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8

Ich war einige Wochen daheim gewesen und hatte von meinen Freunden in London mit keiner Zeile ein Lebenszeichen erhalten. Vielleicht kletterten sie noch immer auf den Fässern in ihrem Magazin herum und zählten Kisten, vielleicht auch – ja, wahrscheinlich sogar – waren sie überhaupt schon abgereist.

Die erste Nachricht, daß sie es noch nicht waren, brachte mir eine englische Zeitung, die von dieser Unternehmung als von einer bevorstehenden Sache sprach. Mit Unterstützung der Königlichen Akademie der Wissenschaften in London. Das war mir etwas Neues. Was zum Teufel hatte die Königliche Akademie der Wissenschaften mit Paul Nosters Ausgrabungsplänen zu tun?

Jedenfalls kam noch am selben Tag ein Telegramm: »Abreise sogleich London. Mitmachst meine Kosten Expedition Mexiko. Richard.« Ich fand, daß Richard bei seinen Mitteln das Telegramm ganz gut etwas ausführlicher hätte halten können und daß es nicht angehe, über mich so einfach verfügen zu lassen. Und überdies war da in den nächsten Wochen eine Menge Zeugs los, bei dem ich dringend gebraucht wurde.

Aber dann kam ich in unsere Redaktion, und der Chef ließ mich rufen und sagte mir, er habe telephonisch mit London gesprochen und Herrn Brög zugesagt, daß ich komme, und ich habe Urlaub, solange es nötig sei, und wir seien ein Weltblatt, und meine Originalberichte würden großen Eindruck machen. Ich merkte, daß der Chef sehr für Großzügigkeit war, wenn sie ihn nichts kostete, und daß Richard Brög auch bis hierher zu wirken verstand. Daneben stellte ich mir Paul Noster vor mit seinen strafbar vertrauensvollen Augen und Richard mit der seltsamen Zaghaftigkeit gewissen Dingen gegenüber, und vor allem natürlich Thea mit dem Schmuck der toten Indianerin um den Hals – vielleicht würden sie mich brauchen.

Drei Tage später war ich in London.

Keinen Augenblick zu früh, denn in Richards Villa sagte man mir, er befinde sich bereits im Hafen, das Schiff ginge in einigen Stunden. Als ich zum Limeho Bassin kam, sah ich wirklich auch schon die zwei Ameisenzüge zwischen dem Magazin und einem großen Dampfer hin und her wimmeln, beladen zum Schiff und ledig zum Magazin zurück. Richard stand beherrschend auf einem Feldherrnhügel von Konservenkisten und regelte den Verkehr. Obzwar er eigentlich allen Anlaß gehabt hätte, sich zu wundern, schien er meine Anwesenheit für selbstverständlich zu nehmen. Mehr Zeit als bei meinem Abschied hatte er aber auch diesmal nicht, er gab mir nur flüchtig die Hand und sagte: »Fräulein Siebertz ist schon an Bord.« Er hatte offenbar ihr die Abwicklung der gesellschaftlichen Pflichten überlassen.

»Erlaube –« sagte ich.

»Was denn?« schrie er zurück. »Ausrüstung? Ausrüstung ist meine Sache. Findest alles, was du brauchst.«

Es gelang mir nach einigem Suchen, Thea aufzutreiben. Sie stand in einem grauen Reisekleid aus dem zweiten Oberdeck, und ich glaubte aus ihrer Begrüßung etwas wie Dankbarkeit dafür herauszufühlen, daß ich gekommen war.

Wir schauten in das Tohuwabohu der letzten Stunden vor einer Abfahrt, das zu unsern Füßen tobte.

»Ich bin froh«, sagte Thea mit einem leisen Seufzer, »daß der Wirbel dieser Wochen zu Ende ist. Arger kann es nicht mehr kommen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte ich, »warum Richard so unendlich viel mitnimmt. Wir reisen doch nicht ins dunkelste Afrika. Schließlich ist Mexiko so so etwas wie ein Kulturstaat. Und die Stadt Mexiko eine Stadt wie jede andere. Ich glaube sogar, daß man in Mexiko-Stadt mehr Dinge zu kaufen bekommt als in Scheibbs oder Rötzschenbroda.«

»Herr Brög sagt, er wolle unabhängig sein«, lächelte Thea, »aber ich glaube, er braucht diesen ganzen Wirbel, um –«

»Warum?«

»Nun, um sich zu ... betäuben«, zögerte Thea. »Aber vielleicht irre ich mich«, setzte sie hinzu.

Damit mochte sie wohl nicht ganz unrecht haben, nach allem, was ich um Richard wußte, und ich bewunderte das weibliche Feingefühl, mit dem sie Dinge ertastete, die ihr doch verborgen waren. Ich mußte wenigstens annehmen, daß Paul ebenso geschwiegen hatte wie ich.

