Robert Schweichel
Um die Freiheit
Robert Schweichel

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Zehntes Kapitel.

In Rothenburg war mittlerweile dieses Ereignis eingetreten, das, wie der Altbürgermeister schon in seiner ersten Unterredung mit Dr. Karlstadt angedeutet, vom Rate sehnsüchtig erwartet wurde. Rom hatte durch den Mund des Bischofs zu Würzburg gesprochen. Der Kommentur Christian und Deutschlin waren in den Kirchenbann getan worden. Allein die Wirkung war eine unerwartete. Während Hans und Kaspar auf dem Wege nach Ohrenbach sich befanden, verkündigte Dr. Deutschlin selbst von dem Predigtstuhl in St. Jakob die über ihn und seinen Freund verhängte Ächtung. Er ereiferte sich nicht, sondern sprach mit einer Ironie darüber, welche dartat, daß er die Blitze Roms unschädlich unter seinen Füßen zucken sah. Er habe sich darüber verwundert, äußerte er, daß die von Würzburg noch immer das Wort der Menschen mehr achten, denn das Wort Gottes, das da ewig bleibt, während jenes zu Boden gehen muß. Er hätte vermeint, sie wären nun so wohl im Evangelium erfahren, daß sie keinen Bruder solcher Gestalt mehr anführen.

Das Gefühl, daß die Dinge zur Entscheidung drängten, Hoffen und Bangen duldeten die Menschen nicht in den Häusern. Dazu lockte sie das schöne Wetter aus den niedrigen Winterstuben auf die Gasse. Man mußte Bekannte sehen, sich aussprechen. Die Ahnung der 208 kommenden Ereignisse verband sich mit der des nahenden Frühlings. Da polterte durch das Galgentor der Düngerwagen, auf dem die Leiche des jungen Goldschmiedes lag, in die Stadt. Der lange Lienhart ging mit finster drohender Miene nebenher und voraus der Bote des Waldvogts in grünem Wams und roten Hosen, den Jagdspieß in der Hand und die Armbrust auf dem Rücken hängend. Der unheimliche Zug war rasch von Neugierigen umringt, die erschrocken das blutige Geschehnis vernahmen. In der Würzburger Gasse wurden alle Fenster aufgerissen, die Leute stürzten aus den Häusern und bei jedem Schritte wuchs die Menge. Das Gerücht von der Bluttat flog durch alle Gassen. Wegen des Gedränges kam der Wagen mit seiner traurigen Last nur langsam vorwärts, und vor dem schlanken viereckigen Turm, dessen Tor in die innere Stadt führte, mußte er eine Weile still halten. Da erhob der lange Lienhart, der gleich dem Jäger fort und fort mit Fragen bestürmt wurde, abermals seine tiefe Stimme:

»Ja, der Rosenberger hat den armen Buben erschlagen von wegen der Neureuterin, die er vor ihm hat beschützen wollen. Aber ich will ein Schuft sein, wenn ich's dem frechen Junker nicht eintränke.« Bekräftigend schlug er sich mit der breiten Faust auf die Brust, daß es krachte, und die erhitzte Menge schrie: »Tod dem Junker!«

Als Raum wurde, ging der Jäger durch die Georgengasse nach dem Hause des Stadtrichters Hörner voraus, während der Wagen hinter dem Weißen Turm links zum Kapellenplatz abbog. Bald war auch dieser voll von Menschen, so daß Georg Hörner, der mit dem Wundarzt und einem Schreiber zur Totenschau kam, nur mühsam in das Haus Ellwangers gelangte. Das Mitleid mit dem unglücklichen Opfer des wilden Zeisolf war um so größer, als Hans von Ansehen sehr bekannt war. Dem weiblichen Geschlechte insbesondere war der schmucke Gesell mit den blauen schwermütigen Augen wohlgefällig 209 gewesen. Die näheren Umstände seines Todes erhöhten die Teilnahme für ihn nicht wenig.

Max Eberhard hatte ihn persönlich gekannt. Er trug einen Siegelring, dessen Stein er aus Welschland mitgebracht hatte. Es war ein Karneol, in den gar kunstvoll eingeschnitten war, wie Hektor zum Kampfe sich rüstet und Andromache ihm das Schwert reicht. Der Ratsherr Georg von Bermeter, der in der Liebe zu den Künsten über seine kinderlose Ehe sich tröstete, hatte Max an den geschickten Gesellen Ellwangers gewiesen, und Hans mit Erlaubnis des Meisters den Stein gefaßt. Max hatte ihm die Schilderei erklären müssen. Else kannte den Ring, und die Darstellung hatte sie mit einem bedeutungsvollen Blicke zu dem Geliebten aufschauen lassen: so würde auch sie ihm einst mit zärtlich starkem Herzen das Schwert reichen. Jetzt mußte er mit Wehmut des armen Burschen gedenken, dem wie dem Troer ein schönes Weib zum Verderben geworden war.

Auf Schloß Endsee gedachte man seiner kaum noch. War er doch nur ein armer und fremder Handwerksknecht. Der schönen Gabriele verlieh aber die versuchte Entführung einen neuen Reiz in den Augen der Junker. Als der Wein die Köpfe erhitzte, erbot und verschwor sich mancher von ihnen, selbst Hermann von Hornburg, um den Schimpf zu rächen, den wilden Zeisolf auf Tod und Leben herauszufordern. Gabrieles schwarze Augen blitzten, aber sie verbot ihnen, ihr Leben für sie aufs Spiel zu setzen und erklärte stolz, daß die Frechheit des Junkers von Rosenberg ihre weibliche Ehre ebensowenig beleidigt hätte, als wenn sie von einem wilden Tiere angefallen worden wäre.

