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19

Ich stolperte geblendet die Stiege zu Theas Kammer hinauf und stürzte fast vornüber hinein, hatte einen verschwommenen Eindruck eines überaus erstaunten Gesichtes.

»Kommen Sie!« rief ich, »kommen Sie schnell!«

»Was ist geschehen?« fragte Thea.

»Kommen Sie schnell. Sie sind im Hügel drinnen, verschüttet. Und die Arbeiter weigern sich ... Schnell, schnell! Ihnen werden sie gehorchen.«

Thea schrie nicht. Sie tat überhaupt nichts Dramatisches. Sie stand einfach auf.

Aber gleich darauf saß sie wieder mit schmerzverzogenem Gesicht auf dem Bettrand und stöhnte.

»Kommen Sie«, drängte ich, »es muß sein. Und legen Sie die Kette der Tamara an.«

»Drehen Sie sich um«, befahl Thea, und Señora Luisa, die ich erst jetzt bemerkte, und die offenbar das Amt einer Krankenpflegerin übernommen hatte, kniete vor Thea nieder und begann einen langen, fleischfarbenen Schlauch von Strumpf zusammenzurollen.

»Nein, keine Strümpfe! Schnell! Schnell!« rief Thea.

Ich drehte mich um und tat ein übriges, indem ich meinen Kopf in die Schüssel mit Wasser steckte, die neben Theas Bett stand, und in der die Umschläge naß gemacht wurden. Es war vielleicht essigsaure Tonerde dabei oder sonst etwas, jedenfalls brannte es ganz gehörig in meinen Augen, aber als ich sie ordentlich gebadet hatte, war der Glasstaub zum Teil fort, und ich konnte wieder einigermaßen sehen.

Thea war indessen fertig geworden, ohne Strümpfe, den verletzten Fuß in einem der zertretenen Schlapfen Señora Luisas, und nun packten wir Thea links und rechts, hoben sie auf die verschränkten Arme und trugen sie die Treppe hinab. Unter anderen Umständen wäre es mir eine ausbündige Freude gewesen, ihr etwas von süßer Last zuzuflüstern und sie mit Aufgebot meiner Manneskraft so weit als möglich selbst zu schleppen. Aber ich hatte keine Zeit zu verliebten Unternehmungen, selbst mit Señora Luisas Hilfe wäre das eine zu langsame Beförderungsart gewesen.

Als wir vor dem Haus ankamen, sah ich, daß ich mich vorhin nicht getäuscht hatte. Der Kinderwagen war kein hirnrissiges Phantom gewesen, er stand wirklich da, und daneben stand der Mann ohne Namen und legte zwei Finger an den Rand eines Strohhutes von landesüblicher Schmutzigkeit.

»Sie sind es?« fragte ich geistesgegenwärtig.

»Ja«, antwortete er ebenso schlagfertig, und dann warf er einen Blick auf Theas unförmig verbundenen Fuß und erfaßte die Sachlage.

»Fahren!« sagte er.

»Fahren!« und er zeigte mit dem Finger auf seinen Kinderwagen.

Ich begriff. Das war ein Ding mit vier Rädern, und irgendwie würde schon ein Mensch darauf unterzubringen sein, und Stilfragen zu erörtern, wäre jetzt unangebracht gewesen. Wichtiger war die Frage, ob es diese Fahrgelegenheit aushalten würde.

Es mußte versucht werden: die Pakete und Bündel, die bisherigen Insassen, flogen im Bogen hinaus, und wir setzten Thea hinein. Sie machte keine Einwendungen und verzichtete auf alle weiblichen Eitelkeiten.

Und dann fuhren wir. Und der Kinderwagen hielt es aus.

Man muß sich die Fuhre vorstellen, die mit tunlichster Eile durch Mitla holperte. Der Mann ohne Namen schob, und ich zog, und Thea stak in dem Kinderwagen wie ein auskriechendes Hühnchen in seinen Eierschalen. Die Mitte des Körpers war in das Korbgeflecht gesunken, und Arme und Beine ragten zu beiden Seiten heraus.

Es war gewiß kein glorreicher Aufzug für eine junge Dame, Doktorin der Kunstwissenschaft und durch die Kette der Königin Tamara so etwas wie eine Nachfolgerin der zapotekischen Prinzessinnen. Zum Glück hatte der Staubsturm aufgehört, und nur die unheimliche Hitze war noch da unter einem brütenden Himmel aus glühendem Metall. Der Schweiß lief mir in Bächen über den ganzen Körper, und das Herz hämmerte wie verrückt.

Aber wir kamen schließlich an, und das war die Hauptsache.

