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5

Am übernächsten Tag wanderten Paul Noster und ich den Hügel hinter Wimbledon hinan, auf dem Brögs Londoner Landhaus lag.

»Nicht zu verfehlen«, hatte Richard gesagt, »mehr gegen Kingston zu, hinter Richmond Park, ihr braucht euch nur nach dem Buddhistischen Kloster zu richten und dem Tempel mit dem chinesischen Dach, der liegt gleich daneben.«

Wir sahen auch wirklich nach kurzem Suchen eine Art phantastischen Taubenschlags vor dem Abendhimmel, eine für England höchst unpassende Architektur, die man mit einiger Nachsicht für buddhistisch und chinesisch oder doch irgendwie östlich ansprechen konnte.

Und gleich daneben lag Brögs Landhaus in einem großen Park, den die Dämmerung noch größer machte, und dann gingen wir über eine breite Treppe, durch eine Halle und eine Flucht von Zimmern, immer hinter einem Malaien oder Inder her, sofern man nach einem braunen Gesicht, einem weißen Turban und einem sehr leisen Schritt schließen konnte.

Ich hatte den Eindruck, als sei in Brögs Haus ein bißchen viel fremdländisches Gerümpel zusammengedrängt, Waffen und Teppiche und Statuen und Möbel aus aller Welt. Es mochte überaus selten und kostbar sein, aber es war aufgestapelt wie in einer Raritätenkammer, und es erschlug einen durch seine Fülle.

Ungefähr so hatte ich es erwartet, aber dann kam doch eine Überraschung.

Denn zuletzt pochte der schattenhafte Malaie oder Inder an eine gewöhnliche eichene Tür, und auf ein Brummen dahinter ließ er uns ein. Da standen wir zwischen vier weißen, getünchten Wänden, in denen nichts zu sehen war als ein eisernes Feldbett, ein kahler Tisch und einige Stühle, die ihre biedere Rechteckigkeit wirklich nicht mehr übertreiben konnten, sonst nichts. Außer Richard natürlich, der dasaß, eine kurze Pfeife rauchte und eine Zeitung las. Ich sah sogleich, daß es dasselbe Blatt war, in dem ich heute morgen den langen Artikel über den Wettdauertanz in Olympia Hall gelesen hatte, einen sehr gewundenen Artikel, der aber schließlich doch darauf hinauslief, daß man diesen Unfug verbieten sollte. Und es stand auch eine kleine Nachricht dahinter, daß bei zweien der unglücklichen Bewerber Tobsucht ausgebrochen war, so daß man sie hinter Schloß und Riegel hatte bringen müssen, und daß eine der Tänzerinnen im Sterben lag, vielleicht sogar schon gestorben war.

An der Art, wie Richard die Zeitung zusammenlegte und von sich wegschob, merkte ich, daß es ihm wohl nicht erwünscht wäre, gerade davon zu beginnen. Ich tat also, als sähe ich die Zeitung gar nicht, und schaute mich in Richards Zelle um. Es war eine gewollte Nüchternheit in diesem Raum, eine absichtsvolle Einfachheit und eine Geste von Weltflucht, die nach dem Gang durch die Üppigkeiten aller Zonen und Völker doppelt aufreizend wirkte.

»Ein Mönchsleben«, sagte ich, nachdem wir uns herzlich die Hände geschüttelt hatten, »so eine Art moralische Speisesoda für verpatzte Mägen von Lebenskünstlern.«

»Das ist noch Wollust der Welt«, lächelte Brög und deutete nach dem phantastischen Taubenschlag, den man durch das einzige Fenster sehen konnte, »dort drüben im Kloster habe ich eine Kammer, die ist noch viel einfacher.«

Es wirkte tröstlich, daß es in diesem ausbündig aszetischen Raum doch einen verborgenen Wandschrank gab, dem Richard eine Flasche Whisky nebst Gläsern und eine reichlich bestellte Rauchkiste entnahm. »Gibt's drüben nicht!« sagte er mit einem Blick nach dem Taubenschlag.

Dann saßen wir um den Tisch herum und konnten uns davon überzeugen, daß es richtig sei, wenn es heißt, unbequemes Sitzen schärfe den Geist.

»Ich habe euch zu mir gebeten«, begann Brög, »weil ihr eine Frage an mich gerichtet habt, auf die ich die Antwort schuldig geblieben bin.«

Wir saßen gespannt da und wußten nicht gleich, was gemeint sei.

