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XI.
Der alte Bonifaz.

Mittlerweil' als am Grund des Domes fortgebaut wurde, blieb das alte Marienkirchlein, wie bekannt, noch viele Jahre lang stehen. Hingegen der Turm aber mußte weichen. Wie nun derselbe Turm umgeworfen wurde, begab sich etwas dabei, und das mag einem oder dem anderen stille Wehmut schaffen. Der älteste Mann in München war dazumal einer namens Bonifaz, voreinst ein tüchtiger Meister im Gezimmer. Nun hatte er aber schon überlang kein Beil mehr angefaßt. Denn einhundertundachtzehn Sommer hatte er schon erlebt und der neunzehnte floß ebendahin.

Wann immer und wo derselbige Meister Bonifaz dahinschritt, hatte jeder seine stille Freude an ihm, so fromm und lieb war er anzuschauen. Er selbst aber, sooft er am »öden« Turm Der Turm, der »öde« genannt, war übrigens nicht der einzige, welcher weichen mußte. Es war noch ein gegen das Augustinerkloster gelegener da, in welchem die Glocken hingen. Dieser ward Anno 1470 umgeworfen und es mußten dann wohl die Glocken, welche zum Besuch des noch bestehenden Teiles der alten Kirche mahnen sollten, irgend anderswo am Bau angebracht worden sein. des alten Marienkirchleins vorbeikam, sah nickend hinauf und ging dann zufrieden seines Weges, so er sich nicht etwa noch einmal umwandte und, auf seinen Stock gestützt, recht kindlich vor sich hinsagte: »Den Dachstuhl, den hab' ich neu gesetzt. Das ist schon über die achtzig Jahr' her – ja dazumal!«

Das hörte gar mancher von ihm und dachte: »Ei, jetzt wird er aber doch bald sterben.« Derweil starb er selber weit früher, der Meister Bonifaz aber lebte immer länger, als stürb' er gar nie, sondern blieb' etwan gar übrig.

Jetzt war die Zeit angerückt, daß der Turm fallen sollte, just am ersten Tag Augusti 1468.

Wie nun am Morgen desselben Tags viele Hunderte und Hunderte herzu und auf den Friedhof kamen, um den Einsturz mit anzuschauen, war der Bonifaz auch dabei. Stand demnach, die Linke auf seinen Stock gestützt, so da und sah nickend, aber recht wehmütig hin, wie sich der Turm allgemach neigte. Wenn aber einer oder der andere hintrat und sagte: »Guten Tag, Meister Bonifaz, wie geht's –? Da sagte er hinwieder: »Ja ja, geht schon gut.« Dabei waren seine Augen stets ein wenig naß. Wie's aber zuzeiten geht – soviel es jedem bekannt war, daß der alte Dachstuhl des alten Bonifaz ganze Lebensfreud' sei, es fiel doch keinem so recht ein, wie weh es dem etwa getan habe, als sein Werk vornächst abgenommen ward. Und nun ging's gar mit dem Turm selbst zu Ende – und mit schier aller Erinnerung.

Schon war es zehn Uhr vorüber, als Herzog Albertus, Siegmund, Christoph und Wolfgang mit Gefolge von der Schäfflergasse daherkamen. Vor denen entblößten alle das Haupt oder grüßten sie sonst, was die Weibsen betraf – sie hinwieder dankten recht gnädig.

Wie nun die Herzoge so daherkamen, hielt Herzog Christoph ein und sagte: »Dort seh' ich den alten Bonifaz stehen. Denkt euch, wie ihm zumute sein mag, und laßt ihm ein tröstlich Wort spenden.« Er näherte sich ihm, die fürstlichen Brüder folgten langsam und das Volk drängte allgemach nach.

Da nun Herzog Christoph hinkam, sagte er: »Guten Tag, Meister Bonifaz! Wollt Ihr auch sehen, wie der Turm fällt? Ihr kennt mich wohl nicht? Ich bin der Herzog Christoph – der hier ist der Herzog Albrecht, Euer Landesherr. Da ist mein vielliebster Bruder, der Wolfgang, und der dort ist der Herzog Siegmund, so Unserer Lieben Frauen Dom erbaut.«

Auf diese Worte wischte der Bonifaz ein wenig über die Augen, weil er nicht gut sah – und mit dem Hören ging's in letzter Zeit auch nimmer zum besten – dazu sagte er: »So – so! Ja, ich hab' alle Untertänigkeit – ja ja.« Und beugte sich ein wenig.

