Ende gegen mich wagrecht über die Scharte, – der Mann turnte, das Gleichgewicht suchend, sich mit den nackten Füßen anklettend, behutsam drüber hin. Für einen Augenblick hörte er mit seinen Verwünschungen auf. Ratlos tobte ich: »Feiger Bube, wer bist du? Was verfolgst du mich?«

Aus dem geisterbleichen Gesicht knirschte es: »Ich bin der Goldschmied, den du beraubt hast, dessen Bruder du erstochen hast. Aber ich bin gerächt!«

»Lüge!«

»Narr«, versetzte er und fuchtelte mit dem Dolch, »wenn auch der nicht eingedrungen ist, – das Gift drauf dringt desto tiefer!«

»Wirklich?« schrie ich, schlenkerte die Schuhe ab und schwang mich unverzüglich auf den Stamm. Er wippte darauf herum, vielleicht um das Geschaukel zu steigern oder um vollends rüberzurutschen oder um zu wenden, – weiß ich's? So blitzfix war ich vorgeflitzt, daß ich ihn rempelte. Er war überrascht, wenn nicht vor Entsetzen gelähmt. Der ungestüme Zusammenprall brachte uns aus dem Lot, – wir kenterten gleichzeitig, ohne erst zwecklos das Messer zu gebrauchen. Der Schmuckhändler, auf dem dünnern, rundern Teil des Baums, wollte sich im Sturz an mich krallen, so daß wir beide in den finstern Graben gesaust wären. So stand's aber nicht in den Sternen! Er bekam nur mein Tuch zu fassen. Es zerriß, – ich hörte ihn unten schwer aufklatschen.

Ich war aufs Gesicht geschlagen und umschnürte das Holz mit beiden Beinen und einem Arm, – den andern hatte ich wohl durch den Sturz ausgekugelt. Mein Körper war lang, die Glieder sehnig. So brachte ich's fertig – kaum weiß ich wie – mich festzukrampfen, – zu retten. Aber die Anstrengung und Gefahr, als ich mit Hand und Fuß auf dem halsbrecherischen Steg hinkroch, hab ich nicht vergessen. Jetzt mutet er mich ebenso waghalsig an wie jene Brücke über den höllischen Abgrund, – Mahomet nennt sie »Al Sirat« – die feiner als ein Haar, schärfer als eine Schwertschneide sei.

Seltsamerweise rollten, als der Juwelier mein Tuch mitgehen hieß, die goldnen Dosen aus meinem Brustbausch: die Ursache all dieses Unheils, die ich Aston füglich nicht mehr hatte verehren können, – gaukelten sie nicht zu Häupten des Verunglückten? –

Atemlos, gerädert, gewann ich den Rand des Kanals zurück. Eine Quetschung an Kopf und Handgelenk peinigte mich. Ich kauerte mich neben den Schlund, der wie eine Gruft heraufgähnte, – bei dem grellen Mondschein noch tiefer, schauerlicher wirkte. Dazu von unten das Getöse des verzweifelt um sich schlagenden Parsen! Auf der Sohle war ein Pfuhl, angestaut von Seesand, Schlamm, den die Regengüsse herabgeschwemmt hatten, dazu der ganze Unrat des Schlachthofs. In dem Matsch konnte man sich weder lange oben halten noch sofort einsinken; jede Kraftprobe verschlechterte die Lage. Der Mann war im Sturz tief hinabgesackt. Seine wilden Bemühungen, sich herauszuarbeiten, waren deutlich aus dem stummen Todeskampf abzulesen, aus dem kurzen, röchelnden Atemholen, wie wenn er in dem Morast schon halb erstickt wäre. Er ächzte, keuchte nach Luft, zappelte auf der Oberfläche. Ich konnte nur noch eine unbestimmte Masse unterscheiden, die sich umherwälzte, in Todesangst stöhnte. Grauenhaft! Nicht eben nervenschwach, zitterte ich am ganzen Leibe, als wenn ich seine Qualen mitzuleiden hätte.

Wenn doch nur zu helfen gewesen wäre! Der helle Mond zeigte keine Möglichkeit. Ich wollte die Augen abwenden, – sie waren wie festgebannt. Eine Schildwache mochte nicht fern sein. Fast hätte ich, komme was wolle, nach ihr gerufen.

