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27

Der Oberst Aguayo bestimmte zehn Mann zu unserer Begleitung und setzte Antonio Madero, unseren guten Freund vom »Montezuma«, zum Anführer ein.

Während wir zwei Maultiere mit einigem Gepäck beluden, sahen wir die Wache zum Grab des Quetzalcoatl aufziehen, das Paul dem Obersten gewiesen hatte, und dann brachen wir auf.

Es war inzwischen Mittag geworden, und die Entführer Theas mochten einen Vorsprung von zwölf Stunden haben.

»Wohin?« fragte Richard, als Antonio Madero meldete, daß alles bereit sei.

Enrico deutete nach der Richtung, wo man sonst den Regel des Zempoaltepetl sah. »Dorthin!« Man konnte nur vermuten, wo der Vulkan lag, denn der mittägliche Wolkenbruch der Regenzeit entlud sich gerade auf unsere Häupter, und die Krieger Quirogas schienen wenig davon erbaut, inmitten der stürzenden Wasser einen Marsch anzutreten. Ich hielt es für gut, meine Kenntnisse der Volksseele in Anwendung zu bringen.

»Antonio!« sagte ich, »Sie sind Caballero! Es handelt sich um die Señorita vom ›Montezuma‹, die Sie kennen.«

»Die Señorita?« fragte er gespannt und im Innersten erhoben.

»Sie ist geraubt worden.«

Er legte die Hand in großartiger Geste aufs Herz. »Señor, wir werden sie zurückbringen, und wenn es täglich sechsunddreißig Stunden regnet.«

Dann sprach er mit seinen Kameraden, und ich sah ihre Blicke entschlußfreudig auf uns gerichtet. Der Geist Don Quijotes war in ihnen erwacht, und der Regen hatte keine Nacht mehr über sie.

Wir stiegen die erste Talstufe hinauf, auf Wegen, die zu Gießbächen geworden waren, und die wir nicht verlassen konnten, weil die Felshänge links und rechts noch unwegsamer waren.

Gegen Abend befanden wir uns auf der ersten Hochebene. Es hatte zwar zu regnen aufgehört, aber der Lehmboden, über den wir mußten, erleichterte nach den Güssen unser Vordringen ebensosehr, als es eine metertiefe Schicht von Buchbinderkleister getan haben würde, die man über die Landschaft gestrichen hatte.

Enrico schritt voran – soweit bei dieser infernalisch klebrigen Bodenbeschaffenheit von Schreiten die Rede sein konnte –, und er schien selbst an Stellen, wo allerhand verwickelte Möglichkeiten durcheinanderliefen, keinerlei Zweifel über den Weg zu haben. Ich hatte volles Vertrauen zu seinem absonderlichen Spürsinn, dieser durch Ausschaltung eines Teiles seiner Denktätigkeit gesteigerten Gabe, sich in Dunkelheiten zurechtzufinden, die für alle anderen undurchdringlich waren. Auch die Gefährten brachten ihm dasselbe Vertrauen entgegen, sogar die Soldaten taten es, sobald sie einmal heraus hatten, wie es um Enricos Kopf stand.

Antonio Madero brachte das zum Ausdruck, indem er mich anstieß und auf Enrico deutete: »Er geht an der Hand!« Er meinte die Hand eines Unsichtbaren, und ich war nach all dem Vorangegangenen bereits so weit, daß ich Antonios Glauben gelten ließ, so sogar selbst vollkommen überzeugt war, es müßte sich damit ungefähr so verhalten.

Als sich der Himmel gegen Abend aufgehellt hatte, konnten wir endlich wieder durch Lücken des Waldes den Kegel des Zempoaltepetl sehen, und schon das erleichterte unser Herz ein wenig. Es blieb aber noch immer genug an schweren Besorgnissen zurück, und Paul sprach sie aus, als wir dann an unserem ersten Lagerfeuer saßen.

»Wenn wir nur nicht zu spät kommen!« seufzte er, indem er einen trostheischenden Blick in die Runde schickte.