»Da kommt Herr Noster!« sagte Thea plötzlich lebhaft und mit einem so freudigen Ton, daß ich einen Riß an meinem Herzen spürte. Ach, immer noch hing sie an ihm, und ich war so hoffnungslos wie zuvor.

Paul kam über die Landungsbrücke, im Gespräch mit einem andern Herrn in einem tadellosen Trenchcoat und mit einem hellgelben neuen Lederköfferchen in der Hand – Mister Forst, wenn mich nicht alles täuschte.

»Ist das nicht Mister Forst?« fragte ich, keineswegs erbaut von der Aussicht, während einiger Tage dieses Menschen unbewegtes Gesicht immer irgendwo in der Nähe zu haben, »muß der auch gerade jetzt hinüberfahren!«

»Ja ... und was sagen Sie ... er fährt mit uns.«

»Soll das heißen – mit uns?«

»Genau das!« sagte Richard Brög, der eben hinzugetreten war, ingrimmig. Er hatte seinen Beobachtungsstand verlassen, die Ameisen liefen nur mehr leer vom Schiff fort, und er stand jetzt da und machte das Gesicht einer wütenden Hyäne. »Dieser Kerl ... ich glaube, wenn der einen Topf Milch anschaut, so wird sie sauer ... ausgerechnet der!«

»Ja, ich sehe nicht ein ... warum nimmst du ihn dann mit?«

»Mitnehmen? Ich?« zischte er mich aus allen Ventilen an. »Ich? Sehr gut das! Da hat doch die englische Regierung einen Vertrag mit der mexikanischen Regierung, mit irgendeiner dieser Regierungen, sie haben immer mehrere dort drüben. Bezüglich der Ausgrabungen. Sie beanspruchen das Recht, teilzunehmen, eine Kontrolle, weißt du. Und das Britische Museum steckt seine Nase hinein und die Akademie der Wissenschaften ...«

»Ja, die Königliche Akademie der Wissenschaften«, sagte ich, »will wohl was von den Funden?«

»Die Hälfte! Die andere Hälfte bleibt drüben in Mexiko. Solche Verträge machen die Leute. Und da haben sie uns diesen Mister Forst angehängt.«

»Du wirst dir doch noch aussuchen dürfen ...«

»Nein«, schrie Richard. »Habe mich natürlich gesträubt. Mit Händen und Füßen. Aber die waren hartnäckig. Sie haben ihren Vertrag und können die Erlaubnis verweigern, wenn wir nicht tun, was sie wollen. Gilt – Gott weiß, wieso – als erster Fachmann, dieser Mister Forst – Der!! Und nun haben wir ihn auf dem Hals.«

»Werden ihn kaltstellen, meine ich.«

»Sehr kaltstellen! wird sich wundern.«

Paul Noster und Mister Forst hatten uns entdeckt und kamen auf uns zu, Paul, beglückt wie ein Kind vor Weihnachten, außer sich von der Aussicht auf eine unendliche Reihe von Jaguaren und Opferaltären und das geheimnisvolle Grab, und Mister Forst gemessen und höflich wie immer. Jeder andere wäre in der Weltraumkälte, die Richard Brög ausströmte, sogleich erfroren, Mister Forst aber schien in seiner steinernen Unbeweglichkeit für alle Seelentemperaturen unempfänglich.

Er schritt gepanzert durch die steife Förmlichkeit der Begrüßung, wenigstens anfänglich. Aber auf einmal gab es ihm doch einen Ruck. Und das war, wie sein Blick die Kette um Theas Hals traf. Die anderen schienen es gar nicht bemerkt zu haben, aber ich glaubte mich nicht zu irren, daß er zusammenfuhr, als er diese Kette sah, und daß er dann Thea ganz seltsam, mit einer Art von gespannter Aufmerksamkeit betrachtete. Vielleicht war es ein Wiedersehen, vielleicht erinnerte ihn der Schmuck an seine frühere Besitzerin, die, wie ich mir nicht nehmen ließ, der einzige Mensch gewesen zu sein schien, für den sich in diesem Steinklumpen etwas regte wie ein lebendiges Herz.

Indessen stieß der Dampfer seinen zweiten gellenden Pfiff aus, und die Begleiter der Reisenden begannen das Schiff zu räumen. Richard ließ Mister Forst andauernd seinen Rücken sehen, einen Rücken, der eine sehr deutliche Miene von Nichtachtung an sich hatte, stützte sich auf die Bordbrüstung und schaute in das Getümmel hinab.

