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3

Auf dem Wege zum Ritz Hotel zwang Forst seiner entrüsteten Aufwallung wieder den gewohnten Gleichmut auf. Aber an der Tür empfahl er sich im richtigen Gefühl vollkommener Überflüssigkeit, und wir machten ihm den Abschied nicht schwer. »Wenn drei Freunde nach so langer Zeit zusammenkommen, so sprechen sie doch vor allem von einer Vergangenheit, an der man keinen Anteil hat! Nicht wahr?« Dagegen war nichts einzuwenden, und wir versuchten auch nichts dergleichen.

Wir konnten uns also in die Vergangenheit versenken und taten es auch so ausgiebig, daß ich nicht genau sagen kann, wie die Speisenfolge zusammengestellt war. Aber es ist anzunehmen, daß sie dem Geschmack und den Erfahrungen eines Mannes wie Brög entsprach, wenigstens schimmert eine fabelhafte Sache, an der ein Hummer – oder war es eine Languste? – entscheidend beteiligt war, undeutlich in meiner Erinnerung.

Wir nahmen der Reihe nach unsere Professoren vor und dann die Kameraden, auch deren spätere Lebensläufe, soweit sie uns bekannt waren, und dann kamen unsere eigenen Streiche an die Reihe, ein ganzes Register von Übermut und Dummheit und Unverschämtheit. Das Triumvirat, ob es so was unter der heutigen Jugend noch gab? Kein Mensch hätte uns überzeugen können, daß wir nicht sozusagen die letzten Mohikaner der alten besseren Zeit gewesen wären.

Fräulein Thea Siebertz saß dabei, und obgleich sie an dieser hier ausgedeckten Vergangenheit keineswegs unmittelbar beteiligt war, konnte ich ihr doch anmerken, daß ihr diese Art von Ausgrabungen mindestens ebenso wichtig und bedeutungsvoll war wie sämtliche mexikanischen Altertümer zusammengenommen.

Schließlich drängten sich unsere Mägen gegen die Westen, und da auch unser erster Seelenhunger gesättigt war, begannen wir ein wenig nachdenklicher zu werden.

Brög wurde sogar auffallend nachdenklich, schwieg eine Weile, während Paul noch dem verstorbenen Professor Piger so etwas wie einen Nachruf hielt, stopfte dann eine halb gerauchte Zigarette in das Maul eines kleinen bronzenen Japanlöwen, der solche Stummel aufzufressen bestimmt war, und sagte: »Ihr werdet mich natürlich für eine Art von Ungeheuer halten ... nach dem, was ihr in der Olympia Hall gesehen habt.«

Er hatte das mit einem halben Lächeln gesagt, einem etwas kümmerlichen Lächeln für einen Gewaltmenschen, und sah uns, Fräulein Siebertz mit eingeschlossen, flüchtig an.

Es war schwer, auf diese Frage sogleich eine passende Antwort zu geben – nach einem solchen Abendessen mit einer fabelhaften Hummersache – wie gesagt – und vor einigen Flaschen Johannisberger Kabinett. Erklärlicherweise wanden wir uns ein wenig darum herum.

»Nehmt euch kein Blatt vor den Mund, Männer von Athen! Und auch Sie, mein Fräulein!« setzte Richard mit einer kleinen Verbeugung hinzu. »Sagen Sie es rund heraus, daß Sie es für einen Unfug halten.«

Paul räusperte sich und wurde rot, aber er zeugte für die Wahrheit: »Ich kann nicht sagen, daß ich diese Veranstaltung besonders sinnvoll finde.«

»Einfach – haarsträubend!« ergänzte Thea geradezu.

Richard Brög ließ sich Zeit zur Antwort: »Und wenn es nun meine Absicht wäre, zu beweisen, daß es keinen Unsinn gibt, der haarsträubend genug ist, um nicht mitgemacht zu werden? Wenn ich zeigen wollte, daß die Menschheit niederträchtig genug ist, aus jeden Unfug einzugehen und sich bis zum äußersten zu erniedrigen, wenn ein paar hundert Pfund als Preis ausgesetzt sind?«

»Es ist ...«, warf ich ein, um auch meinerseits meinen ethischen Standpunkt festzulegen, »es ist ... hm ... also, wenn ich recht verstehe, eigentlich sozusagen eine Bilanz, um nicht zu sagen ein Querschnitt durch die Mentalität ...«

