Robert Schweichel
Um die Freiheit
Robert Schweichel

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Viertes Kapitel.

Nach heutigen Begriffen war es noch früh am Tage, hatte der Wächter auf dem Rathausturme doch nur eben die achte Morgenstunde an der Glocke angeschlagen, da saßen die wohlweisen Dreizehn des Innern Rates schon würdevoll in ihren schwarzen langen Schauben und flachen schwarzen Baretten auf den hochlehnigen Eichenstühlen um den grünen Tisch. Mancher von ihnen hätte der Ruhe wohl gern etwas länger gepflegt; denn die Feuergeister des Leisten-, Stein- und Rheinweines hatten sich an der Tafel des ersten Bürgermeisters ein übermütig Spiel mit den ehrsamen, günstigen, lieben Herren erlaubt. Auch wirkte der umständliche Bericht, den der Stadtrichter Georg Hörner über den gestrigen Tumult erstattete, nicht sonderlich erquickend. Raufereien auf Märkten und Kirchweihen waren zudem ein zu gewöhnliches Ereignis, um darauf großes Gewicht zu legen. Nur Konrad Eberhard schnitt mit der scharfen Bemerkung hinein: »Das sind die Folgen der gotteslästerlichen Hochzeit eines eidbrüchigen Pfaffen!«

In den Augen des Altbürgermeisters flammte es auf. Georg von Bermeter jedoch, der gern vermittelte, wo er es mit Ehren konnte, denn Zank und Streit waren ihm verhaßt, warf Herrn Ehrenfried einen bittenden Blick 66 zu. Er war außer diesem der Einzige im Innern Rate, der wenigstens in seinem Herzen der Reformation zugeneigt war, und er sagte: »Aber es erhellt aus dem Bericht, daß die fremden Junker die Schuld an den Händeln tragen.«

»Was? Was?« rief der Ratsherr von Winterbach. »Heißt das Händel anfangen, wenn ein Edelmann mit einem Narren einen Scherz macht?«

Erasmus von Muslor hob seine weiße, etwas fleischige Hand auf und mahnte: »Hören wir den Bericht weiter, wohlweise Herren!«

Der Stadtrichter trug daher weiter vor, daß der Seilschwimmer und der Buchführer, dem in dem Getümmel der Tisch umgestürzt und die ausgelegten Schriften unter die Füße getreten worden, auf dem Markte ein großes Geschrei vor den Bürgern erhoben hätten und Schadenersatz verlangten. Sie warteten vor der Ratsstube, um ihre Klagen anzubringen. Auch der Narr warte draußen auf ein Schmerzensgeld für die ausgestandene Todesfurcht.

Da lachten einige von den Ehrbaren laut auf; andere riefen zornig: »Schadenersatz von der Stadt? Reitet sie der Teufel? Schickt sie zu den Junkern; die müssen zahlen.«

»Es ist dessen kein Zweifel, daß die Junker für den Schaden zu haften haben«, sprach der erste Bürgermeister. »Aber die Leute haben sich mit Fug an den Rat gewendet. Im Vertrauen auf den gebotenen Frieden sind sie nach Rothenburg gekommen und haben auch den Marktgroschen erlegt zur Ausübung ihres Gewerbes. Ein wohlweiser Rat wird mit mir einverstanden sein, daß wir ihre Ansprüche prüfen lassen und demgemäß entscheiden. Dem Narren aber mögen wir für die ausgestandene Angst sogleich einen Viertelgulden aus der Stadtkasse zubilligen. Da es nun erwiesen ist, daß die Junker von Rosenberg und Finsterlohr den gebotenen Frieden der Stadt gebrochen haben, so dünket 67 mich billig, daß jedem von ihnen eine Pön von fünf Gulden auferlegt werde und außerdem die Stadt sich an ihnen des Schadens erhole und der Kosten, so ihr aus dem gestrigen Tumult erwachsen sind und etwa noch erwachsen werden.«

Ein Murmeln der Zustimmung lief um den grünen Tisch und der Stadtrichter wurde beauftragt, von den Klägern eine schriftliche Angabe ihres Schadens einzufordern. Der jungen Patrizier, die mit den Junkern gemeinsame Sache gemacht hatten, geschah mit keiner Silbe Erwähnung.

Konrad Eberhard aber bemerkte kalt: »So einig ein Rat in der Sache selbst ist, so einig ist er wohl auch in der Überzeugung, daß die Junker auf Haltenbergstedten und auf Laudenbach weder Schadenersatz noch Strafe leisten werden. Bin daher der Meinung, daß wir übel taten, sie entreiten zu lassen. Auf handhafter Tat ergriffen, unterstanden sie der Stadt Gerichtsbarkeit. Der Rat hat das verbriefte Recht, jeden bösen Mann, so sich in die geistlichen Häuser, Klöster und Kirchen flüchtet, von dort wegholen zu lassen, selbst vom Altar.«

Herr Erasmus neigte bestätigend sein Haupt. »Dieses Recht stehet Rothenburg vertragsmäßig zu. Aber, lieber Herr Kollega, wenn wir in diesem Falle von ihm Gebrauch gemacht hätten, würde es nicht geheißen haben, daß wir der Ketzerei Vorschub leisten, wo es not tut, den heiligen Glauben zu stützen? Das Ansehen der frommen Frauen würde im Volke schwerlich dadurch gewonnen haben, und es kann nicht unseres Amtes sein – hier streiften seine Blicke den Altbürgermeister – Wasser auf fremde Mühlen zu leiten. Ich denke, daß die Junker zahlen werden; denn sie werden sich die Stadt nicht just zu den Faschingslustbarkeiten verschließen wollen, was wir ja sehr bedauern würden. Sollte ich mich täuschen, nun, so bleibt uns ja noch die Berufung an das Reichs-Kammergericht.«

»Das Reichs-Kammergericht!« zuckte der 68 Altbürgermeister Ehrenfried Kumpf empor. Er bezwang sich jedoch und fuhr mit äußerer Ruhe fort: »Es freut mich, daß der Rat dem Buchführer und Seilschwimmer gerecht worden ist. Destomehr darf ich der Hoffnung leben, daß er einem eingesessenen Bürger dieser Stadt endlich zu seinem durch des Kaisers Gericht bestätigten Rechte verhelfen werde.«

Die Ratsherren sahen einander verwundert an. Wen konnte er meinen?