»Auch bedarf das schöne Fräulein Eurer Ritterdienste nicht, Ihr Herren«, mischte Georg von Wernizer sich ein. »Bürgermeister und Rat werden den Schimpf nicht ungerochen lassen; denn in dem holden Fräulein sind die gesamten Geschlechter Rothenburgs gekränkt worden. Leider kann der Junker nicht vor das Gericht der Stadt 210 gezogen werden, da er der reichsunmittelbaren Ritterschaft des Kantons Odenwald angehört. Verlasset Euch aber darauf, daß der Rat nicht säumen werde, den wilden Zeisolf wegen des versuchten Jungfrauenraubes an geeigneter Stelle zur Verantwortung zu ziehen. Ich selbst werde darauf dringen, bin ich doch zunächst beleidigt, da er meine Gastfreundschaft zu seinem nichtswürdigen Unterfangen mißbrauchte.«

Die schöne Gabriele neigte sich mit einem dankbaren Lächeln, während ihren Busen ein Erschrecken durchzuckte. Sie zog sich unter dem Vorwande, daß sie sich durch die Geschehnisse des Tages angegriffen fühle, vorzeitig aus der Gesellschaft zurück. Die Begleitung Sabines auf ihre gemeinsame Schlafkammer lehnte sie ab. Als die Freundin ihr später folgte, lag sie mit geschlossenen Augen. Aber die wühlenden Leidenschaften ließen sie nicht schlafen. Ihre Eitelkeit fühlte sich durch Zeisolfs Entführungsversuch schwerer getroffen als ihre weibliche Ehre. Seine Tollkühnheit zeugte von seiner rasenden Leidenschaft für sie, und darum hätte sie ihm verzeihen können. Aber sie hatte geglaubt, sie beherrschen, sie nach ihrem Ziele lenken zu können. Daß sie sich darin getäuscht, verzieh sie um so weniger, als ihr geheimer Zweck nicht nur nicht erreicht, sondern sie selbst gefährlich sich verstrickt hatte. Das Band der Schuld, das sie mit dem Rosenberger verknüpfte, war durch ihre Befreiung nicht zerschnitten und die Worte des Schultheißen hatten ihr die Gefahr gezeigt, die ihr drohte. Wie sie Erasmus von Muslor und ihren Vormund kannte, mußte sie überzeugt sein, daß sie die Gelegenheit nicht ungenützt lassen würden, um Zeisolf zur Rechenschaft zu ziehen. Wer stand dafür, daß dieser dann reinen Mund hielt und sich für ihre Zurückweisung nicht dadurch rächte, daß er ihren Mordanschlag auf Max Eberhard enthüllte? Ging das Spiel doch um seinen Hals! Denn das Gesetz bestrafte schon den Versuch des 211 Jungfrauenraubes mit dem Tode. – A, wenn einer von den jungen Patriziern, die sich ihr als Kämpe angetragen, Zeisolf an Körperkraft und Fechtkunst gewachsen gewesen wäre! – Und wem hatte sie diese schreckliche Lage zu danken, die ihr den kalten Schweiß aus den Poren trieb, als Max Eberhard? Ihre verschmähte Liebe, ihre Eifersucht wurden in dieser Nacht zu einem eisigen Haß. Sie wunderte sich, daß es ihr hatte genügen können, ihn zu töten. Sie wollte etwas aussinnen, wogegen ihn und Else der Tod eine Wohltat dünken sollte.

Im Laufe des folgenden Vormittags teilte Albrecht von Adelsheim ihr und seiner Braut mit, daß sie sich zur Heimkehr rüsten müßten. Der Rat, welcher von dem Bann der beiden Geistlichen üble Folgen befürchtete, hatte ihn geschickt. Der schönen Gabriele war es erwünscht, von Endsee fortzukommen und nie war ihr der trockene schweigsame Mann so willkommen gewesen, wie jetzt. Denn ihr lag alles daran, ihren Einfluß auf Sabines Vater und ihren Vormund rasch geltend zu machen, um die Anklage wider Zeisolf zu hintertreiben.

Die gutmütige Frau von Muslor empfing Gabriele mit einer zärtlichen Teilnahme und Besorgnis, als ob dieselbe ihre eigene Tochter gewesen wäre. Sie fand, daß Gabriele leidend aussehe und wollte, daß sie sich sogleich zur Ruhe begebe, hielt sie aber dabei durch ihre neugierigen Fragen über das traurige Abenteuer fest. Herr Erasmus machte seine Gattin auf den Widerspruch zwischen ihren Ratschlägen und ihrem Handeln mit einem Lächeln aufmerksam. Gabriele versicherte mit einem ungeduldigen Zucken in den feinen Bögen ihrer Brauen, daß sie sich durchaus wohl fühle und fügte hinzu: »Ruhig bin ich allerdings nicht. Denn Herr von Wernizer stellte mir in Aussicht, daß der Rat meinetwegen wider den Junker von Rosenberg Anklage erheben werde. Ist das wahr, Herr von Muslor?« 212

»Darüber vermag ich noch nichts zu sagen«, antwortete dieser, »bevor der amtliche Bericht des Schultheißen von Endsee nicht vorliegt. Ich begreife nicht, wie Du Dich darüber beunruhigen kannst, liebes Kind. Die gehabte Aufregung hat Dich überreizt.«

»Nein, nein, nein! Ich bedarf keiner Genugtuung durch die Gerichte«, rief sie. »Ich kann nur wiederholen, was ich schon auf Schloß Endsee erklärte, daß ich meine jungfräuliche Ehre zu hoch achte, als daß sie ein Rosenberg beleidigen könnte. Sabine kann es bezeugen. Ich verachte den Junker. Aber die sicherste Schutzwehr des Weibes ist sein reiner Name. Diese Schutzwehr würde durch die Gerichtsverhandlung niedergerissen werden, mein Name in aller Leute Mund kommen, jeder seine hämischen Bemerkungen über mich machen. Mich grauset's, so ich mir vorstelle, daß mein guter Ruf zerfetzt und meine Ehre durch den Kot geschleift wird, und ich kann mich dagegen nicht verteidigen!«

»Du siehst zu schwarz, liebe Gabriele«, wollte Herr Erasmus sie beschwichtigen.