»Glaubst du«, schnitt mir Brög den philosophischen Faden ab, »es hätte eine einzige Zeitung zu schreiben gewagt, daß es eine ungeheure Gemeinheit von mir ist und daß die Menschheit gegen einen solchen Kerl wie mich eigentlich Front machen müßte? Aber meine Millionen verkleben den Mund der öffentlichen Meinung. Das Äußerste, was die sich zu schreiben unterfangen haben, war Snob und Spleen, aber unter allerlei mildernden Umständen.«

»Es muß schon etwas sehr Schönes sein«, wandte ich ein, »wenn man mit seinem Geld ... und du wirst ja auch gewiß andererseits zu anderen Zwecken ...«

Meine sittliche Ehrenrettung blieb unvollendet, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür unseres Sonderzimmerchens, und es schob sich ein fremder Mann herein, ein Mann mit braunem vorzeitlichem Havelock und Sandalen an den Füßen. Die grauen Haare trug er lang nach hinten über den Kopf gestrichen, und sie waren so dünn, daß man eine gräßliche Narbe ziemlich deutlich sehen konnte, die an der Schläfe begann und sich gegen den Schädel hinzog. Es sah aus, als sei der Schädel an dieser Stelle zertrümmert gewesen und nur notdürftig wieder zugeheilt.

Er trat ganz still und demütig ein, kam, ohne ein Wort zu sagen, an unseren Tisch, legte eine Karte zwischen die Rheinweinrömer und Obstteller und ging lautlos wieder hinaus wie eine Geistererscheinung.

Brög nahm die Karte auf, sah sie an und reichte sie mir. Es war das Bild des Mannes in Havelock und Sandalen darauf, und daneben stand: »Der Mann ohne Namen! Der Mann ohne Namen! Wandert infolge Wette zu Fuß um die Welt und lebt vom Erlös dieser Karte.«

»Auch so eine neue Art von Bettel!« sagte ich, »die Leute kommen in alle Gasthäuser, gehen von Tisch zu Tisch, legen solche Karten hin und holen sie nach einiger Zeit wieder ab. Ganz einträgliches Geschäft, glaube ich. Und sehen dabei die Welt, wenn sie nicht etwa irgendwo in der nächsten Straße ihre ruhige Dauerwohnung haben.«

»Schreckliche Narbe, was!« sagte Richard, ohne auf meine hartherzigen Deutungen einzugehen.

»Schrecklich! Man konnte meinen, daß überhaupt kein Knochen da ist und das Gehirn unmittelbar unter der Haut liegt.«

»Na ...«, kehrte Richard zu unserem Gespräch zurück, indem er mit der Karte zu spielen begann, sie zusammenbog und wieder aufschnellen ließ, »mit meinem Geld! Ich hoffe, ihr liegt nicht auf dem Bauch vor ihm wie die anderen.«

»Nein«, sagte ich großartig, »gewiß nicht. Das tun wir höchstens vor anderen Dingen, vor steinernen Jaguaren und so.«

»Aber ihr seid natürlich glühend darauf verpicht, zu erfahren, wie das aus mir geworden ist. Eine ganz einfache Sache.«

»Alle großen Dinge sind im Grunde einfach!« bekräftigte ich.

»Mein Vater war nur ein kleiner Beamter. Aber da war ja meine Mutter, eine Engländerin, wie ihr wißt. Und da gab es so einen mütterlichen Verwandten in Amerika, der hatte eine Farm in Kalifornien. Es machte kein Mensch Gebrauch von ihm, dachte niemand an ihn. Und auf einmal war eine Erbschaft da, die Farm und noch so Zeug. Das war mir so gleichgültig, als läge sie auf dem Mond. Ich war Jurist, plante eine geregelte europäische Laufbahn, Rechtsanwalt und so weiter, nichts lag mir ferner als Geldmachen im großen Stil. Auf einmal wurde das anders, und die Juristerei kam mir albern und kleinlich vor. Ich ging übers Wasser und schaute mir die Farm an und stocherte so aufs Geratewohl im Boden herum. Und eines Tages riß mir plötzlich ein Strahl aus der Erde meine Bohrmaschine und meine Arbeiter und mich selbst über den Haufen. Ich hatte auf meinem Grund eine mächtige Masse Öl angebohrt. Das war der Anfang. Später kam Eisen dazu und Kohle und Graphit und Baumwollpflanzungen im Süden und Diamantengruben in Südafrika.«