»Ich spreche von Kilian Etschlich, dem Tuchscherer«, erklärte Herr Ehrenfried.

Da erhob sich ein Murren unter den Herren und der erste Bürgermeister richtete Kopf und Oberleib steif auf. Es kannte jeder den Handel. Zehn Jahre waren es her, da hatte Georg von Wernizer, der jetzige Schultheiß von Endsee, auf der Herren-Trinkstube seinen Vetter Joas Trüb beim Spiel erstochen. Joas Trüb hatte gleich der Mehrzahl der jungen Patrizier seinen wilden Hafer mit vollen Händen ausgesäet. Darüber mit seiner Familie zerfallen, hatte er geborgt, wo immer nur sein lustig Wesen ihm die Beutel geöffnet. Die Trüb gehörten nächst den Wernizer zu den ältesten Familien der Stadt, und so hatte auch Kilian Etschlich gleich manchem anderen des Glaubens sich getröstet, daß Joas ein sicherer Mann sei. Noch am Morgen seines Todes hatte er mit Kilian abgerechnet, das heißt, er hatte seine Schulden bei ihm auf hundert Gulden abgerundet und war dann fröhlich zur Herren-Trinkstube gewandert. Aber das Oberhaupt der Familie weigerte sich, die Schulden des Erschlagenen zu bezahlen. Der Alte war nicht nur geizig, sondern spielte sich auch auf den Cato hinaus, und als der Tuchscherer klagte, rief er die Moral zur Hilfe. Die Verderbnis der Jugend, über die man allgemein klage, so machte er geltend, habe ihren Grund lediglich in der Liebedienerei des Bürgertums, welche der Leichtfertigkeit unbedenklich Kredit gewähre. Was aus dem Gemeinwohl, was 69 aus dem Staate werden solle, wenn die Obrigkeit ruhig zusehe, daß die Jugend, die doch eines Tages an der Väter Stelle zum Regiment gelange, also verderbt würde? Der Quell des Übels müßte verstopft, ein Beispiel aufgestellt werden. Der Kläger müßte daher mit seiner Forderung nicht nur abgewiesen, sondern obendrein als Verführer der Jugend und Verderber der guten Sitten mit Strafe belegt werden. Der Rat schloß sich diesen Gründen an; denn es lag ihm daran, zwischen dem einflußreichen Geschlecht der Trüb und dem der Wernizer eine Aussöhnung zustande zu bringen, sollte das Patriziat nicht in zwei feindliche Parteien gespalten werden. Die Wernizer ihrerseits drangen ungestüm auf die Begnadigung des Totschlägers, der entflohen und auf zwanzig Meilen Wegs verbannt war. Was wog unter solchen Umständen das Recht eines Handwerksmeisters? Kilian Etschlich erstritt zwar von dem Reichskammergericht in Nürnberg einen günstigen Spruch, allein auf dessen Vollstreckung durch den Rat wartete er noch zur Stunde vergebens, während dem Georg Wernizer für eine Summe, die er an das Spital zum heiligen Geiste gezahlt, die Tore der Vaterstadt längst wieder sich erschlossen hatten.

Erasmus von Muslor ermahnte den Altbürgermeister feierlich, die Toten ruhen zu lassen. Dazu war dieser mit nichten bereit und er erwiderte, indem er seine hagere Gestalt streckte: »Tot ist das Recht; das Unrecht schreitet durch die Gassen. Wie mögen wir auf die Liebe, den Gehorsam, die Treue der Bürgerschaft zählen, wenn wir ihr den Glauben an die Gerechtigkeit des Rates nehmen?«

Nun schrien alle gegen ihn. Georg von Bermeter suchte zu vermitteln; es hörte aber keiner auf ihn.

»Was schiert uns die Bürgerschaft?« rief der Ratsherr von Winterbach. »Was der Kaiser in Hispanien? Hier ist Rothenburg und wir sind die Herren.« Krachend hieb er mit der Faust auf den Tisch. 70

»Was uns der Kaiser angeht?« fragte Herr Ehrenfried mit blitzenden Augen. »Ei, Ihr Herren, sehnet Ihr Euch so sehr darnach, daß der Ansbach-Bayreuther unsere freie Stadt überkomme? Der Markgraf Kasimir paßt nur auf die Gelegenheit.«

»Schätze, daß unsere Mauern härter sind als sein brandenburgischer Schädel«, schnob der Ratsherr von Seyboth verächtlich.

»Ja, so lange die Bürgerschaft zu den Geschlechtern steht«, warnte Ehrenfried Kumpf.

Ein fast allgemeines Hohngelächter war die Antwort. Der erste Bürgermeister versicherte kurz und nachdrücklich: »Das tut sie.«

»Ja, das tut sie«, krähte der kleine Ratsherr von Hipler ihm nach.

