Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1

Mein Freund, der Archäologe Doktor Paul Röster, befand sich bereits etliche Wochen in London, als auch ich dort eintraf. Nachdem ich die dringendsten Angelegenheiten erledigt und die ersten Artikel an meine Zeitung gesandt hatte, machte ich mich nach ihm auf die Suche.

Es gehörte kein sonderlicher Spürsinn dazu, ihn zu finden, ich brauchte einfach bloß ins Britische Museum zu gehen und erwischte ihn richtig vor einem abscheulichen mexikanischen Götzen, den er mit dem Ausdruck seligster Verzücktheit betrachtete. Fräulein Thea Siebertz, seine Assistentin, die gleich ihm das Ruinenfeld der Archäologie beackerte, half ihm dabei. Sie klappte eben die Kamera zu, mit der sie das Scheusal aufgenommen hatte, und, als sie mich erblickte, die Augen auf.

»Na also«, sagte ich, indem ich meinen Freund auf die Schulter schlug, »da bist du ja!«

Er wandte sich um und schien nicht sonderlich verwundert, mich neben sich zu sehen. Bei seinen mexikanischen Altertümern waren ihm Raum, Zeit, Kausalität und die sonstigen philosophischen Grundtatsachen unseres Daseins zu Belanglosigkeiten verblaßt.

Immerhin ermannte er sich dazu, meinen Händedruck zu erwidern und einige Worte der Begrüßung mit mir zu wechseln.

»Und was hast du außer deinen Vitzliplutzlis bisher von London gesehen?« fragte ich, nachdem das Wiegeht's und Wowohnstdu erledigt war.

Er starrte mich an, als habe ich mich erkundigt, ob er inzwischen dem Sultan von Marokko seine Aufwartung gemacht habe. Meine Frage war ebenso an ihn wie an Fräulein Siebertz gerichtet, und sie gab mir auch, mit einem nur dem feineren Ohr hörbaren Werben um Bedauern, zur Antwort: »Gesehen, Herr Doktor? Das Britische Museum! Wir machen von früh bis abends Notizen und Aufnahmen, und abends ordnen wir die Notizen und entwickeln die Aufnahmen.«

Es war genau so, wie ich es gedacht hatte, und ich ließ die junge Dame nicht im Zweifel darüber, daß jenes Bedauern, das sie anrief, in vollem Ausmaße bei mir vorhanden war: »Du warst also noch nicht im Covent Garden Theater? Nein? Im Haymarket Theater? Nein? Im Vaudeville Theater? Nein? In der Alhambra, im Hippodrom? Nein? Im Hydepark, in Windsor, in Hampton Court, im Regent Park? Nein? Also ich muß sagen –«

Paul machte einen Versuch, sich in die Brust zu werfen, was ihm nur sehr unvollkommen gelang: »Die Regierung hat mich hierhergeschickt, um zu arbeiten, nicht, um mich zu unterhalten ...«

»Ja, ich weiß«, unterbrach ich ihn, »der österreichische Dalles, das ist ein Gott von furchteinflößender Mächtigkeit. Kein Götterhimmel eines anderen Volkes oder einer anderen Zeit hat seinesgleichen, nicht einmal der mexikanische. Aber du solltest bedenken, daß auch der kraftstrotzendste Pinzgauer nicht dauernd im Geschirr bleiben kann.«

Paul war es gewiß noch niemals in den Sinn gekommen, sich mit einem gewöhnlichen Einspännergaul zu vergleichen, geschweige denn mit einem Pinzgauer. Er schwieg betreten, und ich fuhr fort, aufgemuntert durch ein Nicken seiner Assistentin: »Ich gebe dir noch drei Tage Zeit, dich archäologisch auszutoben und vor dem Gott Dalles zu rechtfertigen. Dann komme ich, um dich zu holen.«

Damit verließ ich ihn und nahm einen Dankesblick der jungen Dame mit auf den Weg.