»Aber sie hat recht«, bemerkte Sabine, die lässig auf dem goldbefranzten Purpurkissen eines Lehnsessels von Ebenholz die vollen Glieder dehnte.

»Ihr waret auch mein Vater«, rief Gabriele mit größerer Lebhaftigkeit, die Feuer aus ihren schwarzen Augen lockte. »Würdet Ihr Eurer Tochter nicht so Schreckliches zu ersparen trachten? Ich bitte und beschwöre Euch, die Anklage zu unterlassen.« Sie erhob die gefalteten Hände gegen ihn. Er aber versetzte mit gütigem Tone:

»Nochmals, Du siehst zu schwarz, Kind! Unter allen Umständen wird es Dir aber erspart bleiben, in Person vor den Gerichtsschranken zu erscheinen. An Zeugen fehlt es ja nicht. Außerdem liegt die Entscheidung nicht bei mir, das mußt Du ja selbst wissen.«

»O ja, ich weiß, daß wir Frauen stets für die harten 213 Köpfe der Männer büßen müssen«, bemerkte Gabriele, indem ihre vollen Lippen sich bitter krümmten.

Erasmus von Muslor wehte diese Äußerung mit einer Handbewegung lächelnd bei Seite. Dann sagte er ernst: »Du bist ein kluges Mädchen und wirst daher einsehen, daß es sich in dieser traurigen Sache nicht um Deine Ehre allein handelt. Die Ehre der Geschlechter ist durch diese Frechheit des Junkers, die dem neulichen Hohn jetzt den Schimpf hinzufügt, aufs tiefste gekränkt. Kannst Du dem Rate zumuten, daß er solches schweigend hinnehme? Er darf es nicht. Denn wo gäbe es sonst noch eine Schranke wider den frevlen Übermut dieser Landjunker? Aber wenn es der Rat auch wollte, so schreit doch das Blut des erschlagenen Gesellen überlaut um Sühne. Die ganze Bürgerschaft fordert Vergeltung. Wir dürfen nicht taub bleiben, wir können nicht großmütig sein wie Du. Der Frieden der Stadt heischt gebieterisch, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nehme. Auch Du, Gabriele, darfst Dich ihr nicht mit Deinen Bitten hindernd in den Weg stellen. Denn dieser arme Bursche wurde getötet, indem er Deine Ehre verteidigte. Es ist der einzige Dank, den Du ihm noch abstatten kannst, daß Du die Gerechtigkeit walten läßt.«

Das Blut entwich aus Gabrieles Wangen. Eine heftige Entgegnung schwebte auf ihren Lippen. Aber sie fühlte, daß sie durch dieselbe alles verderben würde, und sie bezwang sich. Sabine erhob sich, trat zu ihr und legte ihren Arm um sie. Sie machte sich ungeduldig frei und rauschte aus dem Zimmer. Sabine ließ sich wieder in ihren Lehnstuhl fallen und versank in Betrachtung ihrer weißen runden Hände. Wie oft hatte sie früher die Freundin ihre Geringschätzung, ja Verachtung des Urteils anderer über sie bekennen hören, und jetzt diese Furcht davor! Sie verstand Gabriele nicht.

»Aber Recht hat sie doch, Vater«, wiederholte sie 214 nach einer langen Weile ihre frühere Bemerkung, indem sie ihre blauen Augen langsam von ihren Händen erhob.

»Ei freilich, und es gäbe eine fürtreffliche Regierung, wenn wir uns von den überspannten Gefühlen eines Mädchens bestimmen ließen«, spöttelte Herr Erasmus.

Sabine folgte ihrer Freundin. Gabriele fegte mit großen Schritten in der Stube hin und her. Auf dem Tische stand geöffnet ihr Schmuckkästchen, daneben zerstreut lag Geschmeide, am Boden zusammengebogen und zertreten das goldene Kränzlein, das Hans Lautner für sie gearbeitet hatte.

»O, Gabriele, wie konntest Du?« klagte Sabine mit einem vorwurfsvollen Blicke.

Ein häßliches Hohnlachen war Gabrieles Antwort.