»Auch dann noch«, fragte Herr Ehrenfried uneingeschüchtert, »wann sie durch Eure Ungerechtigkeit daran erinnert wird, daß sie ein verbrieftes Recht auf die Mitregierung der Stadt hat?«

Das traf die Herren wie ein Keulenschlag. Der zweite Bürgermeister fuhr jedoch mit seiner harten Stimme rasch hinein: »Was streiten wir? Die Sache ist lang vor uns durch Ratsschluß abgetan. Wir haben nichts mit ihr zu schaffen.«

»Was? was? was?« entgegnete der Altbürgermeister hitzig. »Ein solcher Schluß ist nie gefaßt worden, konnte nie gefaßt werden. Wo hätte ein Rat das Recht, einen Entscheid des Reichskammergerichts aufzuheben? Vetterschaftsrücksichten haben das Urteil von der Ratstafel verschwinden lassen, ja Vetterschaftsrücksichten!«

Entstand jetzt ein Sturm! Die Herren fuhren mit einem Ungestüm von ihren hohen Stühlen auf, so daß davon mehrere zu Boden polterten, und schrien und ballten die Fäuste gegen Ehrenfried Kumpf. Der Vorsitzende wollte reden; aber es dauerte lange, bis er sich Gehör zu verschaffen vermochte und sein Gesicht 71 wurde von der Anstrengung dunkelrot. Dann erklärte er mit Gemessenheit und Würde: »Es ist nicht des Rates, seine Vorgänger im Amte zu richten. Was diese für Recht erkannten, ist auch für uns Rechtens und bindend. Die Sache Kilian Etschlich ist somit für uns ab und tot. So Ihr der gleichen Meinung seid, sehr weise und edle Herren, so erhebet des zum Zeichen eine Hand.«

»Wir alle!« riefen sie mit Ausnahme Georgs von Bermeter, der seufzend den Kopf schüttelte und die Hand nicht in die Höhe streckte.

Herr Ehrenfried stand auf, blickte sich an dem grünen Tische um und sprach mit mühsam beherrschter Erregung: »Der Innere Rat hat durch diesen Schluß die Ungerechtigkeit seiner Vorgänger zu seiner eigenen gemacht. Demnach wird er auch die Verantwortung dafür zu tragen haben, und sie wird nicht ausbleiben.«

»Steifet Ihr Euch auf Euren ketzerischen Anhang, daß Ihr dem Rat drohet?« fragte Konrad Eberhard, indem er einen Schritt auf ihn zutrat. »Noch ist Rothenburg eine gut katholische Stadt, und sie soll es bleiben, bei meinem Eide.«

»Ja, bei unserem Eide«, wiederholte der kleine Herr von Hipler, und der beleibte Ratsherr von Seyboth fügte schnaubend hinzu: »Und Ihr sollet uns wahrlich kein Kuckucksei ins Nest legen.«

Ehrenfried Kumpf achtete ihrer nicht. Seine kleinen Augen funkelten in die kalten seines Gegners, und er versetzte: »Ich drohe nicht. Aber wisset, Herr Eberhard, wo Ihr einen in der Bürgerschaft habt, da habe ich deren zwei.« Damit faßte er seine lange, schlichte Schaube zusammen und verließ die Ratsstube.

Erasmus von Muslor warf seinem Amtsgenossen einen raschen Blick zu, der keine Billigung enthielt. Sein Vorschlag, zum nächsten Gegenstand der Beratung überzugehen, fiel zu Boden. Die Geister waren zu erregt, der Vorwurf der Vetterschaftsrücksichten hatte 72 den wunden Fleck zu empfindlich getroffen. Waren doch die Geschlechter zum größten Teil unter sich versippt und verwandt. Herr Erasmus war genötigt, die Sitzung aufzuheben. Die Herren begaben sich zum Frühschoppen auf die Trinkstube; denn der Zorn macht durstig. Georg von Bermeter ging in der Hoffnung mit, die Wunden, die ihnen Herr Ehrenfried geschlagen, bei dem Becher zu besprechen. Der zweite Bürgermeister begleitete sie nur bis zum Markte, der heute wie ausgestorben war. Dort verabschiedete er sich und schritt nach seiner Wohnung. Es war nicht Sittlichkeit, sondern Temperament, weshalb er die derbe Genußsucht seiner Zeit nicht teilte. Er war Witwer und Max der einzige Sprößling seiner durch den Tod früh gelösten Ehe.

Seine Wohnung bildete die untere südliche Schmalseite des Hauptmarktes, der Herren-Trinkstube gegenüber. Das Haus hatte außer dem Erdgeschosse nur zwei Stockwerke, von denen sich das eine über das andere vorschob. Es trennte die zum Wirtshaus des Gabriel Langenberger abfallende Gasse von der Schmiedegasse, der längsten Rothenburgs, die bis zum Spitaltore hinunter leitete. Die steinernen Stufen, die zur Haustür führten, waren von den Füßen dreier Menschenalter ausgeschlürft, wozu das gegenwärtige am meisten mitgewirkt haben durfte. Denn Konrad Eberhard verwaltete nicht nur das große Vermögen der schönen Gabriele Neureuter, sondern auch das einer Stiftung für mittellos hinterbliebene Witwen städtischer Bürger, und zudem lasteten auf ihm die Geschäfte des zweiten Bürgermeisters und des zweiten Pflegers von St. Jakob. Es stand daher die Haustür selten still. Rechts neben derselben lagen die Geschäftsstuben des Hausherrn; zur Linken die Schreibstube des Sohnes, der sich nach seiner Heimkehr als Notar und Advokat aufgetan hatte. Noch ließ ihm sein Beruf viel mehr Muße zu anderen Dingen als ihm lieb war, und er benutzte 73 sie, um aus den alten Urkunden und Pergamenten des städtischen Archivs die Geschichte Rothenburgs zu studieren.