»Es war doch eine junge Dame dabei, dieses Fräulein Siebertz, und vor jungen Damen kann man über manche Dinge nicht so recht sprechen.«

»Mein Gott, Thea«, berichtigte ich ihn, »ein junges Mädchen von heute ... die Zeiten sind vorüber ...«

»Nun dann – war's also meinetwegen«, fiel mir Brög ins Wort, »daß ich euch nicht die Wahrheit gesagt habe. Ihr habt mich gefragt, ob ich verheiratet bin. Nun, die Wahrheit ist, daß ich verheiratet bin. Oder vielmehr, ich bin es gewesen.«

Paul und ich sahen einander an, denn gerade über diesen Punkt hatten wir noch nachher miteinander gesprochen und uns darin bestärkt, daß wir uns nicht geirrt haben könnten. Und dann sah Paul wieder Richard an und fragte mit aufrichtiger Betrübnis: »Tot?«

Richard lachte ein Lachen mit dreißig Prozent Schwefelsäure: »Nein, sehr lebendig! Aber nicht für mich. Geschieden!«

Das dumpfe Schweigen fiel ein, das nach einer solchen Eröffnung am Platz ist.

»Stellt euch vor«, sagte Richard nach einer Weile und schluckte, »stellt euch vor ... das reizendste Geschöpf, das ihr euch denken könnt. Frühling, Tauglanz im Morgensonnenschein, jeder Grashalm eine Perlenschnur, Extrakt aus zehntausend Fliederblüten, Narzissen, Himmelsschlüsseln ... das duftigste, zarteste Wesen, ein Wunder – alles noch zu wenig. Und allein auf der Welt, ohne Familie, alles weggestorben, also schutzbedürftig. Aber sehr gut erzogen und verwöhnt, anspruchsvoll, immer mit neidvollen Augen, wenn ein Auto vorüberkam.«

»Ein Verbrechen der Erziehung«, warf ich ein, »die Eltern glauben immer, sie würden ewig leben, dann kommt's anders, und das Unheil ist da.«

Richard nickte mir zu, daß ich es richtig erfaßt hätte. »Und ich daneben als der kleine Jurist in den Anfängen. Mit Aussichten auf ein langsames Emporklimmen, viel zu langsam. Versteht ihr nun, warum ich mich plötzlich dieser Farm drüben entsonnen habe? Sie hätte ja als meine Frau mitkommen können, aber ich sah ein, es war nichts für sie. Ich ließ sie also hier, und damit sie nicht so schutzlos dastehe, gab ich sie einem Verwandten in Obhut, meinem Onkel, einem älteren, durchaus würdigen Herrn in sehr geachteter Stellung. Er mußte mir versprechen, sie wie seinen Augapfel zu hüten.«

»Und dann bist du ja sehr rasch herausgekommen.«

»Ja ... wohl doch nicht rasch genug. Ich habe die Zähne zusammengebissen und geschuftet, immer noch ein Stück weiter, damit sie's ganz aus dem vollen haben könnte. Dann kam ich, um sie zu holen. Sie war schöner noch als zuvor, aber irgendwie ... der Duft war fort, der Morgenglanz erloschen, etwas Fremdes spießte sich mir entgegen, eine Art war da, spöttisch über mich hinwegzusehen, eine Kälte, und ich merkte, daß sie über Dinge und Menschen urteilte, als säße ihr ein Splitter vom Spiegel des Satans im Auge. Und so zog sie unsere Verbindung zuerst eine Zeitlang immer wieder hinaus, machte Ausflüchte, und ich glaubte zu bemerken, daß sie mir etwas sagen wolle und es doch nicht zu sagen wage.«

Richards Jungengesicht war grau und voll Gram, und zwei Glas Whisky verschwanden hintereinander, als würden sie in ein Loch gegossen. »Und dann kam's«, fuhr er fort, »ich muß es euch sagen, damit ihr alles besser versteht. Dann kam's, als ich Ernst machte und schon die Hochzeit bestellt war und alles. Dann sagte sie mir, daß sie nicht mehr dieselbe sei, als ich sie verlassen. Und kurz und gut, daß sie sich von einem Manne habe nehmen lassen. Nicht einmal, vielmals, eine ordentliche, ausgiebige Liebschaft, während ich drüben in allem Schmutz und Unrat des Geldverdienens herumkroch und mich vor mir selber darüber schämte, wozu ich mich hergab. Ja, und sie müsse es mir sagen, ehe ich sie heirate, damit ich Bescheid wisse und mir überlege, ob ich sie jetzt noch zur Frau wolle.«

»Das ist ...«, sagte ich, »das ist doch wenigstens ... ehrlich und anständig!« und weiter fiel mir nichts ein.

Paul sagte gar nichts. Er riß nur die Augen auf, und seine einfache Gelehrtenseele war offenbar in ihrem Glauben an die Menschheit erschüttert.