Wohl Hans Lautner, daß er dieses Lachen nicht hören konnte! Der lag aufgebahrt in der Kapelle der heiligen Jungfrau Maria auf dem Kapellenplatze. Geweihte Kerzen brannten um ihn her, manch Kränzlein ruhte auf der Decke, die über die Leiche gebreitet war, und fromme Seelen beteten in dem Schatten des kleinen Gotteshauses für seine Seele. Von dort aus erfolgte am nächsten Morgen die Bestattung auf dem Kirchhofe von St. Jakob. Eine solche Fastnacht hatte man in Rothenburg noch nicht erlebt. Gesellen der Goldschmiedsinnung trugen die Bahre, auf der die in ein Leichentuch genähte Leiche unter einer roten Decke mit großem goldenen Kreuze ruhte. Särge waren damals erst bei Vornehmen und Wohlhabenden in allgemeinem Gebrauch. Der Bahre zunächst folgten Simon Neuffer mit seiner Frau und Schwester, Kaspar Etschlich und der lange Lienhart. Meister Ellwanger und der Altermeister der Zunft schritten an der Spitze der Goldschmiedegesellen und der Abgeordneten, welche die Gesellenverbände aller anderen Gewerke dazu erwählt hatten, Die Stadtmusikanten eröffneten den Trauerzug. Das hatte bei Meister Ellwanger der 215 Freund des Toten durchgesetzt. Kaspar hätte sich nicht darin zu finden vermocht, daß Hans, der selbst ein so geschickter Spielmann war, ohne Musik zu Grabe getragen würde. Der Meister Ellwanger war ein konservativer Mann und auf seine Anordnung vollzog ein Priester des alten Glaubens die vorgeschriebenen Zeremonien nach katholischem Brauche. Aber unter den Hunderten von Teilnehmern auf dem Kirchhofe fehlten nicht die Führer der reformatorischen Bewegung, Doktor Deutschlin, der Deutschordensherr Melchior, der blinde Mönch, der Altbürgermeister, der Rektor der Lateinschule, Valentin Ickelsamer, aber auch Stephan von Menzingen und Dr. Max Eberhard wohnten dem Begräbnis bei. Die arme Käthe trug ein schwarzes Mieder und einen schwarzen Rock und hatte ein schwarzes Tuch über den Kopf geworfen. Das junge Blut schimmerte wie sonst durch ihre bräunlichen runden Wangen, aber aus deren Grübchen war der Schalk entflohen, der sonst wohl aus ihnen lachte. Ihre Augen hatten ihren Perlenglanz eingebüßt und auf ihren zusammenfließenden Brauen wohnte der Schmerz. Er übermannte sie und sie begann heftig zu weinen, als der Leichnam in die Gruft hinuntergelassen wurde. Jetzt erst ward es ihr zur kalt grausamen Gewißheit, daß für sie jede Hoffnung dahin war, seine Liebe zu gewinnen. Diese Hoffnung hatte sie nie verlassen, obwohl sie stets mit Schmerzen gefühlt, daß seine Zärtlichkeit nur ein Almosen war, das er seiner blinden Leidenschaft für die andere abgewann. Und nun war er gar für diese gestorben! Kaspar faßte mit einem starken Drucke ihre Linke, die neben ihm schlaff herabhing. Da ermannte sie sich und wischte mit dem Rücken der freien Hand die Tränen aus ihren Augen. Der lange Lienhart sah auf sie hinunter und zupfte und zerrte grimmig an seinem Schnauzbart.

Der Priester betete das Vaterunser und die Anwesenden sprachen es mit entblößten Köpfen laut nach. Da 216 rief auf sein Amen eine Stimme: »Nicht also lasset uns von dieser Gruft scheiden, lieben Freunde, nicht ohne ein Abschiedswort!« Ein Männlein in bäuerlicher Tracht nahm die Stelle des Geistlichen ein und die Morgensonne beschien ein hageres, stark gebräuntes Gesicht. »Der Bruder Andres«, rief Kaspar verwundert, und: »Dr. Karlstadt!« hallte es nicht minder erstaunt von den Lippen aller, die ihn kannten. Er war es wirklich. Sein Abendmahlsbüchlein war nicht nur fertig, sondern bereits durch die Vermittelung Ehrenfried Kumpfs heimlich in Rothenburg gedruckt und versendet, allerdings nicht unter dem wahren Namen des Druckers und Druckortes. Nun hatte die jüngste Tat des Dr. Deutschlin ihn nicht länger in seiner Verborgenheit geduldet und er erschien auf dem Kampfplatze.

»Füllet nur die Gruft,« rief er den Totengräbern zu. »Den Leib könnt Ihr mit Erde bedecken, aber die Tat, so ihn fällte, schreit gen Himmel! Sie schreit um so lauter, als der Täter ein Mächtiger dieser Welt ist und derjenige, der sie erlitt, ein Niedriggeborener war. Ein Niedriggeborener, aber darum nicht minder unser Bruder, die wir uns zu Christo bekennen. Und darum stehen wir alle an seinem Grabe, auf daß wir protestieren gegen die Gewalt, die ihn erschlug. Zügellos wie ein wildes Roß stürmt sie daher und achtet nicht, wen ihre Hufe zertreten. Es war ein Edeles, wofür dieses Kind aus dem Volke unbedenklich sein Leben hingab. Ich aber sage Euch, wenn ein ganzes Volk das Schwerste leidet und es wird ihm kein Ersatz dafür, dann mag es sich selbst verfluchen.