Über einem solchen Pergamentbriefe traf ihn der Vater. Herr Konrad griff mit einiger Hast danach, indem er sich auf dem Stuhle vor dem schlichten Schreibtische niederließ, von dem Max zu seinem Empfange aufgestanden war. Das Dokument war aus dem Jahre 1100 und bezog sich auf das Spital des Johanniter-Ordens in der Schmiedegasse. Konrad Eberhard warf es gleichgiltig wieder hin und sagte: »Den Moder überlasse anderen und genieße Deine Jugend. Ich meine, nicht in der Weise unserer jungen Stadtherren; denn dazu bist Du zu ernsten Sinnes. Nimm Dir ein Weib.«

»Damit hat es wohl noch gute Wege«, meinte Max, von diesem Vorschlage höchlich überrascht.

»Im Gegenteil; jung gefreit hat niemand gereut«, erwiderte Herr Konrad mit einem mißlungenen Versuche, die starren Muskeln seines Mundes zu einem Lächeln zu zwingen. »Du weißt, daß es ein alter Brauch in unserer Stadt ist, daß die Söhne sich verheiraten, sobald sie eine Stellung haben, und ich wünsche zu Deinem Besten, daß Du dieser guten Sitte sobald als möglich folgtest. Du mußt flügge werden; Rothenburg darf für Dich nur eine kurze Zwischenstufe sein. Wie weit könntest Du es hier günstigen Falles auch bringen? Höchstens bis zum Stadtschreiber und auch das wohl erst nach vielen Jahren. Denn Thomas Zweifel ist noch zu jung, um Dir bald den Platz zu räumen. Die Bauern-Advokatur? Nun, sie ernährt wohl ihren Mann. Dazu aber war es nicht nötig, in dem berühmten Bologna zu studieren, und wer dort den Doktor gemacht hat, der ist, dünkt mich, zu einer höheren Stellung berufen.«

Max, der sich an der Schmalseite des Schreibtisches niedergelassen hatte, machte große Augen. »Ich verstehe Euch in der Tat nicht, lieber Vater. Denn wäre 74 ich auch ehrgeizig genug, um nach einem höheren Ziele zu streben, so –«

»So fehlen Dir doch die Mittel dazu«, ergänzte der Vater, der ein Bein über das andere geschlagen hatte und mit einer von dem Tische aufgenommenen Gänsefeder spielte. »Das wolltest Du doch sagen? Eben darum sollst Du heiraten, versteht sich eine reiche Frau. Mein Mündel besitzt, was Du brauchst und ich werde daher die Angelegenheit mit ihr ordnen.«

»An Gabriele denkest Du?« rief der Sohn betroffen. »Aber dann möchte ich Dich dringend bitten, mein Vater, von allen Schritten abzusehen. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß Gabriele Deiner Absicht keineswegs günstig ist.«

»Weil Ihr gestern bei der Tafel einen Streit mit einander hattet? Es ist mir nicht entgangen. Der Frieden wird bald wieder hergestellt sein.«

Es lag eine leise Ironie in dem Tone des Herrn Konrad. Max aber entgegnete mit um so größerem Ernst: »Es würde zu nichts führen. Gabriele und ich haben einander nichts zu verzeihen. Unsere Ansichten stehen in einem solchen Gegensatze zu einander, daß nichts sie auszugleichen vermag, es sei denn die Liebe, und eine solche fühle ich für Gabriele Neureuter nicht. Eine Verbindung ist daher zwischen uns unmöglich.«

»Liebe?« rief der Vater, und warf die Feder auf den Schreibtisch zurück. »Aber das sind altmodische Torheiten, deren ich Dich nicht für fähig gehalten hätte. Die Ehe erfordert verläßlichere, festere Grundlagen und Bedingungen als eine flüchtige Erregung des Herzens. Und diese Bedingungen sind auf beiden Seiten vorhanden. Hast Du darum den Doktorhut mit Auszeichnung erworben, um ihn in unserer kleinen Stadt verstauben zu lassen? Das würde Dein Los sein, da Du außer dem kleinen Erbteil Deiner Mutter keine Mittel hast; denn ich besitze kein Vermögen. Du wirst wohl wissen, daß Rothenburg selbst seine obersten Beamten so kärglich 75 bezahlt, daß ich mir die verschiedensten Nebenämter aufbürden mußte, um meiner Stellung gemäß leben und die Kosten Deiner Erziehung bestreiten zu können. Sie hat viel, sehr viel Geld gekostet, insonderheit Dein Studium in Welschland und Deine dortigen Reisen. Aber ich habe dessen nicht geachtet, weil es nach meiner Überzeugung bei Deinen Fähigkeiten gut angelegt war. Nun wohl, diese Fähigkeiten eröffnen Dir eine glänzende Laufbahn; aber ohne Vermögen bist Du ein Hinkender, den jeder überholt. Heute ist es nicht mehr das Schwert, sondern in erster Reihe die Kenntnis des römischen Rechts, was die Anwartschaft auf die einflußreichsten und höchsten Stellen im Rate der Fürsten verleiht. Das Vermögen meiner Mündel wird Dir den Weg bahnen und Du kannst auf ihm keine bessere Gefährtin haben als sie. Denn sie ist ehrgeizig und sowohl durch die Erziehung, die sie bei den Dominikanerinnen erhalten hat, wie durch ihre Schönheit geschaffen, selbst an den prächtigsten Höfen zu glänzen.«