»Ihr könnt euch denken, welchen Kampf es mich gekostet hat. Ein Kampf ...! Wochenlang ging ich so knapp am Rand des Abgrundes hin, tagelang mit einem Revolver in der Tasche. Na – und schließlich, ich weiß nicht, was ein anderer getan hätte, ich weiß nicht einmal, ob das, was ich getan habe, für einen Menschen von Ehre überhaupt möglich ist. Trotz alles Elends und aller Not brannte ich nach ihr, brannte ich in hellen Flammen. Und ich habe mich zuletzt entschlossen, sie doch zu heiraten.«

Paul atmete auf. Jedenfalls schien ihm das die einzig richtige Lösung, so eine Art Wiederherstellung der Weltordnung.

»Aber ich hätte es nicht tun sollen«, fuhr Richard fort. »Denn was nun begann, war ein Höllenleben. Ich wollte natürlich wissen, wer es gewesen war, der mir Heli genommen hatte. Aber da rannte ich gegen eiserne Wände. Sie erzählte mir freiwillig alles, was sich zugetragen hatte, und es schien ihr Vergnügen zu machen, mir Einzelheiten zu geben, die mich zur Raserei brachten. Aber der Frage nach seinem Namen verweigerte sie die Antwort. Nur so viel sah ich, daß sie in ihrem Wesen völlig verwandelt war. Durch diese Liebschaft war etwas entfesselt worden, das vorher unter ihrer Erziehung, ihrer Wohlbehütetheit, der Bürgerlichkeit der Familie verborgen gelegen hatte. Ich sah in Abgründe, die mir unbekannt gewesen waren, und die mir wohl auch unbekannt geblieben wären, wäre sie rein in die Ehe getreten. Sie wäre dann wohl Frau und Mutter geworden, durch diese zügellose, voreheliche Leidenschaft aber waren alle dirnenhaften Triebe in ihr erweckt worden. Und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich aus ihr Bekenntnis hin darauf verzichtet hätte, sie zur Frau zu nehmen. Aber es scheint, daß sie mich gerade darum zu verachten begonnen hat, weil ich ihr nicht entsagen konnte. Wer kennt sich in Frauen dieser Art aus? Ich glaubte sie zu gewinnen durch Güte, Verzeihung und etwas, das ich für Edelmut hielt, was aber nur Dummheit war. Zum Dank versäumte sie keine Gelegenheit, mir ihre Verachtung zu zeigen und mich zu demütigen. Sie deckte ihre ganze Schamlosigkeit auf, trug sie höhnisch zur Schau, sie wußte um Dinge Bescheid, die mir die Haare sträuben machten. Und das wuchs sich alles immer mehr zu einem offenkundigen Haß aus.«

Ich glaubte, es sei jetzt wohl angezeigt, meine Kenntnis der Frauenseele zur Geltung zu bringen: »Vielleicht ... wenn du sie einmal ordentlich übers Knie gelegt hättest ...«

Aber Brög schüttelte den Kopf. »Das ist kein Rezept für mich. Einmal habe ich etwas dergleichen versucht, da hat sie mir ins Gesicht gelacht, und ich war entwaffnet. Es war ein Höllenleben, wie gesagt. Jahrelang. Dann habe ich eingesehen: wenn ich nicht zugrunde gehen will, so muß ich mich von ihr trennen.«

»Gott sei Dank! Das Vernünftigste, was du tun konntest.«

»Das Vernünftigste vielleicht – aber schwer genug. Nachher war es mir ja leichter, und ich lebte wieder auf.«

»Weißt du, was aus ihr geworden ist?«

»Nein. Nach der Scheidung habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich habe sie natürlich durch eine Summe abgefunden, die der Größe meiner Enttäuschung angemessen war. Ich wollte alle Bande zwischen mir und ihr auf einmal und für immer zerschneiden.«

»Und den Namen jenes Menschen hast du nie erfahren?«

»Die letzten Wochen unserer Ehe haben wir auf meinem Weingut in der Champagne verbracht. Und auf einmal war der Krieg da, gerade, als hätte unsere Ehe auf diese Explosion gewartet. Es war eine Explosion, die auch uns auseinanderriß, mich hierhin, sie dorthin. Die Advokaten haben dann das übrige besorgt. Dann ist der Krieg über die Champagne hingezogen. Und nachher, als alles vorüber war, da habe ich das Bedürfnis gehabt, unsere letzte gemeinsame Wohnstätte noch einmal wiederzusehen.«

»Sehr unvorsichtig!« sagte ich.