Morgen ist Aschermittwoch. Damit beginnt die Zeit, in der wir uns auf den leiblichen Tod Christi und seine Auferstehung zum ewigen Leben vorbereiten. Ach, meine teuren Freunde, wie gar so lange Jahre schon fastet das Volk und muß für die Sünden anderer Buße tun in Sack und Asche! Soll es denn vergebens harren auf seine Auferstehung? Ewig währen die Nacht seines Elends? 217 Und doch ist die frohe Verheißung an alle Christenheit ergangen, er sei Herr oder Knecht. Nicht nur aus dem blinden Heidentum wollte Christus die Welt erlösen, nein, er rief sie alle zu sich, die mühselig und beladen sind, er rief das Volk zu sich, auf daß es frei werde von Not und Elend. Also verstanden es auch die ersten christlichen Gemeinden und darum gab es unter ihnen keine Reichen und keine Armen. Wer zwei Röcke hatte, gab einen davon demjenigen, der keinen hatte; wer Äcker und Weinberge besaß, verkaufte sie und tat das Geld in die gemeinsame Kasse, auf daß niemand friere und hungere. Alle Güter waren gemeinsam, denn sie waren Brüder und Schwestern. Eine Kirche hat Jesus von Nazareth nicht gekannt. Die Kirche hat wieder zerstört, was er auferbaut hat. Der Sohn Gottes hatte nicht, wohin er sein Haupt legen konnte; aber die Kirche hat sich der Güter dieser Erde bemächtigt und dem Volke nichts gelassen als den Himmel droben, zu dem es verzweifelt aufschreit aus seinem Hunger und Elend, seiner Knechtung und Leibeigenschaft. So lange diese Kirche, so lange Rom herrscht, so lange kann sich die Erneuerung der Welt nicht im Geiste Christi vollenden. Darum nieder mit Rom, damit die Erlösung zur Wahrheit werde und das Volk auferstehe zur christlichen Freiheit. Gott will es!«

Immer heftiger, immer leidenschaftlicher waren ihm die Worte entströmt, so daß seine schwächliche Gestalt wie ein Blatt im Winde erzitterte. Die Wirkung seiner Rede auf die Zuhörer war überwältigend. Allerdings gab es unter den Bürgern manchen, dem der Kommunismus Karlstadts wenig behagen mochte. Aber teils wagten sie nicht zu widersprechen, teils riß sie die Begeisterung mit fort, so daß auch sie einstimmten in den donnernden Ruf, mit dem die Versammlung sich löste: »Nieder mit Rom!«

Sogleich umringten den kleinen Doktor seine Freunde. Fritz Dalk, Lorenz Diem, Jos Schad, Melchior Mader 218 und andere Bürger fanden sich zu ihm und bildeten gleichsam eine Leibwache. Während sie Karlstadt nach seiner Wohnung begleiteten, stürmte ein Haufen erhitzter Köpfe durch die Gassen, den Ruf wiederholend: »Nieder mit Rom!« Von diesem Tage an mußten Mönche und Nonnen, wenn sie über die Straße gingen, manch scheltenden Zuruf hören, insbesondere die Dominikanerinnen, denen der Rat in der Fastenzeit das Pförtchen in der Stadtmauer, das zu ihrem Garten führte, vermauern ließ.

Simon Neuffer mit den Seinigen, der lange Lienhart und Kaspar verließen unter den letzten den Kirchhof. Der lange Lienhart forderte sie auf, sich durch einen Trunk im Roten Hahnen zu stärken, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Simon war aber von dem Ohm zu einem Imbiß eingeladen worden. Zu Käthe sagte der lange Lienhart, indem er ihre kleine harte Hand in seiner großen Faust begrub: »Lass' den Kopf nit hangen, Maidelin! Bist halt noch zu jung dazu. Dem Junker zahl' ich's heim, darauf kannst Du Dich verlassen.«

Käthe schüttelte trübe den Kopf.

»Er hat recht, Du darfst Dein junges Leben nicht vertrauern«, redete Kaspar ihr zu, während sie nach der Hofstatt weiter gingen. »Glaub' mir's, Käthelein, für Dein Herz kommt auch noch ein Ostertag. Zum Henker, daß mein Spaß ein Loch gekriegt hat, sonst solltest Du wohl lachen.«

»Ich weiß selbst einen Spaß«, erwiderte sie mit einer Bitterkeit, die ihm durch die Seele schnitt. »Für die Freiheit von uns armen Leuten hat er sein Leben einsetzen wollen und jetzt hat er für das vornehme Weibsbild sein Herzblut vergossen. So lach' doch, Kaspar!«

»Ich lach' ja«, rief er rauh. »Und nachher kauf ich mir auch eine Narrenkappe und lauf' Schembart. Ist ja heut' allerwelts Narrentag, heio! Aber Geduld, Geduld!«

»Geduld?« fragte Käthe geringschätzig. »Ihr Mannsleute haben allzuviel davon.« 219

Derselben Meinung war Dr. Karlstadt, dem seine Freunde Vorwürfe machten, daß er sein Versteck verlassen hatte. Auf seine persönliche Sicherheit käme es nicht an, meinte er. Er hatte seine Begleiter in das Haus geladen, und Meister Etschlich seine große Stube im Mittelgeschoß geöffnet. Hans Schmid, der blinde Mönch, pflichtete Karlstadt mit der Bemerkung bei, daß jetzt oder nie der Augenblick gekommen sei, um die Reformation in Rothenburg durchzusetzen. Woran Valentin Ickelsamer den Vorschlag knüpfte, daß die Bürgerschaft zu diesem Zwecke eine Abordnung an den Rat schicken sollte.

»Und daß wir unser Recht kriegen«, fügte Kilian Etschlich hinzu.

»Und Sitz und Stimme im äußeren Rat wie vordem,« ergänzte Melchior Mader. »Denn das ist unser verbrieftes Recht.«

»Davon kein Mäuslein was abbeißt«, erscholl die schwere Stimme des Metzgers Dalk.

Der Magister Bessermeyer warnte vor Überstürzungen und Dr. Deutschlin rief; »Zunächst handelt es sich um den Gewinn dessen, was uns allen zuhöchst steht: um den geläuterten Glauben. Warten wir ab, ob ein Rat den Handschuh aufhebt! Sollte der mich aus meinem Amte weisen, aus der Stadt weiche ich nicht, und darf ich nicht mehr in St. Jakob predigen, so tue ich es unter Gottes freiem Himmel.«

»Und wir schützen Euch«, rief der Gerber Jos Schad unter dem Beifall der anwesenden Meister.