Dieser Blick lebte drei Tage in mir und besonnte meinen ganzen Innenmenschen, so daß nicht einmal die Düsternis eines echten Londoner Nebels viel über ihn vermochte. Eine solche magische Gewalt hatte ein Blick aus diesen grünen Augen – oder waren sie grau? Man konnte es ebensowenig sagen wie von ihrem Haar, ob es blond war oder rötlich. Fräulein Siebertz war ein sportlich straffes Mädel, schlank, ohne in den modischen Ungeschmack übertriebener Magerkeit zu verfallen, und dabei war sie sehr tüchtig in ihrem Fach, eine Hoffnung sozusagen, was ihr auch die ehrende Auszeichnung eingebracht hatte, bei einer Leuchte wie meinem Freund Paul Noster Assistentin sein zu dürfen. So wog sie daheim Studium und Arbeit gegen den Betrieb aller Arten von körperlichen Übungen, des Schwimmens, Tennisspielens, des Bergsteigens und der rhythmischen Gymnastik sorgsam und besonnen ab und hatte auch viel Sinn für Losgebundenheit im Vergnügen. Sie war weit entfernt von jenen Schauerweibern, die noch in der vorhergegangenen Generation von Studentinnen und Blaustrümpfen in der Absage an das Geschlecht die erste Bedingung einer Rechtsangleichung an den Mann erblickt hatten.

Sie war, mit einem Wort, innen und außen herum genau so, wie es meinem Geschmack und meinen Wünschen entsprach. Aber das mußte eine völlig hoffnungslose Angelegenheit bleiben. Denn es konnte meinem Scharfblick nicht entgehen, daß sie durch eine unbegreifliche Fügung des Herzens meinem Freund insgeheim innig verbunden war, diesem kurzsichtigen Paul Noster, der offenbar keine Ahnung hatte, was da neben ihm blühte und wuchs. Jeden andern hätte ich mit kalter Entschlossenheit irgendwie zu beseitigen versucht, diesem Nachtwandler gegenüber war ich machtlos, aber man versteht, daß ich manchmal wütend auf ihn war und ihm am liebsten eine hineingehauen hätte.

Etwas Ähnliches dachte ich, als ich am Abend des dritten Tages wieder ins Britische Museum kam, kurz vor Schluß, als der Strom der Besucher schon zu einem spärlichen Rinnsal geworden war. Und auch dies dachte ich, daß Fräulein Thea Siebertz eine junge Dame von vierundzwanzig Jahren war, und daß sie heuer noch keinen Urlaub gehabt hatte.

Ihre Augen leuchteten auf, als ich eintrat. Es sah ganz so aus, als hätte sie mich schon sehnsüchtig erwartet.

»Wo ist Paul?« fragte ich erstaunt, da der Mann der Wissenschaft nicht zu erblicken war.

Sie klappte ein Heft zusammen und deutete mit schalkhaftem Lächeln nach einem Paar Schuhen und zwei verknitterten und verschobenen Hosenbeinen, die unter einem steinernen Ungetüm hervorschauten, einer Art Jaguar aus Andesit, der sich zähnefletschend zum Sprung niederduckte. Es war zu erraten, daß es mein Freund war, der in diesen Gelehrtenhosen stak und unter dem Bauch des Jaguars lag.

Ich packte ihn ohne Umschweife an den Schuhen und zog daran: »Komm hervor!« knurrte ich rauh.

Ich zog noch einmal, und es glückte mir, ihn hervorzuholen. »Alles hat seine Grenzen«, sagte ich, »auch die Wissenschaft!«

»Er hat eine Inschrift auf dem Bauch!« wandte Paul ein, indem er sich aufsetzte.

»Schwer zugänglich, was?«

»Und schwer zu entziffern. Ziemlich verwischt, kaum lesbar! Haben Sie alles geschrieben, Fräulein, was ich diktiert habe?«

»Du wirst gut tun, ihm den Bauch mit einer Glühbirne zu bestrahlen.«

»Das ist eine Idee! Es wird nichts anderes übrigbleiben, als ...!«

»Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, als jetzt mit uns zu kommen. Ich habe dich lange genug deinen steinernen Bestien und mexikanischen Ölgötzen überlassen ...«

»Erlaube mir!«

Ich beendete die Verhandlungen, indem ich Paul beim Arm packte und auf die Füße stellte, ein Beginnen, das offensichtlich der jungen Dame vollen Beifall hatte.