»Um Gottes willen, Vater, so niedrig schätzest Du mich?« rief Max mit schmerzlicher Erregung. »Nicht meiner Kraft soll ich meine Zukunft zu danken haben, sondern dem Golde, fremdem Golde? – und welchem Golde!« Er tat einen tiefen Atemzug und fuhr dann mit einer gewissen Hast fort: »Ich habe auf meiner Reise durch das Reich viel Elend gesehen, grenzenloses Elend. Ich sah, daß unsere Bauern oft das Allernotwendigste entbehrten, trotzdem sie sich keine Rast gönnten und bei jedem Wind und Wetter vom ersten Tagesgrauen bis in die sinkende Nacht schafften. Ich sah ihre erbärmlichen Hütten, sah sie elend gekleidet, elend genährt und von ihren Herren schlechter behandelt als das Vieh. Ich sah die von der langen Tagesarbeit erschöpften Männer nachts bei ihren Äckern mit Klappern wachen, damit das Wild ihnen nicht die Frucht wegfrißt, von der ihr und der Ihrigen Leben abhing, Ich sah die armen Weiber an Sonn- und Feiertagen, anstatt zu ruhen, vor Tau und 76 Tag auf den Wiesen Schneckenhäuselein zusammenlesen zu Garnknäueln für die Schloßherrin. Und, Vater, ich sah Männer und Weiber zusammen vor den Pflug gespannt und die Vögte sie mit der Peitsche antreiben als wie das Zugvieh. Und ich fragte mich: woher das grenzenlose Elend der armen Leute? Wer isset die Frucht ihres zähen Fleißes? Haften an dem Reichtum der Herren die Tränen, der Hunger, die Flüche der Armen und Elenden, so kleben sie dreifach schwer an den Schätzen derjenigen, welche die allgemeine Volksstimme die Tochter des Wucherers nennt. Ihre Schönheit vermag das Urteil nicht zu bestechen.«

Das einem verwitterten Steine ähnliche Gesicht Konrad Eberhards war womöglich noch starrer geworden. Aus seiner Stimme aber grollte es wie ein heraufziehendes Wetter: »Not und Armut hat es stets gegeben und sie werden dauern bis an der Welt Ende. Kein Weltverbesserer wird je etwas daran ändern; denn Gott hat es also geordnet. Du aber hüte dich vor den Irrlehren der Neuerer, dieser Münzer, Karlstadt, Deutschlin und wie sie noch heißen mögen. Sie können nur Verderben über die Verführten heraufbeschwören, deren Leichtgläubigkeit und Blindheit sie zu ihrem Nutzen auszubeuten trachten. Im übrigen: was kümmert Dich das Geschwätz der Leute? Der alte Neureuter war ein kluger Mann. Hat er klein angefangen, nun, die weltberühmten Fugger, die heute reicher sind als kein Fürst es ist, kamen als arme Weber nach Augsburg. Wie sie hat er die günstigen Umstände, die sich ihm boten, zu nützen verstanden. Das ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht eines jeden Verständigen. Solche Köpfe sind es, die Leben in Handel und Wandel bringen und den Aufschwung ihrer Vaterstadt fördern. Gegen die Gesetze hat er nie verstoßen. Wenn seine Tochter in den Häusern unserer Geschlechter mit offenen Armen empfangen wird, wenn der erste Bürgermeister der Stadt sie in seine Familie aufgenommen hat, so deucht mich, daß 77 selbst Dein überfeines Zartgefühl sich zufrieden geben könnte. In ihren Händen ist das Vermögen ohne Makel.«

»Der Glaube an die Weltordnung, zu der Du Dich bekennst, versagt mir,« erwiderte Max mit Festigkeit, doch ohne Trotz. »Aber wenn ich auch Gabriele von aller Verantwortlichkeit für die Handlungsweise ihres Vaters freispreche, so bleibet dennoch der Makel an ihrem Reichtum haften. Ich würde meine Ehre in meinen eigenen Augen schädigen, wollte ich solche Mittel meinem Ehrgeiz dienstbar machen. Ich habe Deine große Güte gegen mich nie verkannt und ich bin Dir dafür von Herzen dankbar. Du hast auch diesen Plan zu meinem Glücke ersonnen; aber Du kennst jetzt die Gründe, weshalb ich auf ihn nicht eingehen kann. Laß ihn daher fallen, ich bitte Dich!«

»Deine Gründe beweisen nur die Unreife Deines Kopfes«, versetzte der Vater, während der Zorn seine hageren Wangen rötete. »So muß ich denn für Dich denken und handeln. Ich habe für Dich kraft meiner väterlichen Rechte gewählt; darnach richte Dich!« Er schob seinen Sessel zurück und stand auf.

»Es ist schmerzlich, daß ich Dir darin nicht gehorchen kann«, sagte Max entschlossen und erhob sich gleichfalls. »Ein Knabe bin ich nicht mehr und was Du meiner Überzeugung nicht abgewinnst, durch Zwang erreichst Du es nicht. Ich bitte Dich, laß uns nicht so von einander gehen.«

»Die Wahl steht bei Dir«, antwortete Konrad Eberhard und verließ das Zimmer.