»Ganz einfach«, sagte ich, »wirklich! Es gibt kein einleuchtenderes Rezept, rasch Millionär zu werden.«

»Und dann«, setzte Brög hinzu, indem er die Karte des Mannes ohne Namen auf eine niederträchtige Weise mißhandelte, »bekam ich erst die ganze Erbärmlichkeit zu sehen. Alle Philosophen haben darüber geschrieben ... vom Hörensagen. Aber unsereiner muß all das erleben, und man muß schon einen guten Magen haben, um es zu vertragen. Man leidet unter ständigem Brechreiz. Zuletzt aber begann mir die Sache doch wieder Spaß zu machen, und ich kam darauf, wie ich mein Geld auf eine dieser Menschheit würdige Weise verwenden könnte. Es gibt keinen Akt der großen Komödie der letzten Jahre, an dem nicht meine Dollars irgendwie teilgenommen hätten. Ich habe die russische Revolution in ihren Anfängen finanziert und dann die weißen Gegenrevolutionen ... die ungarische Räterepublik und ...«

»Aber das da in der Olympia Hall«, unterbrach Thea, der offenbar die politischen Kämpfe minder schrecklich erschienen als das Schauspiel, dessen Zeugin sie gewesen war.

»Mein Fräulein«, sagte Richard, »ich habe in einer der angesehensten Neuyorker Kirchen einen merkwürdigen Gottesdienst gesehen. Es sind da nach Abwicklung des üblichen frommen Programms zwölf Tänzerinnen aufgetreten – sie haben wenig zu erraten übriggelassen –, die dem Publikum das damals modernste ihrer Kunst: Shimmy, Tango, Charleston, Java und so weiter vorgeführt haben. Darüber ist es dann in der Kirche zwischen den Freunden und Feinden dieser Neuerung zu einer Rauferei gekommen. Aber beim nächsten Gottesdienst waren die zwölf Tänzerinnen wieder da, und die Kirche war überfüllt, und bei der dritten Aufführung war sie zum Bersten voll. Und als man den Pastor vor einem Konzil zur Rede stellte, hat er gemeint, darauf komme es an, daß die Kirche voll sei, und die Kirche müsse mit dem Zeitgeist Schritt halten, und der Tanz sei ein hervorragendes Mittel, um auch solche Leute in das Gotteshaus zu bringen, die sonst niemals daran dächten, hinzugehen.«

»Nun, und?« fragte Thea herausfordernd.

»Nun, was sie gesehen haben, war auch eine Art Gottesdienst. Der älteste Gottesdienst der Welt, dem schon Moses vergebens seine Tafeln entgegengeschleudert hat.«

»Sag einmal, Richard«, fragte Paul plötzlich, der nach seiner Art still und hartnäckig inzwischen seinen besonderen Gedanken nachgehangen zu haben schien, »du bist doch verheiratet?«

Ich wußte nicht, ob ich richtig gesehen hatte, aber Brög machte den Eindruck eines Mannes, der nachts auf der Straße im Nebel unerwartet von einer Wagendeichsel angerempelt wird. Dann faltete er die Karte des Mannes ohne Namen sorgfältig harmonikagleich in Streifen zusammen und zog sie wieder auseinander. »Wie kommst du darauf? Ich denke nicht daran, verheiratet zu sein.«

Pauls Gedankenarbeit war jedoch eine zu dickflüssige Masse, um jemals sogleich aus der Richtung gebracht werden zu können. »Oder gewesen ...? Ich entsinne mich ganz deutlich, daß ich von dir – vor Jahren schon – eine Anzeige bekommen habe.« Die Sache hatte offenbar Eindruck auf Paul gemacht, weil sie ihm unter seinem mexikanischen Gerümpel nicht abhanden gekommen war.

»Muß ein Irrtum sein«, sagte Brög, griff nach seinem Glas und trank es auf einen Zug aus.

»Nein«, unterstützte ich Paul, »ich erinnere mich auch. Das war so eine Anzeige in zwei Teilen, vorn eine Radierung, eine Rosenlaube und zwei Tauben oder so was Tiefempfundenes. Ich habe dir sogar einen Glückwunsch geschickt.«

»Gott weiß, mit wem ihr mich da verwechselt«, entgegnete Brög und zog eine Tasse zu sich heran, auf der einige schwärzliche Nudeln von Havannazigarren in ihren gläsernen Röhrchen lagen.


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