Dann stülpten wir den Wagen um und stellten Thea auf die Beine. Sie stand und hatte sogleich ihre Haltung, als wäre sie in einem Auto von hundert Pferdekräften vorgefahren, und machte sogar einige Schritte auf die Leute zu. Sie waren in einem Haufen zusammengedrängt und schienen irgend etwas beraten zu haben, und als sie Thea kommen sahen, rissen sie die Hüte vom Kopf und machten ihre Ehrfurchtsbezeugungen über Augen und Mund hin.

»Dort drinnen sind die Excelencias«, rief Thea, indem sie nach dem verhängnisvollen Hügel zeigte. »Sie sind gut gegen euch gewesen. Sie haben euch Arbeit und Brot gegeben. Sie sterben dort drinnen. Auf eure Arme kommt es nun an.«

Alles hing jetzt davon ab, was stärker war, die geheime Macht, die sie beherrschte, oder Theas Gebot, und einen schrecklichen Augenblick lang schien die Entscheidung zweifelhaft.

Plötzlich aber spuckte Murillo in die Hände und packte einen Spaten, »Vorwärts, Cabarellos«, fies er, »auf uns kommt es an.«

Auf einmal hatten sie alle Spaten und Schaufeln und Spitzhauen in den Händen und wimmelten wie ein Heer von großen Ameisen über den Hügel hin. Die Monteure kamen zum Vorschein, richteten die Baggermaschinen, schalteten den Strom ein, und nun gruben sich die eisernen Kübel in die Erde.

Eine Wolke von Staub stieg auf und wurde in der unbewegten, glühenden Luft zu einem dicken Brei.

Thea hatte sich auf den umgestürzten Kinderwagen gesetzt. »Glauben Sie ...!« fragte sie mit einem Angstblick.

»Ich glaube!« sagte ich fest, obwohl meine Zuversicht ein wenig wankend geworden war, als ich unsere Hoffnungen zu überprüfen begann. Ich hatte keine Ahnung, wo sich der Unfall ereignet haben mochte, es blieb nichts anderes übrig, als den ganzen Hügel abzutragen, und der Hügel war sehr umfänglich.

Eine Stunde war vergangen, ich lief zwischen den Arbeitern herum, bezeichnete die Stellen, wo sie mit besonderem Nachdruck graben sollten. Die Baggermaschinen rafften Erdmassen aus und gossen sie ins Agavengebüsch aus, aber noch immer schien der Hügel trotz der breiten Wunden in seinen Flanken nicht kleiner geworden, und noch waren wir auf keinen der Gänge gestoßen, von denen er durchzogen sein mußte.

Am Ende der zweiten Stunde kehrte ich zu Thea zurück.

»Werden wir sie finden?« fragte sie wieder.

»Wir werden sie finden!« sagte ich mit aller Bestimmtheit und wandte mich ab, um wieder zum Hügel zu gehen. Es war immer noch besser, dort drüben im Staub zu ersticken, als hier Theas Fragen standzuhalten.

Neben mir stand der Mann ohne Namen und hielt mit einem ganz verlorenen Gesicht den Kopf schief gesenkt. Sein Blick stocherte unmittelbar neben meinen Schuhen im Boden herum.

»Es kommt!« sagte er.

»Was kommt?«

»Das da!« Und sein Finger deutete auf das verdorrte Grasbüschel neben meinem linken Absatz.

Ich wollte ihm eben auseinandersetzen, daß ich keine Lust hätte, mich in seine dunkeln Aussprüche zu vertiefen, als es unter meinen Schuhen lebendig wurde. Es lief etwas unter dem Boden hin, ein großes Tier mit krummem Rücken, dem das Auf und Ab einer Wellenbewegung folgte. Das Grasbüschel neben meinem Absatz hatte selbständiges Leben gewonnen und wiegte sich über einem unterirdischen Dröhnen hin und her.

Und auf einmal stieg aus dem Rumoren und Rumpeln ein senkrechter, steiler Stoß empor, der meine Längsachse erschütterte und mich schwanken machte.

»Donnerwetter!« sagte ich, obzwar es natürlich kein Donnerwetter war.

In den Ruinen von Mitla antwortete ein fernes Poltern, und aus dem Hügel des Tlaloc erhoben unsere Hidalgos ein Mordsgeschrei, warfen die Werkzeuge weg und rannten fassungslos durcheinander. Die Bäume wedelten mit ihren Blattfächern, als würden sie von unsichtbaren Fäusten geschüttelt, und neben dem Kinderwagen saß Thea auf der Erde und sagte mit erstaunt geweiteten Augen: »Ein Erdbeben.«

Ich lief schon, lief im Zickzack, von dem wieder herumkriechenden Tier mit dem krummen Rücken zwischen den Wellenbergen herumgeworfen, dem Hügel zu. Gerade als ich ihn erreichte, kam der zweite Stoß. Die beiden Baggermaschinen blieben plötzlich stehen, neigten sich zur Seite und nahmen eine bedenkliche windschiefe Haltung an, während die eisernen Kübel mißtönend gegeneinander klapperten.