»Wir haben erst übermorgen Vollmond«, sagte Forst, »bis dahin haben wir Zeit – wenn es das ist, was Sie befürchten.«

Paul Noster schwieg eine Weile und stocherte mit einem Zweig in dem widerwillig brennenden Feuer herum. Es lag ihm noch eine andere Trübsal auf der Seele, und er konnte nicht umhin, sie nach einer Weile zu offenbaren. »Und glauben Sie«, fragte er zögernd, »daß man da unten ... in dem Grab ... daß wir alles so wiederfinden werden.«

Forst nahm Paul den Zweig aus der Hand, mit dem dieser in seinem Seelenkummer dem im nassen Holz mühsam schwelenden Feuerchen völlig den Garaus zu machen drohte. »Das Grab und sein Inhalt sind so sicher wie in einem Safe der Bank von England. Ganz Großbritannien wacht darüber.«

Richard stand auf und ging in den Wald hinein, ohne uns eine Erklärung für sein Verschwinden zu geben. Er kam auch nicht wieder zurück, solange ich noch wach war, aber als ich bei Tagesgrauen von Antonio geweckt wurde, saß er am Feuer und starrte in die Reste der Glut.

Wir nahmen die Verfolgung wieder auf, und nach ein paar Stunden schien es, als hätten wir die erste Spur gefunden. Auf einer Waldblöße, die vom Regen in einen hübschen kleinen Sumpf verwandelt war, entdeckten wir eine Menge von Fußtritten, die hindurchführten.

Es war nicht anzunehmen, daß irgendwer anders vor uns durch diese Wildnis gekommen war, als die Leute, die wir suchten, und diese Erwägung gab uns neue Zuversicht.

Gleich darauf kamen wir an die erste Falle, die uns den Beweis lieferte, daß wir uns auf der richtigen Fährte befanden. Es gab da eine tiefe Schlucht, über die eine Brücke führte, so eine richtige Urwaldbrücke, aus einem Baumstamm bestehend, der von einem Rand zum anderen hinüberlag. Es war von vornherein etwas für seiltänzerisch Begabte, und eine Art Geländer von Lianenranken konnte das Gefühl der Sicherheit nicht wesentlich erhöhen.

Der Mann ohne Namen blieb zögernd stehen, als wage er den Stamm nicht zu betreten, und ich meinte, es sei wohl ein Anfall von Schwindel, der ihn zurückhalte.

Das gleiche mochte wohl Richard meinen, denn er drängte Enrico zur Seite und wollte als erster den Fuß auf die Brücke sehen. Aber Enrico zog ihn zurück und sagte: »Nein ... nicht gehen!« Und dann versuchte er uns klarzumachen, daß er beabsichtige, zuvor die Festigkeit dieses Überganges zu erproben, wir verstanden ihn schließlich und stiegen auf die Felswand über der Schlucht, wo eine Menge Steinblöcke herumlagen. Die ersten, die wir losmachten und hinunterfallen ließen, verfehlten den Baumstamm und polterten mit Getöse in den vielleicht hundert Meter tiefen Abgrund. Erst beim fünften oder sechsten gelang es uns, er rollte ein Stück auf den Stamm hinaus, und dann gab es einen Krach, und die ganze Brücke brach mit einer kleinen Lawine von Steinen und Erdreich in die Schlucht hinunter. Wir sahen deutlich, daß der Stamm am jenseitigen Rand durchgesägt worden war.

Es blieb uns nichts übrig, als einen Umweg zu machen und einen Abstieg in die Schlucht und wieder einen Aufstieg zu suchen. Es war eine halsbrecherische Unternehmung, die dadurch noch anziehender wurde, daß sich der tägliche Wolkenbruch einstellte, während wir in den Felsen herumkletterten.