Max seufzte schwer, als er allein war. Es war ihm, seitdem er wieder in Rothenburg sich befand, mit jedem Tage deutlicher geworden, daß es zwischen seiner Geistesrichtung, zu der er sich in der Fremde durchgerungen, und den fest im Alten wurzelnden Überzeugungen seines Vaters zu harten Reibungen kommen müßte. Nun hatte der Kampf begonnen, der die Gegensätze nicht ausgleichen, sondern nur verschärfen konnte, 78 und das schmerzte ihn. Denn der früh mutterlos Gewordene war in der höchsten Meinung von dem scharfen Verstande und der starken Willenskraft des Vaters aufgewachsen. In dieses Gefühl mischte es einen Tropfen von Bitterkeit, daß der Streit um Gabrieles willen entstanden war. Er hatte in Welschland der geselligen und heiteren Stunden, die er mit ihr und ihrer Freundin Sabine im Hause des Herrn Erasmus verlebt, gern gedacht und gehofft, in der schönen Gabriele eine Vertraute seiner Ideen zu gewinnen. Das gestrige Festmahl hatte ihn vollends über den Trug dieser Hoffnung aufgeklärt. »Jacta est alea (der Würfel ist gefallen)«, sprach er mit Ulrich von Hutten, dessen Schriften ihn hauptsächlich auf die neue Bahn gewiesen hatten. Der Name dieses genialsten und radikalsten unter den Humanisten hatte ihn zu Bologna von der Mauer des Universitätshofes inmitten derjenigen vieler Landsleute gegrüßt und er hatte den Heimweg über die Schweiz nur deshalb gewählt, um das Grab Huttens auf der Insel Ufenau im Zürichsee zu besuchen. Der heilkundige Pfarrer Schneeg, der den Unglücklichen in seinen letzten Leidenstagen aufgenommen hatte, hatte ihm viel von Hutten erzählt. Es trat jetzt wieder lebhaft vor seine Seele und er gedachte des fränkischen Ritters, der dem Pfarrer Schneeg das Geld geschickt hatte, um das Grab des so früh dem Tode Verfallenen mit einem Denkstein zu zeichnen. Florian Geyer von Geyersberg hieß er. Der Name war Max als einem Rothenburger nicht fremd und es hatte den in seiner Vaterstadt Vereinsamten schon wiederholt die Versuchung angewandelt, an Hutten anknüpfend, dem Ritter sein Herz zu erschließen. Jetzt gehorchte er diesem Drange. Den Brief trug er zu Langenberger, in dessen Gasthaus, dem Bären, sich am häufigsten Gelegenheit zur Beförderung zu finden pflegte. Noch gab es in Rothenburg keine Post.

Kaum wieder in seiner Schreibstube, erhielt Max den Besuch eines Mannes, der erst am Tage vor dem 79 Dreikönigsfeste in der Stadt eingetroffen und von dem an der Tafel des Herrn Erasmus viel gesprochen worden war. Manches davon hatte Max bereits von seinem Vater vernommen und verschlangen sich die Fäden zu einem Gewebe, wonach Ritter Stephan von Menzingen, einem turnierfähigen Geschlechte Schwabens entsprossen, zu Anfang des Jahrhunderts nach Rothenburg gekommen war, hier Margarethe, die Tochter des Ratsherrn Pröll geheiratet und das Bürgerrecht der Stadt erworben hatte. Bald darauf war er als Oberamtmann des nahen Städtchens Kreglingen an der Tauber in die Dienste des Markgrafen von Brandenburg getreten und hatte, als er nach wenigen Jahren aus dieser Stellung geschieden, das Schlößlein Reinsburg auf Rothenburger Gebiet erstanden. Dieser Kauf hatte zu Streitigkeiten mit dem Rate geführt. Denn Stephan von Menzingen hatte sich geweigert, die Steuer für Übertragung des Besitztitels von Reinsburg, die sogenannte Rekognitionssteuer, zu zahlen. Zur selben Zeit hatten die Kreglinger bei dem Reichskammergericht gegen Stephan von Menzingen wegen harter Bedrückung geklagt und dieser war zur Entschädigung verurteilt und Rothenburg mit der Exekution beauftragt worden. Das hatte um so mehr Öl ins Feuer gegossen, als dadurch der Verdacht bestätigt erschien, daß Ritter Stephan, dessen Vermögensverhältnisse bei seiner Ankunft keineswegs die glänzendsten gewesen, sich durch die Unterdrückung der Kreglinger bereichert hätte. Und Stephan von Menzingen war nicht der Mann, dergleichen geduldig hinzunehmen. Er ließ sich zu schweren Beleidigungen gegen einige der angesehensten Ratsherren hinreißen und als deshalb auf ihn gefahndet wurde, entwich er zu dem Herzoge Ulrich von Württemberg. Jetzt hatte der Rat ihm auf sein Ansuchen freies Geleit gewährt und er war zum Austrag seines Handels in der Stadt erschienen.

Haltung und Mienen des Ritters ließen klärlich 80 erkennen, daß das widrige Schicksal seinen Stolz nicht geschmälert hatte. Auch war sein dunkler Anzug, der sich dem spanischen Zuschnitt näherte, wie er unter der Regierung Karls V. in Deutschland Mode zu werden begann, von kostbarem vlämischen Tuche und darüber hatte er einen feinen Kamelotmantel geworfen. Die große Gestalt begann zur Fülle zu neigen und der Kopf saß auf einem starken, etwas kurzen Halse. Kurz gehaltenes schwarzes Haar streckte eine Spitze in die hohe runde Stirn vor, unter der dunkle Augen mit breiten Lidern sich ein wenig wölbten. Sinnlich geschnittene Lippen glühten zwischen dem gekräuselten Schnurr- und dem starken Knebelbarte. Max fühlte sich dem Besuche gegenüber anfänglich nicht ganz unbefangen, als ob er und nicht Stephan von Menzingen in einem üblen Leumund stände. Der Ritter ließ ihn über den Zweck seines Besuches nicht lange im Ungewissen.