»Wohl, Ihr Herren«, sagte Stephan von Menzingen mit scharfer Betonung, »aber die Sache stehet also, daß wir die Reformation nicht erlangen mögen, solange der Bürgerschaft ihr Recht entstehet.«

»Nein, nein, nein, wir dürfen die Religion nicht mit der Politik verquicken«, widersprach Ehrenfried Kumpf lebhaft.

»Dann möcht' ich aber mit Verlaub der günstigen 220 Herrn fragen, was aus uns, den armen Leuten, wird?« Es war der Dorfmeister von Ohrenbach, der, unbeachtet in die Stube gekommen, diese Frage stellte. Aller Augen richteten sich auf ihn.

»Der Glaube wird sie befreien wie den Bürger«, rief Andreas Karlstadt. »Wir wollen nicht zu Messern und Spießen laufen, vielmehr soll man wider seine Feinde gewaffnet sein mit dem Harnisch des Glaubens. Der neue Glaube wird wie die Kirche so die Gesellschaft reformieren. Eine neue Gesellschaft tritt mit ihm in die Welt, eine neue Gesellschaft, die das Band der Brüderlichkeit umschließt.«

»Brüder im Glauben, in Christo, gut; aber –« Die Worte kamen aus dem Munde eines wohlhabenden Eisenhändlers mit einem Doppelkinn. Er hielt es für besser, seine Bedenken unausgesprochen zu lassen, zumal Simons klare Augen sich durchdringend auf ihn hefteten.

»Aber jeder Bruder wird arbeiten«, ergänzte der blinde Mönch anstatt seiner. »Die Arbeit wird die Grundlage der neuen Gesellschaft sein.«

»An Arbeit sind wir Bauern wahrlich gewöhnt«, äußerte Simon. »Aber wie gedenken die Herren das Ding ins Werk zu richten? Der Bär ist halt noch nicht erlegt und die Herren streiten schon über das Fell. Im Guten erreichen die Herren vom Rat nix, rein gar nix. Und dieweilen uns alle der Schuh drückt, die einen hier, die anderen dort, so bin ich des Meinens, daß Städter und Bauern zusammen die Schultern an das Ding legen müssen, um es vorwärts zu schieben.«

Die Handwerksmeister, der blinde Mönch, der lateinische Schulmeister stimmten ihm bei; die anderen widersprachen, während Max gespannt auf den Ausgang harrte und der Ritter von Menzingen, an seinem Schnurrbart drehend, den ruhig dastehenden Simon aufmerksam betrachtete. Die Stimme des Herrn Ehrenfried gewann in dem lebhaften Streite die Oberhand. »Ich bitte und beschwöre Euch, meine Freunde, keine 221 Gewalt!« rief er, beide Hände erhebend. Meister Kilian lachte kurz und scharf auf. Der Altbürgermeister aber fuhr, ohne es zu beachten, fort: »Wie die Sachen stehen, so bin ich überzeugt, daß es keiner Gewalt bedürfen, sondern der Rat dem moralischen Druck nachgeben wird.«

Simon Neuffer ließ seine klugen braunen Augen langsam über die Versammelten gleiten; dann zuckte er leicht die Achseln und ging in die Stube hinunter, wo Frau und Schwester in Gesellschaft Kaspars auf ihn warteten. Kundlicher, der wackere Eisenhändler, atmete erleichtert auf.

Max Eberhard schied aus der Stube des Tuchscherers mit schweren Gedanken. Nach seiner Ansicht lag in der sittlichen Zersetzung und Auflösung der Welt, in der Abgestorbenheit des alten Glaubens, in der erbarmungslosen Ausbeutung der armen Leute die Ursache, weshalb sich die verzweifelte Menschheit mit solcher Inbrunst und Begeisterung dem neuen Glauben in die Arme warf. Er sollte ihr ein Stab sein, an dem sie sich aufrichten konnte; er sollte sie retten. Und nun hatte er einen Blick getan in die Spaltung zwischen der rein religiösen und der zugleich politischen Partei. Nur dem Ansehen des Altbürgermeisters war es gelungen, einen offenen Bruch zwischen ihnen zu vermeiden. Aber würde er nicht dennoch eines Tages sich vollziehen, und war dann nicht alles verloren, da doch nur durch die innigste Verbindung beider das Ziel erreicht werden konnte?

Als er, von dem Hause des Tuchscherers kommend, zu seiner Wohnung hinaufstieg, erschien sein Vater auf der Schwelle seiner Arbeitsstube und rief ihn herein. Seit Wochen hatten beide nur noch das Unvermeidlichste mit einander geredet. Der ältere Eberhard begann in der Stube, die im Gegensatz zu dem Arbeitszimmer des ersten Bürgermeisters äußerst einfach eingerichtet war, hin und her zu gehen, und Max harrte 222 schweigend der Ansprache. Er kannte seinen Vater zu gut, um es ihm trotz der Starrheit seiner Mienen nicht anzumerken, daß er zur Ruhe sich zu zwingen bestrebt war, und er sollte über die Ursache seiner inneren Erregung nicht lange im Zweifel bleiben. Endlich fragte Herr Konrad, indem er mit einer kurzen Wendung einige Schritte vor ihm stehen blieb: »Du hast der Beerdigung des fremden Gesellen beigewohnt?« Seine Stimme klang rauh, und er räusperte sich.

Max bejahte.

»Weißt Du, daß Du eigentlich schuld an dem Tode dieses Menschen bist?«

»Ich, mein Vater?« rief der Sohn höchst befremdet.