Wir verloren damit etliche Stunden und kamen erst am Nachmittag auf die zweite Talstufe. Der Wald lag hinter uns, und wir befanden uns zur Abwechslung auf einer unabsehbaren Salzwüste. Sie wäre das Entzücken eines jeden Geologen gewesen, denn sie wies alle erdenklichen Farbenspiele von Rot und Gelb und Blau und Weiß auf, als habe sich irgendeiner der alten mexikanischen Götzen hier im Anstreichen geübt. Aber für Leute, die keine Zeit für malerische Wirkungen hatten und rasch vorwärts wollten, war diese farbige Gegend weniger erfreulich, denn man brach bei jedem Schritt durch die vom Regen gelösten und nun wieder trocknenden Krusten wie durch junges Eis. Und darunter war der Sand durch das reichlich empfangene Wasser in einen zähen Schlamm verwandelt. Am Abend hatten unsere Beine eine verdammte Ähnlichkeit mit in Brot gebackenem Schinken, nur natürlich viel bunter, denn wir hatten Proben von all den Farben daran, durch die wir gewandert waren.

Aber wir hatten wieder Andeutungen von Spuren gefunden, und vor uns erhob sich nun schon viel näher über seinen Vorbergen der Zempoaltepetl in der großartigen Einfachheit seiner zuckerhutförmigen Gestalt. Immerhin war es noch ein gutes Stück Weg bis dahin, und wir wären gerne weiter gewandert. Aber die Müdigkeit verbot es uns. Wir mußten uns zu einer Rast entschließen und wagten nicht einmal, ein Feuer zu entzünden, das in der Ebene weithin sichtbar gewesen wäre.

Richard verließ uns wieder nach kurzer Zeit, um sich in der Nacht herumzutreiben. Er gefiel mir ganz und gar nicht, aus seinem Gesicht war alle einstige Jungenhaftigkeit weggelöscht, in seinem beständigen Schweigen lag eine halsstarrige Absonderung von uns, er war uns fremd geworden, ja noch mehr, es lauerte in ihm eine kaum unterdrückte Feindseligkeit.

Am nächsten Morgen begannen wir den Aufstieg auf die Vorberge, und da gerieten wir an die zweite Falle. Und diesmal empfing nicht einmal Enrico eine Warnung von dem Unsichtbaren, das ihn führte. Der Weg kroch erst in Schlangenwindungen hinan, und dann glitt er in eine steile Felswand hinein. Hier war er erst ein Stück in den Stein gesprengt, dann aber wurde die Wand so abschüssig, daß er auf hölzernen Balken und Spreizen über den Abgrund hinausgebaut worden war.

»Es liegt ein altes Bergwerk dort oben«, sagte Forst, »aber es ist schon längst aufgelassen.« Der Weg sah genau so aus, als ob sich seit langer Zeit kein Mensch mehr um ihn gekümmert habe. Er war jämmerlich genug, und an einzelnen Stellen war nicht viel mehr von ihm übrig als der unverdiente Name.

Wir befanden uns eben inmitten einer solchen verdächtigen, menschenunwürdigen Herumdrückerei um die Felsen, als über unseren Köpfen ein Donnern losging. Das Tagesgewitter war vorbei, der Himmel wieder blau, und ich schaute erstaunt auf, da sah ich, daß der Berg über uns in Bewegung geraten war. Er kam herab, gerade auf uns zu, Blöcke sprangen voran, dahinter glitt ein Stück der Wand mit einem Höllenlärm, dem Wiehern und Schnauben und Brüllen eines ganzen Armeekorps von Dämonen. Ich lief, lief durch eine Staubwolke und ein sausendes Maschinengewehrfeuer von Steinen, und dann brach das Getöse hinter mir hinunter und vergrollte mit vielfältigem Echo in den Wänden.

Ich war einer der letzten im Zug gewesen, das Maultier und der Treiber, die den Beschluß gemacht hatten, waren fort, und eine rotgelbe neue Bruchrinne zog sich einige hundert Meter durch die Flanke des Berges.