»Ich hatte mir nicht vorgestellt, daß Ihr noch so jung wäret, Herr Doktor; denn mein Gang gilt dem Rechtskundigen«, sprach er mit einem kordialen Freimut. »Um so sicherer sind Eure Klienten, daß Ihr deren Sachen mit Eifer und Liebe betreiben werdet.«

»Vorausgesetzt, daß der Eifer von der Rechtskenntnis und Erfahrung nicht im Stiche gelassen wird«, bemerkte Max, indem er ihn zum Niedersitzen einlud.

»Kommen wir ohne Wortgefecht zur Sache«, nahm der Ritter wieder das Wort. »Bei einem Becher guten Weines, meiner Treu, da hab' ich es gern. Warum ich im freien Geleit der Stadt hierher zurückgekehrt bin, ist kein Staatsgeheimnis. Ihr wußtet es sicher, lieber Doktor? Wohl! Der Altbürgermeister und selbst der Stadtschreiber, Ehrenfried Kumpf und Thomas Zweifel, haben mich beide auf Euch verwiesen als den fürtrefflichsten Rechtsbeistand in meinen Händeln wider Rat und Reichsgericht, hauptsächlich wider letzteres. Der Kreglinger Prozeß muß revidiert, der Exekutionsschluß 81 aufgehoben werden. Wollet Ihr also meine Sache führen?«

Max zögerte. »Ich habe noch nicht durch Taten beweisen können, daß ich das große Zutrauen der beiden Herren und das Eurige verdiene, Herr Ritter«, wandte er ein.

»Meiner Treu, ich wage es darauf«, versicherte Herr Stephan mit einer Bewegung seiner Rechten, als wollte er alle Einwendungen zurückweisen. »Ihr werdet Euch aus meinen Papieren überzeugen, lieber Doktor, daß ich in Kreglingen nur nach meinen Instruktionen verfahren bin. Ihr wisset so gut wie ich, in welchem Grunde die Saugpumpen stecken, aus denen die Summen fließen, die auf Schloß Onolzbach verschlemmt werden. Der fürnehmste Befehl der Markgrafen lautete stets: Geld! Geld! und wiederum Geld! Ich will nicht leugnen, daß ich selbst damals meine Lage verschlimmerte. Wer vermag auch seinen ehrlichen Zorn zu bezwingen, wenn er wahrnimmt, daß die Gerechtigkeit zweierlei Maß hat? Wäre ich den großen Hansen versippt gewesen, ei, sie hätten die Rekognitionssteuer von mir nicht gefordert. Da ich ihnen das ins Gesicht sagte, hatte ich verspielt. Nichts mehr davon, es regt mir zu sehr die Galle auf! Jedenfalls aber hätte ich die Meinigen nicht nach Rothenburg mitgebracht, wenn ich der Gerechtigkeit meiner Sache nicht fest vertraute.«

»So will ich es denn versuchen, ihr zum Siege zu verhelfen«, entschied sich Max.

Stephan von Menzingen schüttelte ihm die Hand.

Auf dem Rathausturm wurde die elfte Stunde angeschlagen. Der Ritter erhob sich.

»Schon Mittag! Schade!« sagte er. »Ich hätte wohl gern noch dieses und jenes mit Euch besprochen, sind doch die Zeitläufte gar wunderlich kraus. Alte Freunde werden zu Todfeinden und alte Gegner reichen sich zu einem neuen Bunde die Hände. Wie wäre es, lieber 82 Doktor, wenn Ihr morgen mein bescheidenes Mittagsmahl teiltet? Ich bitte Euch, seid mein Gast!«

Max fand keinen stichhaltigen Grund, die Einladung abzulehnen. Lieber wäre es ihm gewesen, nicht eher in gesellschaftliche Beziehungen zu dem Ritter zu treten, als bis er sich aus dem Einblick in die Akten überzeugt hatte, daß die Bedrückung der Kreglinger ihm mit Unrecht zur Last gelegt wurde. Eines Schwereren konnte nach seiner Ansicht niemand bezichtigt werden.

Stephan von Menzingen wohnte am Hauptmarkte. Nach außen hinaus, über dem gewölbten weiten Flur lag das Speisezimmer, in das Max bei seinem Besuche gewiesen wurde. »Mein wackerer Lotse auf dem klippenreichen Meer des Rechts!« So stellte der Ritter seiner Gattin und Tochter, die bei seiner Flucht auf Schloß Reinsburg zurückgeblieben waren, den Gast etwas rednerisch vor. Über die Erscheinung der schlicht gekleideten Frau Margarethe von Menzingen war eine milde Würde ausgegossen. Das widrige Schicksal ihres Gatten und die langjährige Trennung von ihm hatten ihr von einer schwarzen Haube bedecktes Haar vor der Zeit mit silbernen Fäden durchwoben und ihre Augen den Blick geheimen Leids gelehrt; denselben Ursachen war es dann auch wohl zuzuschreiben, daß die veilchenblauen Augen ihrer etwa neunzehnjährigen Tochter ungewöhnlich ernst blickten und der jugendliche Frohsinn auf ihrer weißen, festgebildeten Stirn keinen Wohnsitz fand. Der Ernst erhöhte den Adel des feinen, in gesunden Farben blühenden Gesichts, um das sich, goldig überhaucht, eine Fülle kastanienbrauner Locken ringelte. Sie war nur von mittlerer Größe und die schlanke Gestalt von einem seegrünen Kleide mit rosa unterlegten Schlitzen umflossen, das über den feinen Hüften durch einen silbernen Gürtel zusammengehalten wurde. Dem Gruße des Gastes dankte sie weniger mit einer Neigung des kleinen Kopfes, als indem sie 83 flüchtig die Lider mit den langen Wimpern senkte. Kein Lächeln milderte dabei den Ernst ihrer Mienen.