»Wohin gehen wir!« fragte mein Freund.

»Du wirst es sehen! Jedenfalls aus dem grauen Altertum fort in die Neuzeit!«

»Ausgezeichnet!« sagte ein Herr, der auf leisen Sohlen durch die Dämmerung herangekommen war und nun unerwartet unter uns stand. »Gestatten Sie, daß ich mich dieser Expedition anschließe.«

Es war Mister James Tabor Forst, zweiter Kustos an der Abteilung für mexikanische Altertümer. Ich hatte ihm vor Jahren einmal für einen Zeitungsartikel im Verlaufe einer halben Stunde meine staunenswert gründliche Kenntnis des Britischen Museums abgezapft. Über seine wissenschaftliche Eignung war mir nichts bekannt, vielleicht verdankte er seine Stellung dem Umstand, daß er in Mexiko drüben geboren war. Halbblut, aus der Ehe eines englischen Kaufmanns mit einer Indianerin. Die Rassen schienen sich in ihm so gemischt zu haben, daß alles Geschmeidige und Weiche ausgelöscht war und die Härten der Bildung englischer Gesichter sich durch den scharfen indianischen Schnitt bis zu einer starren, steinernen Unbeweglichkeit gesteigert hatten. Es war unleugbar eine Ähnlichkeit mit den gewissen mexikanischen Gesichtsmasken von gehärteter Undurchdringlichkeit vorhanden, mit den Köpfen von Krieger- oder Priestergestalten. Man hätte den Kopf des lebenden Mister Forst unmittelbar jenen Rümpfen aus Hämatit oder Andesit aufsetzen können.

Im übrigen war Mister Forst ein Mann von Welt, von einer gleichmäßigen Höflichkeit nahe dem Nullpunkt der Gefühle, immer tadellos gekleidet, zu tadellos vielleicht für unsere Auffassung von dem Äußeren eines Mannes der Wissenschaft. Aber mein Gerechtigkeitsgefühl sagte mir, daß Hosen mit Bügelfalten und Lackschuhe kein unbedingtes Hindernis für Leistungen aus dem Gebiete der Altertumskunde sein müßten.

Er hatte auch in Deutschland studiert, in Heidelberg, wo er viel mit Korpsstudenten verkehrt haben wollte, selbstverständlich mit solchen des weißen Kreises, die das Feinste vom Feinen sind. Zum Beweis gab er gelegentlich eine phantasievolle Beschreibung der »Heidelberger Rose«, aus der hervorging, daß er sie für eine Art Gewächs hielt, das er irgendwie mit dem tausendjährigen Rosenstock in Hildesheim verwechselte.

Es war ein gewisses Widerstreben in mir, unser Beisammensein durch diesen Fremden stören zu lassen, und mein Freund schien ebensowenig entzückt zu sein. Wie er mir später bekannte, brachte auch er Mister Forst keine übertriebene Zuneigung entgegen, wenn er auch nicht so weit ging wie seine Assistentin, die behauptete, dieser Gentleman sei dazu bestellt, Nosters Arbeit zu überwachen und vielleicht wegzuschnappen, was möglich sei.

»Ich bin mit einer bestimmten Absicht hierhergekommen«, sagte Mister Forst, als unsere Zustimmung zu seinem Anerbieten ein wenig auf sich warten ließ, »mit derselben wie Mister Schopp. Wollte Sie nämlich für einen Abend Ihrer Arbeit entführen.«

Paul wehrte sich noch ein wenig. Er warf einen Blick aus den Jaguar und bemerkte wehmütig: »Ich wäre gern heute noch dahintergekommen!«

»Schlechtes Licht heute«, sagte Mister Forst, »übrigens – es gibt Dinge, hinter die Sie niemals kommen werden.«

Täuschte ich mich, oder war wirklich ein Klang überlegenen Spottes und heimlicher Schadenfreude in diesen Worten. Ich sah den Mann an, aber in dem steinernen Gesicht rührte sich nichts.