Wir hatten eine gangbare Strecke des Steiges erreicht und erwogen, ob wir Rettungsversuche machen sollten. Richard brach sein Schweigen zum erstenmal seit Mitla und schrie mit dem verzerrten Gesicht eines Besessenen: »Weiter! Weiter!«

Wir sahen ein, daß keine Aussicht bestand, dem Verunglückten und dem Tier Hilfe zu bringen. Sie waren einige Turmhöhen hinuntergeschleudert worden und unten so gründlich wie nur möglich verschüttet. Und heute war die Nacht des Vollmondes, die Nacht der Gefahr für Thea.

Wir ließen Antonio Madero nur so viel Zeit, um mit seinen Kameraden niederzuknien und ein kurzes Gebet zu sprechen, dann setzten mir unseren Weg fort. Er war ein braver Kerl, dieser Antonio, und ein frommes Gemüt dazu, trotz seiner drei Raubmorde und etwa zwei Dutzend Brandstiftungen, die er mir im Verlauf unserer Bekanntschaft eingestanden hat. Ich glaube, wenn sie etwas länger gedauert hätte, so wäre noch einiges zu seinen Enthüllungen hinzugekommen.

Hier war er jedenfalls unschätzbar in seiner Zähigkeit und Hartnäckigkeit, und vielleicht war er darum so unermüdlich, weil auch er irgendwie von dem Zauber angerührt war, der Thea eine solche Nacht gab.

Die Sümpfe des Urwaldes und die Salzwüste der zweiten Talstufe waren ein ganzer Wurstelprater voll Belustigungen gegen das Vergnügen, das uns in der dritten Hochebene erwartete, aus der sich der Zempoaltepetl erhob. Hier befanden wir uns im Bereich seiner vulkanischen Kräfte, und er schien auch etliche Jahrtausende keine Gelegenheit versäumt zu haben, sich auf jede weise zu betätigen. Er hatte sich keinerlei Zwang angetan und Laven in Massen ausgespien, neue über alte hin, die sich dann in den verwegensten Formen übereinander getürmt hatten und erstarrt waren. Es waren ausgebrochene Eingeweide der Erde, zu Stein gewordenes Gekröse, Nieren und Gedärme, Lavagewürm, Buckel an Buckel; von einem Weg war natürlich keine Rede mehr.

Wir mußten die Blöße umgehen oder darüber hinwegkriechen, und selbst das Maultier, das wir noch besaßen, glitt bei jedem Schritt aus. Wir ließen es unter Bewachung eines Mannes zurück und rackerten uns vorwärts, aber es war kein Weiterkommen, und an dem Röterwerden des Vulkankegels sahen wir, daß der Tag zu Ende ging

Auf der andern Seite war inzwischen der Vollmond heraufgekommen, still und unerbittlich wie ein unabwendbares Schicksal.

Der Zempoaltepetl erglühte, als bestände er aus flüssiger Lava, und zwischen den erstarrten Unwillenskundgebungen des Vulkans machten sich die Schatten breit, da deutete Enrico mit dem Finger in die Ferne und sagte: »Dort!«

Wir sahen nur einen kleinen Nebenkrater des Zempoaltepetl, eine flache, muldenförmige Schüssel, über der jetzt in der sinkenden Dämmerung ein rötlicher Schein hinbrütete, als sei eine andere kleinere Nebensonne gerade in dieser Schüssel untergegangen. An ihrem linken Rand, dem Steilhang des Zempoaltepetl gegenüber, konnten wir, Enricos weisendem Finger folgend, eine Anhäufung von Gestein feststellen, vielleicht Trümmer von Mauerwerk, das in der Dämmerung gerade noch undeutlich von seiner Umgebung unterscheidbar war.

»Ich glaube«, sagte Forst, »daß dies der Tempel ist. Er heißt der Tempel am Feuersee.«

»Und dort?« keuchte Richard neben ihm.

»Sie werden Fräulein Siebertz wohl dorthin gebracht haben.«

»Können wir noch zurechtkommen?«

»Wir werden uns beeilen müssen.«

Ich muß sagen, ich sah es als ein besonderes Glück an, daß es den alten Mexikanern nicht eingefallen war, ihren Tempel etwa auf die Spitze des Zempoaltepetl selbst zu bauen. Es wäre ihnen wohl zuzutrauen gewesen, und ich hätte mir in diesem Fall bei aller Angst um Thea versagen müssen, mich an ihrer Rettung weiter zu beteiligen. Ich war so ziemlich am Ende meiner Kraft, und ich weiß bis heute nicht, wie ich das Stück Schinderei noch ausgehalten habe, das uns zwischen dem Platz, wo wir den Tempel zuerst erblickten, und diesem selbst noch beschieden war.