Und auf einmal faßte er meinen Arm und zeigte auf irgend etwas in der Menge, die sich auf der Landungsmauer zum Abschiednehmen aufstellte. »Schau dorthin!« sagte er. »Siehst du ihn?«

»Wen denn?«

»Dort unten. An der Landungsbrücke. Den Mann. Der Mann ohne Namen. Der mit der Narbe ... weißt du.«

Jetzt sah ich den Mann. Er stand nahe der Brücke, einen korbgeflochtenen Kinderwagen vor sich, in dem etliche Pakete lagen, und der den Leuten im Gedränge einigermaßen im Weg zu sein schien, denn eine ältere Dame vollführte mit einem Schirm vor dem Gesicht des Mannes ein beängstigendes Gefuchtel und machte ihm offenbar heftige Vorwürfe. Der Mann aber gab keine Antwort und schaute unentwegt mit einem Ausdruck von tiefer Schwermut den Dampfer an, der sich langsam vom Ufer loszumachen begann.

»Komm mit!« sagte Richard und zog mich fort. Wir liefen über die Brücke, an der sich schon die Matrosen zum Einziehen rüsteten, und Richard packte den Mann an der Schulter und rüttelte ihn aus seiner Versunkenheit aus.

»Was machen Sie denn hier?« fragte Richard herzlos mit der durch die Umstände gebotenen Kürze.

»Um die Welt herum«, entgegnete der Mann, der von der Polizei einen neuen Namen bekommen hatte, Heinrich Schwarz, glaube ich. Und dabei schaute er nicht Richard an, sondern mich, und in seinen Augen von ausgeblaßtem Himmelblau lag etwas wie ein Vorwurf, als sei ich dafür verantwortlich, daß er nicht ohne weiteres drauflos wandern könne.

»Mit dem Kinderwagen da?« forschte Richard.

»Mein Gepäck!« sagte der Mann und schob den Kinderwagen hin und her, wie es die Kindermädchen tun, wenn sie ein schreiendes Baby beschwichtigen wollen, und schob ihn der älteren Dame mit dem Schirm über die Hühneraugen. Sie unterbrach sich augenblicklich in ihrem Abschiedsschmerz und vernichtete ihn mit einem wütenden Dolchstoß ihrer Augen: »Schauen Sie doch endlich, daß Sie weiterkommen, mit Ihrem Dingsda!«

»Wird sich schwer machen lassen«, sann Richard, »mit dem Kinderwagen über den Atlantik. Glaube, Sie kämen nicht einmal bis Greenwich. Nüssen anders herum. Hinten herum.«

»Schon versucht!« Durch Deutschland und Polen bis nach Rußland. Ein Mann sagte: ›Asien brennt!‹ Und wie Sie: ›Anders herum!‹ Schließlich großes Wasser da ... großes Wasser dort ... muß hinüber!«

»Hm«, meinte Richard, »und bei diesem Kinderwagentransport sind die hundert Pfund wohl draufgegangen? Sagen Sie, was gilt denn die Wette eigentlich?«

Ob die Erwähnung der hundert Pfund eine Erinnerung in dem verstörten Geist des Mannes aufweckte, war nicht festzustellen, denn der Ausdruck seines Gesichtes veränderte sich nicht. Aber er beugte sich zu mir herüber und flüsterte geheimnisvoll: »Meinen Namen! Meinen verlorenen Namen!«

»Es ist doch klar, daß das eine fixe Idee von ihm ist«, sagte ich ungeduldig, denn die Matrosen machten Miene, die Landungsbrücke zurückzuziehen.

»Und da fehlt Ihnen jetzt das Geld zur Überfahrt?« drängte Richard. Der Mann nickte schwermütig.

»Haben Sie Ihre Papiere?«

»Heinrich Schwarz!«, und er tippte mit dem Finger auf ein flaches Paketchen im Kinderwagen, ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Buch oder etwas dergleichen, während der Dampfer einen langen, gellenden, bösartigen Pfiff ausstieß.

»Also vorwärts! Sie fahren mit.« Und damit gab Richard dem Mann einen Stoß in den Rücken, der ihn samt dem Kinderwagen in Bewegung setzte. Er leistete weder Widerstand, noch verwunderte er sich weiter darüber, er schob den Kinderwagen über die Landungsbrücke auf den Dampfer, gerade noch im letzten Augenblick, ehe die Matrosen mit dem Abbruch der Beziehungen zum Kai Ernst machten.

Und dann gab es ein kleines Handgemenge mit dem Obersteward, der nach der Fahrkarte des Mannes fragte und sehr ungehalten etwas von Einschmuggeln sagte und den zweiten Zahlmeister rief. Bis Richard erklärte, er sei Richard Brög und werde alles in Ordnung bringen und basta, worauf dann alle Widersetzlichkeit in einer Reihe von ehrerbietigen Verneigungen auslief.