»Ist nicht deshalb«, sprach Christoph. »Wissen schon, daß Ihr jederzeit fromm und treu wart. Wir meinen Eueren Dachstuhl. Hat Euch wohl leid getan, daß er abgetragen wurde?«

»Hat mir wohl leid getan – recht leid!« erwiderte der Greis, halb vor sich hinsprechend. Dann sah er gar lieb zum Herzog Christoph auf und setzte ziemlich rasch bei: »Aber was ist's, itz ist er halt nimmer da.«

»Freilich«, entgegnete Christoph. »Da ist er nimmer und viel schade ist's um ihn. Nach hundert Jahren wär' er auch noch gut gewesen. Aber der Turm mußte eben weichen, also ward zu öberst angefangen. Wärt Ihr in jüngeren Jahren, hättet Ihr wohl dem neuen Dom seinen Dachstuhl setzen müssen.«

Wie Herzog Christoph so sprach, ging's allen ringsum fast zu Herzen. Der Meister Bonifaz selbst war ganz überkommen von stiller Seligkeit über so viel Gnade, Herablassung und schöne Trostworte. Herzog Christoph legte ihm dann die Hand auf die Schulter und ermahnte ihn noch heimzugehen, weil er erschrecken könnte. Dann schritt er mit seinen fürstlichen Brüdern hinweg. In einiger Entfernung blieben sie alle viere stehen. Der alte Bonifaz aber wollte nicht von der Stelle und blieb auch.

Näher und näher rückte der Augenblick. Bald durchlief die Menge ein ängstliches Gemurmel, bald harrte alles schweigsam dem Schauspiel entgegen und sah zu, wie sich der Turm stets mehr und mehr neigte.

Und so verstrich Viertelstunde um Viertelstunde.

Urplötzlich hallte weithin ein Ruf des Staunens und Schreckens – sogleich darauf sank lautlos der ganze Turm durch die Luft – aber mit furchtbarem Gepolter und Gekrach schlug er zu Boden, daß die Erde schier bebte und schwankte – und in großen und kleineren Trümmern barst das ganze Gemäuer auseinander. In riesenhaften Staubwolken stieg's empor, alles rings einhüllend – und lange vermochte kein Mensch den anderen zu sehen.

Da es allgemach wieder hell und licht ward und sich die Menge hindrängte, eifrige Frage stellend oder schauend, ob sich kein Unglück ereignet habe, erwies sich des Wagestückes bester Verlauf. Drob waren alle hocherfreut, nahmen es für ein neues, treffliches Zeichen und riefen dem Meister Jörg von Halsbach viel Lob zu.

Das Heilig-Geist-Spital im alten München.

Frohen Antlitzes schritt der herüber. Die Herzoge gingen auf ihn zu und lobten wie alle anderen sein Geschick in jeder Art. Drauf sagte Herr Jörg von Halsbach: »Hohe Herren, ich hab' mein Bestes getan, die Sach' anzurichten. Daß aber nichts bricht an Winden und sonstigem Werkzeug, du bedarf's immerhin Gottes Hilfe.« Deutete dann auf der Menge großen Eifer, die sich schon anschickte, die Trümmer wegzuräumen, dazu habe sie sich verlobt, und sagte dann: »Nun haben wir bald Raum genug, zu bauen – und weil nur kein Unglück geschehen, das erfreut mich selber am meisten.«

»Einer aber wird seine fromme Neugier doch büßen müssen«, entgegnete Herzog Ehristoph – »der Meister Bonifaz. Gebt acht, ob ich nicht recht hab'!«

Alle wandten die Blicke hin.

Fast einsam stand der Bonifaz dort, auf seinen Stock gestützt, und das Haupt beugte er tief herab auf seine Hände. Er sah aus, als wollte er sagen oder dächte: »Jetzt ist alles aus – und mit mir ist's auch zu Ende!«

Da wurde ihm manches tröstliche Wort und mancher drückte ihm die Hand. Das erwiderte er leise zitternd und nickte freundlich zu. Aber er sagte nichts. Da sie ihn sorgsam heimführten bis über den Markt und dem Tal zu, wo er im Spital schon überlang gelebt hatte, ließ er's ganz gerne geschehen. Dort oder da blieb er aber stehen, und bevor er unters Talbruckertor wankte, noch einmal. Dort sah er auf den schönen Marktplatz zurück und sonst noch ein wenig umher, und jeder sah ihm an, daß er vom lieben München und von der Welt Abschied nehme.