»Und nun nehmet mit dem Wenigen fürlieb, Herr Doktor, was mein Haus zu bieten vermag«, lud Stephan von Menzingen zu Tische.

Das Wenige, was sein Haus zu bieten vermochte, bestand tatsächlich aus einer Reihe leckerer Gerichte und den feinsten Weinen, die der Ratskellermeister auf der Herren-Trinkstube schenkte. Herr Stephan aß und trank wie ein Feinschmecker und nötigte Max, fleißig zuzulangen. Dabei vernachlässigte er die Unterhaltung nicht; er war ein Mann von Geist, und die gute Mahlzeit schien nicht ohne Einfluß auf seine Laune zu sein. Max, der für die Freuden der Tafel wenig empfänglich war, weidete sich unterdessen in der Stille an der ernsten Schönheit des Mädchens, die wie ihre Mutter schweigend zuhörte. Der Ritter scherzte selbst über seinen Prozeß und knüpfte daran die Mitteilung, daß er in der Herberge zu Heilbronn dem ehemaligen Kanzler der Grafen von Hohenlohe begegnet wäre, der an den Markttagen dorthin zu kommen und auch sonst in den Städten umzureiten pflege, um den armen Leuten, denen von ihren Herren Unrecht geschehe, unentgeltlich Rat und Beistand zu gewähren. Damals hätte er sich auf dem Wege nach Nürnberg befunden, um vor dem Reichskammergericht die Rechte zweier armer Teufel gegen ihre gräflichen Tyrannen zu verteidigen.

»Aber das ist ein vortrefflicher Mann«, rief die Tochter mit einem Aufleuchten ihrer dunkelblauen Augen. »Es ist doppelt empörend, wenn der Mächtige dem Schwachen Unrecht tut!«

»Ich bin überzeugt, daß er den Prozeß gewinnen wird, wie wir den unserigen, Herr Doktor, und darauf bringe ich Euch diesen Trunk«, sprach ihr Vater.

»Das walte Gott«, sagte seine Gattin leise, während die Becher der beiden Männer aneinanderstießen.

»Die Herren täten übrigens klüglicher, nicht mit dem 84 Feuer zu spielen«, fuhr der Ritter fort. »Wir waren vorgestern von diesen Fenstern aus Zeugen eines Stückleins, daraus ich schließe, daß es, wie allerwärts, so auch unter hiesiger Bürger- und Bauernschaft gärt, ansonst würden sie den Übermut der Junker demütig über sich haben ergehen lassen.« Er warf dabei einen forschenden Blick auf den Gast, indem er die breiten Lider tiefer sinken ließ.

»O, es war abscheulich!« rief die Tochter und die Entrüstung tauchte das feine Gesicht in Purpur.

»Aber Else!« wurde sie von der Mutter leise gemahnt.

»Es war ein Beweis dafür, daß die Entrechtung sich stets an den Unterdrückern durch deren Verrohung rächt«, kam Max dem Mädchen zu Hilfe. »Die Herren werden zuletzt die Leibeigenen ihrer wüsten Leidenschaften und stürzen so ins Verderben.«

»Wohl, es dünket mich, daß auch das Regiment der Geschlechter nirgends sonderlich zu loben ist«, warf Stephan von Menzingen hin.

»Wir stehen an der Wende zu einer neuen Zeit, Herr Ritter«, antwortete Max. »Ich hoffe zu einer besseren, so jeder an seinem Teile dazu tut, wie es seine Pflicht erheischt.«

»Auch wir Frauen verspüren ihren Atem«, stimmte Frau von Menzingen ihm mit einem freundlichen Blicke zu. »Auch uns stellt sie eine höhere Aufgabe und jedenfalls ist sie zu ernst, als daß wir, anstatt uns im Helfen und Entsagen zu üben, unser Leben wie bisher in Nichtigkeiten vertändeln. Es würde mich demütigen und Else denkt ebenso, wenn wir uns als Drohnen auf der Welt wissen müßten.«

»Wohl, wohl«, setzte ihr Gatte ungewöhnlich scharf ein. »Doch darum braucht Ihr Euch von der Gesellschaft nicht abzuschließen, wie es Eure frühere Einsamkeit mit sich brachte. Wir dürfen es nicht, und Du, Else, magst es beherzigen, daß überhaupt nicht gelebt hat, wer in der 85 Jugend nicht gelebt hat. Wir nützen den Armen nichts, indem auch wir entbehren.«

Else schüttelte die Locken. »Aber ich begehre der Vergnügungen nicht«, versicherte sie. »Gewiß, ich entbehre nichts, nun wir wieder mit Euch, mein Herr Vater, vereinigt sind.«

»Und werden es bleiben, so hoffe ich zu Gott«, fügte die Mutter hinzu. »Es waren schwere Jahre der Heimsuchung!«

»Ja, sie sind für uns zu Ende«, sprach der Ritter. »Wir haben feurige Kohlen auf die Häupter derjenigen gesammelt, die sie über uns gebracht. Mögen sie ihnen nicht zu heiß werden!« Er lachte kurz und eigentümlich auf.

Als Max nach Tische sich verabschiedete, lud er ihn ein, sein Haus fortan als das seinige zu betrachten.

»Ihr werdet uns jederzeit willkommen sein«, fügte Frau von Menzingen freundlich hinzu, indem sie ihm die Hand gab, die er ehrfurchtsvoll an seine Lippen zog.

Auf den reizend geschwungenen Lippen Elses schien ein Lächeln erblühen zu wollen, als sie zu seinem Gruße den Lockenkopf neigte. Er ging mit einem Wohlgefühl davon, wie es seine Brust seit seiner Heimkehr aus Welschland nicht erfüllt hatte. 86 87



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