Und nun ereignete sich etwas völlig Unvorhergesehenes.

Der Hügel des Tlaloc platzte vor meinen Augen auseinander, etwa wie eine reife Zwetschge, die man zwischen den Fingern zum Aufplatzen bringt. Er spaltete sich einfach, und ein Riß entstand in der Flanke, der sich immer weiter auseinanderzog und die Tiefe bloßlegte.

Und auf seinem Grund zwischen dem rieselnden Schutt entdeckte ich etwas Blasses, etwas wie ein zerschlissenes Papier oder ein verwehtes, welkes, fünffingrig gezacktes Blatt.

Ich sprang auf den Rand der Spalte und brüllte wie ein Besessener aus Leibeskräften: »Hierher! Alle hierher!«

Das Blasse im Grund des Risses, das ich erst für ein Stück des Tlaloc gehalten hatte, war die Hand eines Menschen. Fünf ins Erdreich verkrampfte Finger.

Die Leute standen erst zögernd fern, aber ich fuhr fort zu schreien und zu winken, und da setzt zum Glück das Grollen und Murren in den Abgrund zurücksank, aus dem es gekommen war, wagten sie sich heran.

»Dort unten sind sie!« brüllte ich und ergriff einen Spaten und sprang allen voran über den rieselnden Schutt in die Tiefe. Und während sich der Himmel mit unvorstellbarer Schnelligkeit schwarz überzog, stürzten wir uns auf die Arbeit und wühlten uns in wahnsinniger Hast in das Geröll.

Nach einer halben Stunde hatten wir Richard freigelegt, und eine Viertelstunde später zogen wir Paul aus dem Schutt heraus. Richard sah greulich zerschunden aus, aber er war bei halbem Bewußtsein, mit Paul jedoch schien es übler bestellt. Er blutete aus einer tiefen Kopfwunde und gab kein Lebenszeichen von sich. Wie es Thea angefangen hatte, das Stück Weg bis hierher ohne Hilfe zurückzulegen, weiß ich nicht, jedenfalls kniete sie plötzlich neben Paul und wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. Und dann kam ihr der Himmel selbst zu Hilfe. Er hatte sich geöffnet, er brach mitten auseinander, als wäre auch er von dem Erdbeben entzweigerissen, und schüttete eine tobende Wassermasse herunter wie aus einer umgestülpten gigantischen Badewanne. Die Regenzeit war plötzlich da.

Ich merkte es aber eigentlich erst, daß wir unter einem Gießbach standen, als sich Richard aussetzte und sich schüttelte wie ein nasser Pudel und meinte, wir hätten ihn hoffentlich nicht deshalb aus dem Hügel gezogen, um ihn jetzt ersaufen zu lassen. Irgendwie mag diese Befürchtung auch in Pauls gelähmtes Bewußtsein gedrungen sein, denn er verzog das Gesicht, schnappte nach Luft und wälzte sich endlich im dunklen Selbsterhaltungstrieb aus dem eben entstandenen Bachbett fort, in dem er von gelben Wassermassen umspült war.

Richard winkte mich zu sich, indem er die rechte Hand schlenkerte und dann prüfend das Gelenk umspannte.

»Was gebrochen?« fragte ich und beugte mich über ihn.

»Ich glaube nicht.« Und dann richtete er zwischen meinen Beinen einen seltsam starren Blick aus Paul Noster. »Lebt er?«

»Ich hoffe es!«

Richard zog mich mit der unverletzten Linken zu sich herab. »Weißt du«, flüsterte er mir ins Ohr, »als wir da unten lagen ... da ist mir der Gedanke gekommen ... daß es eigentlich besser wäre, wenn man ... wenn man einen von uns nicht mehr lebend herausbrächte ...«

Ich hielt das damals für Nachwehen der verständlichen Geisteszerrüttung eines Verschütteten und sollte erst später dessen innewerden, daß es nichts war als das Fehlen der noch nicht wieder voll in Betrieb gesetzten Hemmungen des beaufsichtigten Bewußtseins.

Keinesfalls hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, es war dringend nötig, an die Heimschaffung der verunglückten zu denken.