Am dritten Tag morgens traten Herzog Christoph und Siegmund ins Pfründnerhaus, wie schon beide Tage vorher, gingen auf des Bonifaz Zelle hin, sie war die vierte zur rechten Hand, und fragte der erste den Meister Jörg, so ihnen entgegenkam: »Wie geht's ihm, schläft er?« »Ja, er schläft, hoher Herr,« – sagte Herr Jörg, »und im Himmel ist seine Seel' wieder ganz erwacht. Wie ihm zumute war, daß sein Werk und das Andenken dran hinweg mußte, vermag ich zu ermessen an eigener Sehnsucht, was Treffliches aufzurichten. Ja, wie groß oder 'ring und klein – was einer geschaffen hat, das mag er sonder Gram nicht vergehen sehen. Ihr aber habt ihm die letzten Tage noch recht versüßt!«

»Gott hab' ihn selig!« sagte Herzog Siegmund. »Wann starb er?«

»Vor einer halben Stunde, hoher Herr. Meine Margret hat ihn bis zuletzt aufs treulichste gepflegt – als ich kam, ging's eben zu Ende mit ihm und in meinen Armen ist er eingeschlummert. Ein Segen über Euch, Herr Herzog Christoph, und Euere fürstlichen Brüder war das letzte, was er gelispelt.«

Sie schritten an die Zelle. Die Pfründner und Pfründnerinnen, die da knieten oder standen und beteten, rückten ein wenig zurück, daß jene eintreten konnten.

Einen teilnehmenden Blick sandten Herzog Christoph und Siegmund auf die Leiche und taten ein still frommes Gebet. Dann gab Herzog Christoph dem entseelten Bonifaz einen Weihbronn, nickte denen umher gnädig und christlich milde zu, als sage er für sich: »Das trifft uns alle, hoch und nieder, und damit werden wir alle eins.« Hiermit verließ er die Zelle. Herzog Siegmund tat wie er und folgte ihm.

Tags darauf wurde des Bonifaz irdische Hülle nächst dem Marienkirchlein zu Grab gelegt. Das war sein sonderlicher Wunsch gewesen. Noch lange, als der Dom schon stand, war des uralt gewordenen Meisters Denkstein zu sehen – den hatte ihm Herzog Christoph setzen lassen.


Historische Anmerkung

Auf dem Denkstein des Baues der Liebfrauenkirche steht:

anno Dnj . mcccc . jm LXVIII . jar . ist . d . pau . angefangen .
acht . tag . nach . vnser . Lieben . Frawen . Tag . zw . Liechtmess .

Auf dem Denkstein Herzog Siegmunds sieht man die vor der heiligen Jungfrau Maria kniende Gestalt desselben. Auf dem Spruchband steht: » Virgo parens Christi, tu miserere mei.«

Die lateinischen Disticha unterhalb beginnen:

» Clam fortuna ruit fragili pede tempus et hora,
Nostraque sunt semper facta dolenda nimis,
Ecce sigismundus princeps serenessimus orbis
« etc. etc.

Diese mit den folgenden sprechen im ganzen aus: »Daß das Glück zerbrechlichen Fußes in Zeit und Stunde dahineile, und unsere Taten stets beklagenswert seien. Hier sei zu sehen der hochrühmliche Herzog Siegmund von Bayern, der lange leben möge. Ihm sei höchste Frömmigkeit und Weisheit eigen. So habe er, einem Gelübde zufolge, zur Verherrlichung Gottes den ersten Stein zum Tempel gelegt, welcher der heiligen Jungfrau erbaut werden sollte. Sei es Christo genehm, so wolle er selbst dies Haus als Grabstätte willkommen heißen und ihr seine Gebeine überlassen, während sein Geist die Gestirne bewohne und an den Gestaden des Friedens dahinziehe, dort im ewigen Leben und im göttlichen Lichte. Im Jahre des Herrn 1468 am 9. Tag Februar. Inschrift des durchlauchtigsten Fürsten und Herrn Siegmund im 29. Jahre seines Alters.«


So ihr an Unserer Lieben Frauen Dom hinwandelt auf der Seite, wo die Sonnenuhr überm Kirchentor – unterm Bogen desselben zur Linken der Denkstein des ganzen Baues, zur Rechten aber, in Stein gehauen, der schöne, lateinische Versspruch des Herzogs Siegmund befindlich ist – und ihr steht aus halbem Platze still, so wird der Ort nicht so fern sein, wo der Bonifaz eingegraben ward.

Jetzt ist wohl kein Stäublein mehr von ihm da.


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