Die vulkanischen Niederträchtigkeiten auf dieser Strecke Weges überboten alles bisher Dagewesene. Unser Häuflein kam mir vor wie eine Schar verdammter, die dazu verurteilt ist, aus irgendeinem entlegenen Stern zur Verbüßung von Höllenstrafen durch eine Landschaft aus versteinerten Eiterbeulen zu kriechen.

Endlich sahen wir die Ruinen des Tempels im Mondschein vor uns, und die tiefe Stille bot uns einigen Trost. Wir durften hoffen, daß das Schreckliche noch nicht geschehen war, nur Richards Angst ließ ihn fragen: »Sollten wir zu spät gekommen sein?«

»Nicht zu spät!« antwortete Enrico und glitt uns durch die Trümmer voran. Es war hell genug, daß wir sogar die Ornamente an den Tortürmen und den Schmuck der Wände unterscheiden konnten, aber nicht einmal Paul dachte daran, sich mit archäologischen Untersuchungen abzugeben. Enrico führte uns eine verfallene Treppe hinan aus eine zinnenbekränzte Mauer, und da hatten wir einen großen Hof vor uns, in dessen Mitte ein ungeheurer Stein, eine Art Schale, das Mondlicht wie in einem Becken sammelte. Er ruhte darin, als wäre es in Milch verwandelt. Und als unsere Augen vom Druck des Blutes frei geworden waren, das die ungeheure Anstrengung der letzten Stunden wild in unseren Adern umtrieb und das unseren Blick verdunkelte, da sahen wir auch, daß es ein steinerner Jaguar war, der die Schale auf seinem Rücken trug.

»Eine Opferschale«, murmelte Paul, »es ist ein Tempel des Tezcatlipoca. Quetzlacoatl will kein Blut.«

Wir lagen zwischen den zerbröckelten Mauerzinnen, und die unendliche Stille dieser vom Mondschein durchfluteten Nacht schärfte unser Ohr für jedes Geräusch. Es war aber nicht einmal eine Tierstimme hörbar, geschweige denn ein Laut, der die Nähe eines Menschen verriet.

Wenn sich die Leute in diesen Ruinen befanden, dann hatten sie nicht einmal Wachen aufgestellt. Sie mochten wohl annehmen, daß ihre Vorkehrungen wirksam genug gewesen seien, um jede Verfolgung zu vereiteln.

Wir lagen wohl eine Stunde oder länger, und ich begann bereits zu fürchten, daß wir uns geirrt haben könnten und die Feinde schlauer gewesen wären als wir, da stieß mich Richard an: »Sie kommen!« flüsterte er.

Ich hörte jetzt ein Murmeln, das unter der Erde hervorzudringen schien, und gleich daraus kroch ein rötlicher Schimmer über die Trümmer hin.

Ein Zug von Männern betrat den Hof, mit Fackeln in den Händen, und das Gemurmel, mit dem sie sich gemessenen Schrittes vorwärts bewegten, mochte wohl eine Art Litanei sein. Ich erkannte deutlich einige unserer früheren Arbeiter, es waren aber auch wohl Fremde darunter und im ganzen etwa dreißig Gestalten, die jetzt wie ein Spuk den Hof umzogen und sich dann im Kreis um die Opferschale aufstellten.

Sie senkten gleichzeitig die Fackeln und stießen sie gegen den Boden, daß sie erloschen. Kaum war der letzte Funken zerstoben und der Mond wieder Alleinherrscher über den Tempeltrümmern, da leuchtete ein weißes Gewand auf, das aus dem Schatten hervorkam.