Eine Stunde hernach war jeder in seinem Bett untergebracht, und Paul hatte die Augen aufgeschlagen und lächelte Thea an, die bei ihm saß, und dann zog er die Stirn zusammen und sagte: »Sie haben da eine Art Beichte gehabt und auch eine Art Taufe, und sie haben auch ihren Gott als Brot gegessen. Und überdies gilt Quetzalcoatl als Sohn einer Jungfrau – ist das nun ein Parallelismus der Ideen oder hat er Kenntnis vom Christentum gehabt? Im letzten Fall – hm!«

Ich sah, daß Paul Noster auf dem besten Weg der Rückkehr zu seinem Ich war, ging hinaus und steckte meinen Revolver zu mir. Und dann beschloß ich, einem unabweislichen Herzensbedürfnis nachzugeben, und trabte durch den gelinder herabrieselnden Regen nach dem Königspalast, und neben mir trabte der Mann ohne Namen.

Die Ruinen hatten durch das Erdbeben einigen Schaden genommen. Eine Mauer des Palastes war eingestürzt und hatte mit ihren Trümmern das Dach von Domingos Hütte etwas eingedrückt. Ich trat ein, den schußfertigen Revolver in der Hand, und ich glaube bestimmt versichern zu können, daß ich zu allerhand Unfreundlichkeiten entschlossen war. Aber Domingo war nicht daheim, einige Steinbrocken waren durch das Strohdach in den Salon gefallen, und leider hatte keiner von ihnen den alten Gauner erschlagen. Ich hob den Vorhang auf, die Öffnung dahinter war verschüttet.

Na gut! Vielleicht treffen wir uns ein andermal! dachte ich und steckte den Revolver in die Tasche.

Ich wollte den Raum eben wieder verlassen, als ich hinter mir etwas winseln hörte. »Hund!« sagte der Mann ohne Namen und deutete nach dem Käfig in der Ecke.

Ach ja, der unglückselige Köter, Domingos Masthund, war ja noch da, und der war gewiß an dem teuflischen Anschlag unbeteiligt. Ich brach die Gitterstäbe auseinander, nahm den Hund heraus und setzte ihn auf den Boden. Er knickte sogleich ein, seine Beinchen trugen ihn nicht, er wälzte sich auf die Seite, streckte die vier Stummel von sich und sah mich mit einem kläglichen Seelenblick aus seiner Verfettung heraus an. Er mochte vielleicht glauben, die Stunde des Schlachtens sei gekommen.

»Warte nur«, sagte ich, indem ich ihn auf den Arm nahm, »jetzt beginnt das neue Leben. Es beginnt mit einer Hungerkur, aber du hast ja einen gewaltigen Vorrat aufzuzehren.«

Als wir in unser Haus zurückkamen, trieb sich ein Trupp unserer Arbeiter davor herum, die uns ehrfürchtig Raum gaben. Wir hatten anscheinend dadurch in ihren Augen gewonnen, daß ein Erdbeben eigens deshalb veranstaltet war, um die verschütteten Excelencias zu retten. Im Krankenzimmer aber stand eine Abordnung der Leute. Murillo stand auf seinen O-Beinen als Sprecher da und hatte jedenfalls gerade eine Rede beendet, und Thea hielt ein buntes Ding in der Hand und sah sehr gebietend aus.

Sie sagte einige Worte des Dankes, und die Leute gingen mit geölten Gesichtern hinaus. Ich ließ mir das Ding zeigen, das sie Thea gebracht hatten. Es war ein Gürtel aus Vogelfedern, eine kostbare, mühselige Arbeit, wundersam in seinen leuchtenden, metallischen Farben, dicht und flaumig und sprühend, geschaffen mit der uralten Kunstfertigkeit, die schon die spanischen Eroberer in Entzücken versetzt hatte.

»Aha!« sagte ich, »ein Sühnegeschenk, um Thea wieder zu versöhnen. Sie waren nahe daran, sich falsch zu benehmen. Die Kette ... und der Gürtel ... nun ist die zapotekische Prinzessin fertig.«

Zufällig sah ich bei diesen Worten Señora Luisa an. Sie stand auf Richards Bett, und ihr Blick war durchdringend auf Thea gerichtet, und was darin lag, war Haß, blanker neidgeborener Haß.

Kein Zweifel, dachte ich, sie neidet ihr den Talisman der Jugend und Schönheit, und gewiß hätte ihn Señora Luisa weit nötiger als Thea. Es ist zwar nur der Neid und Haß einer Köchin, aber ich wüßte nichts, was gefährlicher wäre als eine mißgünstige Köchin, wenigstens für den Magen.


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