»Ja, Du!« fuhr jener, alles scharf herausstoßend, fort. »Hättest Du die Hand meiner Mündel nicht zurückgewiesen, gegen die Braut meines Sohnes würde der Junker von Rosenberg nie sein tollkühnes Unternehmen gewagt haben. Es wäre kein Blut geflossen und alle diese Verdrießlichkeiten wären nicht entstanden, nicht diese Aufregung der Gemüter, nicht die aufrührerische Grabrede Karlstadts, nicht der Unfug des Pöbels.«

Die Anschuldigungen waren zu ungereimt, um sie zu widerlegen. Max erkannte in ihnen den Grund für des Vaters Erregung und schwieg.

»Und warum hast Du sie verschmäht?« begann der ältere Eberhard nach einem erneuten Gange durch die Stube wieder. »Es ist zum Lachen!«

»Ich sollte meinen, daß dieser Gegenstand zwischen uns völlig erledigt ist«, versetzte Max mit Ruhe.

Der Vater aber rief: »Mit nichten: Es ist noch nicht zu spät, Deine Torheit wieder gut zu machen.« Da der Sohn hierauf keine Antwort gab, fügte er hinzu: »Du willst nicht? Gut, ich werde Dir sagen, warum Du nicht willst.«

»Nicht weiter, mein Vater«, unterbrach ihn Max mit einer solchen Bestimmtheit, daß jener stutzte. 223

Er wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus. Auf dem Marktplatze begann das Getreibe der Fastnachtsmasken.

»Vielleicht wäre es für uns beide am besten, mein Vater, wenn wir diese Unterredung auf ein ander Mal aufschöben«, äußerte Max nach einer Weile mit gedämpfter Stimme.

»Es ist nicht meine Gewohnheit, Sachen zu vertagen, die am besten gleich erledigt werden«, erwiderte der Vater, ohne sich umzukehren. Seine Stimme klang ruhiger als vorher. Dann trat er vom Fenster weg und sagte, indem er sich niederließ: »Setze Dich. – Wir wollen die Sache rasch zu Ende bringen. Als Dein Vater werde ich wie immer ohne Rückhalt mit Dir reden; ich muß es um Deiner selbst willen. Lasse es mich von Dir selbst hören, ob es wahr ist, wie man sagt, daß Du Dich um Else von Menzingen bewirbst?«

»Es ist so«, gab Max mit einem leichten Erröten zu. »Ich wünsche, das Fräulein eines Tages heimzuführen.«

Obgleich Herr Konrad diese Antwort voraus hätte wissen können, so verursachte sie dennoch ein leises Zucken seiner buschigen Brauen. »Also doch«, räusperte er sich. Mit einer geschäftsmäßigen Trockenheit fuhr er fort; »Du hieltest es mit Deiner Ehre eines Tages für unverträglich, meine Mündel zu Deinem Weibe zu machen, weil die Art und Weise, wie ihr Vermögen erworben wurde, nicht ganz lauter gewesen sein soll. Kennst Du die schweren Beschuldigungen, die auf Stephan von Menzingen lasten?«

»Ich kenne sie«, antwortete der Sohn. »Aber ich habe mich aus seinen Papieren überzeugt und dieselben in beglaubigter Abschrift bereits dem Reichs-Kammergericht eingesandt, daß er nur im Auftrage seines Herrn gehandelt hat.«

»Und daß er die Summen, die er den Kreglingern abpreßte, nach Ansbach abführte, ohne daß davon etwas an seinen Fingern kleben blieb?« 224

»Mein Vater!« zuckte Max auf.

Jener machte ihm ein Zeichen, sich nicht aufzuregen. »Ich stelle nur dieselbe Frage, die Du vor dem Gericht zu beantworten haben wirst, wenn es das Urteil über Deinen Klienten wieder aufheben soll. Als Jurist mußt Du das ja wissen.«

»Ich werde den Schatzkämmerer des Markgrafen und ihn selbst als Zeugen vor Gericht fordern und sie werden die Unschuld des Ritters erhärten,« rief Max mit Lebhaftigkeit.

»Nun, es ist möglich, daß Markgraf Kasimir seinem ehemaligen Diener aus der Klemme hilft. Nehmen wir selbst an, daß Menzingen gegen den Markgrafen ehrlich war. Woher alsdann der Reichtum, mit dem er aus dem kurzen Dienste des Markgrafen schied, während er vorher arm war? Woher die Mittel, mit denen er seinen jetzigen Aufwand bestreitet? Du mußt zugeben, daß eine Wolke des schwersten Verdachtes auf ihm ruhen bleibt, wenn es Dir auch gelingen sollte, seine Freisprechung wegen der Bedrückung zu erlangen.«

»Die Wolke wird sich zerstreuen«, erwiderte der Sohn überzeugt.

Aber der Vater fuhr, ohne darauf zu achten, fort: »Was nun seine Händel mit dem hiesigen Rate betrifft, so wird dieser es ihm nicht erlassen, die verweigerte Rekognitionssteuer zu zahlen. Den damals von ihm schwer gekränkten Ratsherren aber wird er, soweit ich die Stimmung kenne, eine schriftliche Ehrenerklärung zu geben haben. Der Rat wird sie entwerfen und von Menzingen sie vor beiden versammelten Räten verlesen und mit seiner Namensunterschrift zu den Akten geben. Daß die von ihm an ihrer Ehre gekränkten Ratsherren inzwischen aus dem Zeitlichen abgeschieden sind, wird die Sache nicht ändern.«

Max fuhr von seinem Sitze auf. »Zu einer solchen 225 Demütigung wird sich der Stolz des Ritters nimmer verstehen.«