Man hatte Thea in ein weißes, hemdartiges Opferkleid gesteckt, sie trug die Kette der Königin Tamara um den Hals und einen Kranz phantastischer Blüten auf dem Kopf. Ein Mann ging hinter ihr, und in einiger Entfernung folgte eine zweite Frau.

»Es ist Domingo!« sagte Richard leise, und ich sah, wie er sein Gewehr zwischen den Steinen vorschob.

Ja, der Mann war Domingo, und die Indianerin, die hinterdrein ging, war Señora Luisa. Die drei hatten nun den Opferstein erreicht, und zwei der Leute traten hervor und fesselten, nachdem sie Thea die Ehrfurchtsbezeugung über Augen und Mund erwiesen hatten, ihre Hände nach rückwärts an das Rund der Schale.

Sie stand aufrecht und frei sichtbar, das Mondlicht floß über ihr stilles Gesicht, und vor ihr hob Domingo die Hände zum Himmel. Dann begann er jenen Gesang, den wir so oft gehört hatten und der den Seelenergüssen des Mico so zum Verwechseln ähnlich war.

»Was sagt er?« fragte ich Mister Forst.

»Es ist ein Gebet an Tezcatlipoca, das Blut gnädig anzunehmen.«

Zwischen den Steinen zitterte Richards Büchsenlauf, hob sich und senkte sich wieder, und auch ich nahm Domingo aufs Korn. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz und eine Federkrone und wiegte sich zu seinem Geheul vor dem Opfer hin und her, und es war eine verdammte Geschichte, da schießen zu sollen. Ich bin kein schlechter Schütze, aber bei weitem kein Tell, und was da von einem verlangt wurde, war ein richtiger Apfelschuß.

Aber nun sahen wir in der Hand Domingos ein Messer, er endete sein Geheul mit einem langen, gellenden Triller, und dann faßte er mit der Linken Theas Hals und bog ihren Oberkörper nach hinten über den Opferstein, während er mit dem Messer in der Rechten ihr Gewand über der Brust zerschnitt.

Richard hob seine Büchse und ließ sie stöhnend wieder sinken.

»Nicht schießen!« sagte da Antonio Madero neben uns. Er hatte sich aufgerichtet und wirbelte etwas über seinem Kopf in der Luft. Und dann glitt eine dünne schwarze Schlange aus seiner Hand über den Hof hin und wand sich mit unglaublicher Sicherheit um den Körper Domingos: Antonio riß das Ende seines Lassos zurück, und der Mann unten stürzte nach hinten auf die Steinplatten des Hofes.

Nun schossen wir alle, ohne zu zielen, über die Köpfe der Leute hin und stürmten mit Gebrüll die verfallenen Treppenstufen hinunter.

Es kam zu keinem Kampf, sie wurden so überrascht, daß sie an keine Gegenwehr dachten, und als wir unten anlangten, sahen wir sie nach allen Seiten hin in die Löcher der Tempeltrümmer verschwinden wie aufgescheuchte Ratten, und das letzte, was ich erblickte, war Señora Luisa, die ihre üppige Fülle mit märchenhafter Geschmeidigkeit durch einen schmalen Mauerspalt zwängte.

Schon schnitten Richard und Paul Thea von der Opferschale los, die bestimmt gewesen war, ihr Herzblut aufzunehmen. Sie waren die Nächsten dazu, und mir oblagen die minder dankbaren Amtshandlungen. Ich stürzte mich mit Antonio auf den Gefangenen, der sich in der Umschnürung des Lassos bis in den tiefsten Schatten gerollt hatte und dort mit dem Gesicht gegen die Wand lag.

Ich gab ihm den herzhaftesten Fußtritt, den ich je in meinem Leben ausgeteilt habe, und dann drehten wir ihn um.

Es war aber nicht Domingo, den wir vor uns hatten, sondern Murillo, der gute Murillo, der ein so unsäglich dummes Gesicht machte, als wolle er uns dadurch verleiten, ihn für einen anderen zu halten. Aber seine O-Beine ließen keinen Zweifel darüber, daß er es war.


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