Das Ringen wurde matter, das Geräusch unbestimmt, rasselnd, heiser. Der dunkle Klumpen tauchte langsam unter den schleimigen Spiegel, – verschwand. Aber schüttelte nicht ein Arm noch immer die geschlängelte Waffe in drohender Kampfansage? Er hatte den Dolch für vergiftet erklärt! Seine letzte Bewegung vergegenwärtigte mir eine Viper, die ich tags zuvor erledigt hatte: noch im Verrecken glitzerte sie mich mit ihren smaragdnen Lichtern an, – ihre Spaltzunge bebte in ungestilltem Rachedurst ...

Meine Blicke hafteten auf der eben noch belebten Leere. Die blubbernde, zerquirlte Decke glättete sich. Da erschrak ich so, daß ich fast das Gleichgewicht verloren hätte und köpflings hinuntergesegelt wäre. Eine Stimme schlug an mein Ohr: »Alles richtig!«

Der Laut eines fernen Postens, vom Winde hergeweht! Ich ruhte mit dem Kopf auf dem Boden bei dem verhängnisvollen Stamm, der die Rinne überspannte, den Schall leitete. Im Schweigen der Nacht wähnte ich den Schall dicht neben mir zu hören, schnellte hoch, sah mich entsetzt um. Alles wieder stumm! Der Tag war nahe, jede Sekunde kostbar. Ich schielte noch einmal dorthin, wo die Tiefe den Mann eingeschlürft hatte. Gewissensbisse beschlichen mich, als ich die letzten zwei Tage überdachte: war ich nicht schuld, daß die Habe des Unseligen vernichtet worden, er, vielleicht auch sein Bruder, umgekommen war! Welche Verwüstung, welchen Kummer hatte ich in seine Familie getragen, welche Flüche mußten mich treffen! – Der Todesschrei folgte mir noch lange ...

Später erklärte ich mir den Hergang so: Der Kellner oder sonst jemand im Gasthof hatte Verdacht auf mich geworfen und es dem Goldschmied gesteckt. Der hatte mich bei meinem Morgenbummel gesehn und erkannt, war mir später gefolgt und hatte mich im Auge behalten, als ich zum Boot hinabging. Er konnte sich an die Behörden wenden, mich als Haupturheber des Ladensturms verklagen. Aber aus eigner Erfahrung oder Beobachtung durfte er im voraus eines schleppenden, bestechlichen Verfahrens, eines geringen Gerechtigkeitsmaßes gewiß sein. Außerdem gibt's Beleidigungen, die nicht durchs Gesetz zu sühnen sind, – für die man durch Wiedervergeltung Genugtuung sucht. Solche Gefühle mochten ihn zu dem Mordversuch bestimmt haben. Wußte er, wer ich eigentlich war, – er hätte seine Rache einfach durch eine Anzeige sättigen können; darauf war er nicht verfallen.

Ich hetzte zum Strand hinab, erspähte die Prau und wollte sie schon anrufen. Da gedachte ich der nahen Schildwache. Mein linkes Handgelenk war verstaucht oder verrenkt, das heiße Blut rieselte mir übers Gesicht, ich war von einer fliegenden Hitze übergossen. Am ganzen Ufer kein rettender Nachen! Jeder Augenblick des Verzugs mehrte die Gefahr. So barg ich das wenige, was durch Wasser leiden konnte, in der Mütze und watete in die See, die bei dem leichten Landwind ölglatt war. Ich stieß mit aller Macht aus, obgleich ich nur einen »Paddel« brauchen konnte. Kein Kunststück für 'nen Kerl wie ich, der beinah ebenso gut schwamm wie lief, der sich in Madras täglich zum Zeitvertreib durch die furchtbare Brandung gekämpft hatte, worin sich kein europäisches Boot halten konnte! Aber Gefahr drohte von Haien und Alligatoren, wovon es um die Insel wimmelte. Namentlich die letzten trieben sich um den Abzugskanal des Schlachthauses herum, durch den Geruch des Abfalls gelockt. Ob sie nicht vielleicht schon von dem unglücklichen Goldschmied tafelten? –


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