»Gewiß. Und noch ganz anders, als du es meinst. Die Weingärten waren eine Wüstenei von Trichterfeldern, unser Haus eine Ruine, aber wie durch einen boshaften Witz des Schicksals stand in den Trümmern der Schreibtisch meiner Frau. Er war geborsten, die Laden aufgerissen, Geheimfächer bloßgelegt. Und nun wußte ich auf einmal, wer jener Mann gewesen war ... aus den Briefen, die da lagen. Ich war indessen ruhiger geworden ... es war der gleichgültige Name irgendeines Unbekannten. Und ich muß sagen, da nun alles zu Ende war, konnte ich nicht einmal einen ehrlichen Zorn gegen ihn aufbringen. Mein Gott, er hatte getan, was alle jungen Leute an seiner Stelle tun würden. Er hatte eine Gelegenheit benützt, er hatte genommen, was ihm dargeboten wurde. Aber dennoch wäre es besser für mich gewesen, ich wäre dem verräterischen Schreibtisch meiner Frau im Bogen ausgewichen.«

»Warum?«

»Es war etwas anderes da, was mich entsetzte und dann zur Raserei brachte. Andere Briefe ... Briefe jenes Verwandten, dem ich Heli anvertraut hatte ... und der mir sein Ehrenwort gegeben hat, sie zu hüten, als sei sie seine eigene Tochter. Und aus diesen Briefen ging hervor, daß er es gewesen war, der Heli mit dem jungen Mann zusammengebracht hatte, der diese Liebschaft begünstigte, kurz, der den Kuppler gemacht hat und ihre Abneigung gegen mich schürte. Und ich kam dann auch auf den Grund dafür.«

»Nun?«

»Wäre ich ein armer Teufel geblieben, so hätte er gewiß meine Ehe nicht im Keim zerstört. Nun aber war ich reich geworden, und er hatte den teuflischen Plan gefaßt, das Zustandekommen meiner Heirat zu verhindern. Und da sie doch zustande kam, hat er unsere Gemeinschaft wieder vernichtet. Er ging als treuer Freund unbehelligt aus und ein und streute dabei Gift. So hat seine Rechnung zuletzt doch gestimmt. Er rechnete darauf, daß meine Ehe auseinandergehen müsse, und daß ich dann wohl für alle Zeiten von den Weibern genug haben werde. Er war mein einziger Verwandter, nicht viel älter als ich und möglicherweise der Erbe meines Vermögens.«

Paul gab durch die Nase eine Art Wiehern von sich, und das deutete, soweit mir bekannt, das Äußerste an Erregung an, wozu er sich versteigern konnte.

»Ein Ehrenmann, das muß ich sagen!« bekräftigte ich so kaltblütig als möglich. Und dann nahm auch ich zwei Whiskys hintereinander. Was Brög anlangt, so brauchte man ihn nur anzusehen, um sich über zwei Dinge vollkommen klar zu sein, erstens, daß er diese Frau Heli, mochte sie ihm was immer angetan haben, noch immer liebte, und zweitens, daß er diesen Verführer und Verderber seiner Frau mit dem legendären, unerbittlichen Haß bedachte, den das ostindische Mungo gegen Schlangen hegt.

Jetzt aber wurden wir alle endlich dessen inne, daß schon seit geraumer Zeit ein gekrümmter Knöchel die Tür der Zelle bearbeitete, und aus ein Knurren Richards steckte der braune Leisetreter seinen weißen Turban herein und meldete in einem mehr als schauderhaften Englisch, der Herr Direktor Breadsley sei drüben.

»Sagen Sie, wir kommen sofort!« beschied ihn Brög.

Paul warf den starren Panzer seiner Entrüstung ab und belebte sich sofort durch die Aussicht auf diese willkommene Begegnung mit einem Menschen seiner engeren Welt.

»Direktor Breadsley vom Britischen Museum?« fragte er. »Dein Onkel, soviel ich weiß?«

»Ja, der Bruder meiner Mutter!« lächelte Richard ingrimmig, »ich habe ihn eingeladen, heute mit uns zu speisen.« Und dann setzte er hinzu und drückte jedes Wort wie einen Stempel in eine bildsame Masse: »Ich habe es für nötig gehalten, euch alles dies vorher zu erzählen, damit ihr wißt, mit wem ihr es zu tun habt.«

In meinen Gehirnwindungen brannte in rasender Eile ein ganzes prasselndes Feuerwerk ab.

»Nimm dich zusammen«, flüsterte ich Paul zu, dessen Ahnungslosigkeit mir bedenklich schien, während wir durch Richards Raritätenkabinett der Halle zuschritten, wo uns der Besucher erwartete. »Nimm dich zusammen. Laß dir nichts anmerken. Er ist es!«

»Wer?«

»Nun, dieser Breadsley!«


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