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Der Schiffsarzt.

Zwei Tage hernach starb einer unsrer verwundeten Araber. Seine Landsleute unterwarfen ihn ihren geheimnisvollen Bräuchen. Der Körper wurde sauber gewaschen und mit Kampfer eingerieben. Das Haupt sorgsam geschoren und gereinigt, Mund, Nase, Ohren, Augen mit gekampferter Baumwolle ausgestopft. Bein- und Armgelenke wurden gebrochen und mumienähnlich gewickelt. Dann schnürte man dem Leichnam eine zwölfpfündige Kugel an die Füße und senkte ihn ins Meer. Ich fragte, warum sie ihm die Gelenke geknickt hätten. »Auf daß er nicht hinter dem Schiffe herkomme! Hätten wir die heilige Pflicht versäumt, so triebe sein Körper auf dem Wasser, und sein Geist verfolgte uns in alle Ewigkeit!« –

Diesmal hatten die Malaien anscheinend ihre Speere nicht vergiftet. Die Mannschaft genas schnell. Nur die Verletzung des schwedischen Jungen war bösartig. Er wäre gestorben, hätte nicht de Ruyter neben seinen Führergaben wundärztliche Kenntnisse besessen, die viele abgestempelte Menschenschlächter beschämten. Er trat ihm seine eigne schöne Kajüte ab. Hier pflegten wir ihn beide. Dabei wäre uns die Mühe erspart gewesen, hätten wir dem Arzt erlaubt, ihm zur Übung den Fuß abzusäbeln. So wären nämlich seine meisten Fachgenossen verfahren; auch er machte die Notwendigkeit nachdrücklich geltend.

Van Scolpvelt, unser Medizinmann, war von einem holländischen Ostindienfahrer weg verpflichtet worden. Dort war er als Unterfeldscher alt geworden in der Hoffnung, ein Gefecht mitzumachen und zum Feldscher aufzurücken. Aber diese mattherzigen »Bürger« kitzelte nur der Ausblick auf Gewinn; Pulver konnten sie ebenso wenig riechen wie die Quäker. So verlor er mangels Tätigkeit die Geduld. Sein Handwerkszeug erstumpfte, verrottete. Seine ganze Bordarbeit bestand darin, den hängebäuchigen Holländern ein Brech- oder Abführmittel oder einen Einlauf zu verpassen, wenn Schlemmerei ihre Verdauung verstimmt hatte. Sein Ansehen, mehr: das seines Standes, der ihm allein was galt, glaubte er durch eine so niedrige Anwendung der Wissenschaft entwürdet. Deswegen nahm er freudig de Ruyters Angebot an und begleitete ihn schon auf mehreren Fahrten.

Er sagte: »De Ruyter ist aufmerksam und beschäftigt mich im allgemeinen befriedigend. Nur einen schlimmen Fehler hat er, unbegreiflich bei einem solchen Freigeist und Menschenfreund: er schließt sich den heidnischen Vorurteilen seines barbarischen Schiffsvolks an und widersetzt sich hartnäckig der Abnahme von Gliedern. Hierin (er wandte sich an mich) seid ihr Engländer das aufgeklärteste Volk der Welt. Ihre Regierung soll für jedes amputierte Glied eine Prämie zahlen. Daher rosten bei den vielen Blessierten die Instrumente der Chirurgen nicht ein, und ihr Salär mag einen hübschen Zuschuß erhalten. Dabei ist nicht bloß der Medicus reichlich entschädigt, – auch der Patient, da er für ein nicht existierendes Glied mehr bekommt, als er je mit einem existierenden verdient hätte. (Leidenschaftlich): Ich, ich Van Scolpvelt, hab einem Mann auf 'ner englischen Fregatte ein Bein absägen helfen, – die gemütlichste Operation, die ich mitgemacht habe. Es war 'n komplizierter Bruch. Der Mann war vom Mast gestürzt, der Knieknochen durch die Häute hindurch ins Deck gespießt. Anderntags kam er wieder zu sich, und wir fingen mit ihm an. Es hätte Ihrem Herzen wohlgetan, ihn zu sehen, – 'n kapitaler Fall! Niemand hätte den Eingriff ohne Staunen und Entzücken beobachten können. Er schrie nicht ein einziges Mal, noch verzog er das Gesicht oder sprach ein Wort, bis es vorbei war. Dann drehte er seinen Priem im Munde und verlangte 'n Glas Grog. Wäre nur eine Flasche Rum in der Welt gewesen, er hätte sie haben müssen! Ich liebte ihn! Es sind gute Leute, sie spüren nicht mehr Schmerz als der Holzklotz, den der Zimmermann mit dem Breitbeil bearbeitet. So sollten alle Maladen sein! Aber der Bursch in der Kajüte! Auf 'nem englischen Schiff würde man kein Wort zu ihm sagen, – ihm das Bein abnehmen und ihn dann fragen, wie er sich fühle. Darauf käme er lebenslänglich ins Spital, – oder er schiebt ab, – weiter nichts. Unterdessen werde ich drei, vier Monate an ihm herumkurieren müssen, und er ißt und trinkt die ganze Zeit, ohne was zu leisten. Daran denkt de Ruyter nicht! Sie sind Engländer. Gehn Sie, bereden Sie ihn, daß er 'n braver Junge sein soll! Sagen Sie ihm auch, daß ich ihm wenig Schmerzen machen werde!«