»Keiner von uns!« setzte er hinzu. »Sie sollten heute wirklich Schluß machen. Unser Direktor Breadsley meint auch, wir hätten uns gegen einen so berühmten Besuch bisher wenig gastfreundlich betragen. Und es wäre an der Zelt, uns ein wenig um Sie zu kümmern.«

Paul schien einzusehen, daß ihm nichts anderes übrigblieb als sich zu fügen, und verschwand hinter der Glastür in dem Kabinett, um seine Arbeitskleidung gegen den Straßenanzug zu vertauschen.

Wir nahmen unten ein Auto, dessen Lenker ich unser Ziel zuflüsterte, und noch ehe wir losfuhren, war Noster schon mit Mister Forst in ein Gespräch über die Hieroglyphen auf dem Bauch des Jaguars vertieft.

Es war mir nicht unlieb, daß Thea Siebertz mir überlassen blieb.

»Wohin fahren wir?« fragte sie.

»Tanzen Sie gern?« fragte ich zurück.

»Leidenschaftlich!« Ihre Augen waren ganz groß vor Freude. »Finden Sie das gräßlich?«

»N–ein! Warum soll man nicht tanzen, wenn man daneben noch für andere Dinge Zelt behält.«

»Wissen Sie, wenn man solange eine kranke Tante pflegen mußte! Meine Schwester und ich waren jahrelang angebunden. Sie werden lachen: im vollen Sinne des Wortes ›angebunden‹. Sie war so ein schwacher, alter Mensch mit ganz zerstörten Nerven, es mußte immer eine von uns mit ihr schlafen. Und morgens mußte sie zur bestimmten Stunde ihre Medizin bekommen. Aber einen Wecker neben ihr loszulassen, das wäre ihr sicherer Tod gewesen. Da hat sich nun die von uns, die den Nachtdienst hatte, eine Schnur um die große Zehe gebunden. Die ging durch das Schlüsselloch in das Vorzimmer, und wenn die Stunde für die Medizin kam, zog die andere draußen daran. Da wurde man wach davon ganz ohne Schrecken für die Tante.«

»Tapferes Mädel!«

»Ach was! Die arme Tante ist nun doch tot ... Und der alte Großvater, mit dem ich nachher lebte, auch ...« Sie unterbrach sich: »Und wohin fahren wir?«

»Zur Olympia Hall. Dort ist das größte Tanzereignis im Gang, das London zur Zelt zu bieten hat.«

»Was ist das?«

»Warten Sie! Aber sagen Sie Paul nichts davon. Er wäre imstande, uns noch im letzten Augenblick auszureißen.«

Die Warnung war unnötig gewesen. Denn als wir ankamen, lag Paul noch immer im Geist unter dem Bauch seines Jaguars, und ich glaube kaum, daß er von dem brausenden Lärm, der uns umgab, mehr als ein undeutliches Geräusch, und von der Lichtfülle, die auf uns herabstürzte, mehr als einen beiläufigen Schimmer wahrnahm. Draußen vor dem Rundbau schrien zweimeterhohe Feuerschriften aus Glühbirnenbuchstaben in die Nacht, über dem Eingang, über der teppichbelegten Treppe vor der Kasse wiederholten andere Transparente, Tafeln, Plakate immer dasselbe: »Wett-Dauertanz! Preis zweitausend Pfund! Fünfter Tag!«

Wir betraten den Saal und setzten uns in eine der Logen, die gleich dem übrigen Zuschauerraum in wohltuender Dämmerung lagen. Das ganze blendende Licht des Raumes wurde von den Scheinwerfern der Decke auf das Parkett gesammelt, und in diesem grellen, kalkweißen, unbarmherzigen, kochenden Stoff dort unten tanzte eine Anzahl von Paaren zu einer müden, gleichmäßigen, schleichenden Musik, die aus irgendeinem unsichtbaren Loch hervorkroch.


 << zurück weiter >>