Wir überließen es dem Mann ohne Namen, sich selbst und seinen Kinderwagen zu verstauen, und fuhren aus einem Geflatter von weißen Taschentüchern hinter einem kleinen, schwarzen, schnaufenden Schleppdampfer her die Themse hinab.

Am nächsten Morgen schwammen wir im Kanal und hatten abscheuliches Wetter. Ich fand in meiner Kajüte Ölzeug für mich bereitgelegt – Richard hatte wirklich an alles gedacht –, zog es an und stieg auf das Hinterdeck hinan, wo ich Richard und Paul gesehen hatte, die vor irgendeinem in Segeltuch gehüllten Ungeheuer standen und in seine Betrachtung versunken schienen. Es war ein großmächtiges Ding, das da festgemacht war, der Sturm zauste an dem Tuch herum und hob bald den einen, bald den andern Zipfel, worauf ein unverständliches Gewirr von Stangen und Schrauben oder Platten von einem glänzenden Metall, wahrscheinlich Aluminium oder etwas Ähnlichem, zum Vorschein kam.

Ich gesellte mich zu den Freunden, stemmte mich gegen den Wind und schaute seinen Bemühungen eine Weile zu.

»Was ist denn das für ein Ding?« fragte ich endlich.

»Unser Flugzeug!« antwortete Richard, indem er eine Zigarre wegwarf, die der Sturm in einen glimmenden Besen verwandelt hatte.

»Unser Flugzeug? Wieso?« staunte ich.

»Verdammter Wind!« brummte Richard. »Nun, wir fliegen doch selbstverständlich hinüber.«

»Fliegen hinüber?«

»Ja, von den Azoren nach Mexiko.«

»Ich denke, der Dampfer ...«

»Wir laufen selbstverständlich vorher die Azoren an. Und von dort fliegen wir.«

Es sah Richard ähnlich, daß wir selbstverständlich die Azoren anliefen, anstatt wie vernünftige Menschen geradeswegs nach Mexiko zu fahren, und daß wir selbstverständlich so nebenbei einen kleinen Ozeanflug unternahmen. Ich hatte mich um nichts gekümmert und gestern abend meine Reisemüdigkeit sogleich hinter Woolwich zu Bett gebracht, und das kam davon, wenn man Richard Brög alles überließ.

»Hast du einen tüchtigen Piloten?« fragte ich zur Vorsicht.

»Piloten? Bin ich selber!« entgegnete Richard mit verblüffender Gelassenheit. »Bin schon oft genug geflogen!« Und indem er mich mit einem niederträchtig heiteren Augenzwinkern anschaute, fuhr er fort: »Ganz große, verläßliche Maschine das da. Ein Riesenflugzeug! Das beste seiner Art. Kann zwei Passagiere mitnehmen. Sogar drei, wenn's darauf ankommt.«

Ich merkte, daß es darauf abgesehen war, ich sollte einer von den zweien oder dreien sein. Und ich muß gestehen, daß ich über andere Zukunftsaussichten schon maßloseres Entzücken empfunden habe.

So sehr ich mich aber anstrengte, meine eigentliche Meinung tief unten luftdicht abzuriegeln, es muß doch irgendwie etwas davon unversehens ans Tageslicht geraten sein.

»Übrigens!« sagte Richard mit einem niederschmetternden Wohlwollen. »Übrigens brauchst du durchaus nicht mitzufliegen. Ich hatte nur gedacht, du würdest mit Vergnügen die Gelegenheit ergreifen ... Kommt nicht alle Tage. Und gibt, ich weiß nicht wie viele große Feuilletons.«

Der Wind warf sich über die Leinenplache, zerrte wütend daran, und schließlich gelang es ihm, unter Triumphgeheul wieder einen Zipfel zurückzuschlagen. Ich bekam eine der Aluminiumplatten zu sehen, ein Stück der Tragflächen vielleicht, und darauf stand mit riesigen weißen Buchstaben das Worte: Quetzalcoatl«.

»So heißt es?« fragte ich.

»Fräulein Siebertz hat es so getauft!« antwortete Richard Brög mit warmer Genugtuung.

»Ja, Thea!« bestätigte Paul und sah unglaublich einverstanden aus.

Also Thea hatte es getauft! Thea! Quetzalcoatl, der weiße Gott! Und das war also eine völlig abgemachte Sache, die Theas Segen hatte.

»Ich fliege selbstverständlich mit«, sagte ich in einem Ton, der es nicht geraten erscheinen ließ, in meine Begeisterung einen Zweifel zu setzen.

»Nun gut«, nickte Richard gemütlich, »wir drei. Ihr beiden und ich.«


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