»So wird man ihn dazu zwingen«, antwortete Herr Konrad kalt. »Dich aber frage ich, ob Du eine doppelte Ehre besitzest, die Dir in bezug auf die Tochter Menzingens zu tun erlaubt, was sie Dir in bezug auf meine Mündel nicht gestattete. Ich mache Dich zu Deinem eigenen Richter, entscheide.«

Max atmete rasch und um sich zur Ruhe zu zwingen, umfaßte er mit beiden Händen die Lehne seines Stuhles. »Erlaube mir, daß ich den Punkt hervorhebe, in dem sich die beiden Fälle unterscheiden. Ich liebe Else, aber ich liebte Gabriele nicht. Du wirst Dich erinnern, daß ich Deine Mündel nicht für den schlechten Ruf ihres Vaters verantwortlich machte, und ich sollte gegen Else, die ich liebe, weniger gerecht sein als gegen jene? Aber ich sollte gar nicht Gabriele, sondern ihr Geld heiraten, und ich weigerte mich, weil ich mich der unlauteren Weise nicht mitschuldig machen wollte, in der es von ihrem Vater erworben worden war. Das Fräulein von Menzingen ist arm; das wenige, was vorhanden sein mag, zersplittert sich unter mehreren Geschwistern, und ich werde Else nicht eher zu meiner Gattin machen, als bis meine eigene Lage es gestattet.«

»Und siehst Du nicht ein«, rief der Vater mit einem Blitz in seinen kalten Augen, »daß Deine unselige Verblendung für dieses Mädchen Dich ganz in die Hände Menzingens gibt, der nach dem Umgange, den er pflegt, zu urteilen, auf der Seite der Neuerer steht? Nach den Irrtümern, um es gelinde auszudrücken, die Du stolz Deine Weltanschauung nanntest, kann es mich freilich nicht wunder nehmen, daß Du meine Warnung in den Wind schlägst und Dich an Leute anschließest, welche Staat und Kirche aufs gefährlichste bedrohen. Die Predigten Deutschlins und des Kommenturs, ihr Trotz wider die höchste geistliche Autorität, die Grabrede Karlstadts, der Unfug des Pöbels, das alles muß doch 226 auch Dir die Augen darüber öffnen, daß diese Neuerer dahin trachten, alle Bande des Gehorsams zu zerreißen, jede Ordnung und selbst unseren heiligen Glauben umzustürzen. Freilich, was schiert sie es, daß ihre Machenschaften Unfrieden, Haß, Mord und Brand in unsere gute Stadt tragen? Sind sie doch Fremde und keiner ein Rothenburger! Besinne Dich, Max! Es ist Zeit, daß alle, die es mit ihrer Vaterstadt wohl meinen, sich eng aneinander schließen zum Schutze der höchsten und heiligsten Güter wider diese aufrührerische Rotte.«

»Bedarf es denn dessen, mein Vater?« fragte Max entschlossen. »Es liegt in der Hand des Rates, den Frieden zu bewahren, wenn er gefährdet sein sollte. Warum weigert er sich, dem Geiste und dem Bedürfnis der neuen Zeit nachzukommen? Er führe die Reformation endlich in Rothenburg ein; er gebe den Zünften ihren verbrieften Anteil an dem Regiment der Stadt zurück; er erleichtere die schweren Lasten der Untertanen und hebe die entwürdigende Leibeigenschaft auf. Dann wird sich unser Gemeindewesen in Eintracht und Frieden zu schönerer Blüte entfalten. Was mit der Zeit geworden ist, das muß in ihrem Laufe auch wieder vergehen, indem es sich wandelt. Das Alte hat sich überlebt und der menschliche Geist baut sich einen neuen Leib. Wenn hier von Aufrührern die Rede sein darf, so dünket mich, daß es diejenigen sind, die sich selbstsüchtig der reiferen Erkenntnis und dem reineren Lichte verschließen und darnach trachten, die Welt in der alten Finsternis zu erhalten oder in dieselbe zurückzustürzen.«

»Genug«, rief Herr Konrad mit einer gebieterischen Gebärde und stand auf. »Du bist ein Schwarmgeist. Ich hatte gehofft, Dich zurückzugewinnen. Diese Hoffnung ist gescheitert, wie alle anderen, die ich auf Dich setzte. Stürze denn in Dein Verderben, da Du Dich nicht warnen, nicht zurückhalten läßt! Aber wisse, daß das Alte, was Dir als überwunden erscheint, noch kräftig genug ist, um Euch Neuerer zu zerschmettern. Und, 227 bei Gott, es wird geschehen, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne Barmherzigkeit. Genug!« Er trat an seinen Schreibtisch, von dem er einige Papiere nahm, die er dem Sohne mit den Worten aufzwang:

»Ich habe diese Stunde leider voraussehen müssen. Hier ist die Abrechnung über die Verwaltung Deines mütterlichen Erbes und die Anweisung an meine Kasse, den Betrag zu erheben. Es sind vierhundert und einige Gulden. Unser Geschäft ist beendet.«

Max starrte auf die Papiere in seiner Hand. Dann erhob er die Augen zu seinem Vater und sagte bewegt: »So habe ich Dir nur noch für alle Güte zu danken, die Du mich bisher hast genießen lassen. Du hast sie keinem Undankbaren erwiesen. Aber des Mannes höchstes Gut ist seine Überzeugung. Ich wäre ein Nichtswürdiger, wenn ich ihr nicht folgte. Lebe wohl, mein Vater!«

Er verbeugte sich und ging. Das Tischtuch war zwischen ihnen zerschnitten; er mußte sich ein neues Heim suchen.

 


 


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