Ich endete des Arztes schmeichlerisches Gewäsch: »Wenn mein Bein nur noch an einem Fetzen hinge und 'n Arzt mir's abschnitte, – ich erstäch ihn mit seiner eignen Sonde!«

Er starrte mich unsagbar verdutzt an, stopfte sein Besteck, das er so eifrig besungen hatte, in die Tasche und schlurfte davon. Mit einem Geräusch wie'n Hai, der mit der Flosse aufs Deck schlägt; so einer glichen nämlich seine Plattfüße.

De Ruyter rief ihn. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, des Arztes schnurrige Gestalt zu mustern. Der Körper war klein und dürr; jetzt, wo er sich zur Operation entkleidet hatte, mußte ich an eine rotbraune Riesenraupe denken. Das welke Gesicht war zusammengeschnurrt wie 'ne vertrocknete Pampelmuse oder 'ne Mandarine. Der Schädel war kahl, von langen grauroten Drahthaaren umkränzt. Das Haar, das Augenbrauen, Lidern, Bart gehörte, hatte seine verschiednen Standplätze geräumt, sich um die herabhängenden Backen, das Kinn, den Nacken getüpfelt; der war so lang wie bei 'nem Reiher, anscheinend mit versengtem Pergament bespannt. Vier, fünf gelbbekrustete Stockzähne traten in Erscheinung. Der geräumige Mund, die dünnen Fischlippen erinnerten an einen »Heringskönig«. Die kleinen eingesunknen Augen zeigten einen Mansch von Hellrot, Grün und Gelb.

Aber der übersteigerten Hervorhebung seines Berufs und dem abgeschmackten Äußern zutrotz darbte er nicht einer gewissen Geschicklichkeit, war ehrlich begeistert für seine Kunst. War er arbeitsfrei, so erholte er sich damit, daß er emsig alte holländische Arztbücher las, vornehmlich handgeschrieben oder doch sorgfältig zwischen den Zeilen und am Rande mit seinen Anmerkungen versehen, zudem bebildert mit Darstellungen schauriger Eingriffe in scheußlichen, unnatürlichen Farben. Seine Kleidung bestand gewöhnlich in den zufälligen Klamotten, die er im Krankenraum aufgriff oder vom Körper eines Wilden rupfte. Sein Alter war nicht zu schätzen: er mutete an wie eine vom Tod erstandne Mumie. Doch war er rüstig, immer wach (so weit wir's wußten), geistig auf der Höhe.

Er war in lebhafter Auseinandersetzung mit de Ruyter, als sie zurückkamen. Seine Hand, worauf er sich etwas zugute tat, hielt er ausgestreckt. Sie war lang, schmal, einer Raubvogelklaue ähnlich, gänzlich entfleischt. Als ich ihn mal mit 'ner Kerze zwischen den Handflächen traf, schien sie so hell hindurch, daß ich ihn bat, mir die »Signallaterne« zu borgen. Er schätzte sie aber hoch wegen ihrer nützlichen Eigenschaften: »Wohin eine Kugel dringt, dahin kann ich folgen«. Dabei reckte er einen langen, unheimlichen Finger, geschmückt mit seinem einzigen Geschmeide: einem großen, silbergefaßten, altertümlichen Karfunkelring, woraus zauberkräftige Zeichen herausgearbeitet waren.

Ich stieg mit ihm zu den Verwundeten hinab. Unverzüglich machte er sich ans Werk und handhabte seine Sonde so gleichmütig, wie 'n Raucher den Pfeifenstopfer. Nachdem er die Leute mit bloßen Fleischwunden gesondet, geschnitten, befingert hatte, drängte ihn de Ruyter, nach der Schramme auf meiner Brust zu sehen. Er tat's und erläuterte den Zuschauern die Lebenserscheinungen dieses Körperteiles, salbaderte viel von der Wirkung des indischen Gifts, wie es tückisch mittels der Blutzirkulation und des Nervensystems durch Aufsaugung das ganze Leben durchdringe: »Das heißt, um es ganz deutlich zu explizieren, nachdem es die Vorposten genommen, seinen Weg durch die Schale und Rinde vergiftet, sachte gegraben hat, frißt es sich ins Zentrum. Dann ruiniert es die Glieder, konzentriert, potenziert seine Kraft, bis die Materie das Herz berührt, der Kranke unter Krämpfen endet.«

Dies Lied sang mir der Heilmeister ins Ohr und glühte dabei das Brenneisen, um es mir mit dem gierigen Blick eines nur auf Sinneseindrücken fußenden Forschers auf die Brust zu legen. Ob's dem annehmlichen Spaziergang des Gifts durch mein »System« vorbeugte, kann ich nicht sagen; gewiß ist, daß es einen leichten Riß in einen wachsenden, schwärenden Schaden verwandelte, der mich lange belästigte.

Als er die wirklich bedrohliche Wunde des jungen Schweden abermals untersuchte, schwelgte er in der Beschreibung der im Spann zerrissenen und verletzten Muskeln und Sehnen: »Brand und Nekrose zum wenigsten ist im Anzug. Trenne ich den Fuß nicht überm Knöchel ab, so muß ich binnen vierundzwanzig Stunden das Bein bis an die Hüfte kürzen, überdies mit geringer Aussicht auf Rettung; gewöhnlich gibt der Kranke dabei den Geist auf.«

Der Ärmste schrie und flehte zuerst den Doktor, dann mich an. Ich rief de Ruyter, der die Amputation bestimmt verbot. Um sich einigermaßen zu entschädigen, ließ der Arzt den Jungen festhalten und legte so sinnreich Hand an ihn wie ein Indianer, der den Feind am Marterpfahl schindet. Als der Junge glücklicherweise durch die Quälerei bewußtlos wurde, starrte der Arzt erstaunt zuerst ihn, dann die Umstehenden an: »Was hat er zu greinen und zu ohnmächteln wie 'n kleines Mädchen? Dabei schab ich nur den Knochen, wie Sie sehn.«

De Ruyter kam wieder in die Kajüte, hieß ihn die Wunde verbinden und Umschläge auflegen. »Doktor«, sagte er dann, »Sie sind wie der alte Koch, der lebendige Aale in eine Pastete tat und mit dem Rollholz auf den Kopf tetterte, wobei er rief: ›Still gelegen, ihr Schlappschwänze!‹«

Als der Junge wieder zu sich kam, gab ihm de Ruyter ein Glas Branntwein, das ihn stärkte, und verbot, die Wunde ohne seine oder meine Anwesenheit zu berühren. Der Knabe erholte sich, entgegen den Vorhersagen des Arztes, wenn auch langsam. Ich hab ihn besonders erwähnt, weil ich sein trauriges Schicksal noch erzählen muß.


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