Robert Schweichel
Um die Freiheit
Robert Schweichel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Der Wächter auf dem Rathausturme hatte eben die neunte Abendstunde angeschlagen, als aus einem der ansehnlichen Häuser auf dem Kapellenplatz eine vermummte Gestalt trat. Sie hätte des Mantels und des über die Stirn herabgeschlagenen Barettrandes nicht bedurft, um unerkannt zu bleiben. Denn die Sterne, die wie Juwelen am klaren Winterhimmel leuchteten und funkelten, erhellten allein die Straßen, eine andere Beleuchtung besaß Rothenburg nicht und in den Erdgeschossen der Häuser waren überall die Fensterläden geschlossen. Nur selten brannte hinter denselben noch ein Licht. Die Stadt schlief bereits und der nächtliche Wanderer, der bei der Marienkapelle am oberen Ende des länglichen Platzes in die Stollengasse und weiter abwärts zur Rechten in die Rosengasse bog, begegnete keinem Menschen. Aus der Ferne nur klang der Schritt der Scharwache durch die Stille. Der Vermummte hielt sich auf der Straßenmitte, da an den Häusern vorspringende Stufen, Kellerhälse und Schweinekoben bedenkliche Hindernisse in der Dunkelheit boten. Auch war man an den Häusern vor plötzlichen Sturzbädern bedenklichster Art aus den Fenstern nicht sicher. Etwa in der Hälfte der Rosengasse wandte der Verhüllte sich links in die Hofstatt, an deren Ende ein Turm der Stadtmauer unheimlich zum 132 Sternenhimmel deutete. Vor einem schmalen Hause blieb er stehen und klopfte leise dreimal an den Fensterladen neben der Haustür. Gleich darauf ward diese ohne Geräusch geöffnet und ebenso hinter dem Eintretenden geschlossen.

»Ist er gekommen, Meister Etschlich?« fragte der späte Besuch mit gedämpfter Stimme im Flur, auf den ein Lichtschein aus einer öffenen Stubentür fiel.

»Ja, er kam zwischen Licht und Dunkel, Herr Altbürgermeister,« antwortete Kaspar Etschlichs Vater, den Gast erkennend, und holte aus der Stube die Kerze, die auf einem eisernen Leuchter brannte. Das Licht flackerte über derbe Züge, ähnlich denen des Sohnes, nur zeigte sich von dessen Humor in ihnen keine Spur. Meister Kilians großer Mund trug ein herbes Gepräge, und eine tiefe senkrechte Stirnfalte, welche die starken Brauen gegen die Nasenwurzel herunterdrückte, gab den Augen einen mürrischen Ausdruck.

»Wollet mir folgen, Herr Altbürgermeister,« so lud er diesen, der Treppe zuschreitend, ein.

»Er ist also noch nicht zur Ruhe gegangen?« fragte Herr Ehrenfried.

»Ich weiß nicht, ob er überhaupt Ruhe braucht.«

»Wie denn, Meister Kilian? Was meinet Ihr?«

Der Tuchscherer schüttelte nur stumm den Kopf. Er führte Ehrenfried Kumpf in das oberste Geschoß, wo er mit den Worten: »Tretet nur ein, ich hol' Euch nachher wieder ab!« eine Tür vor ihm öffnete und darauf sich entfernte.

Es war eine geräumige, doch niedrige Stube mit weiß getünchten Wänden, in die der Altbürgermeister trat. Ihre beiden Fenster, die auf den Hof hinausgingen, in dessen Gebäuden die Schergaden sich befanden, waren von innen durch Läden verstellt. Eine schmale Bettstelle, einige Strohstühle und ein großer Tisch von ungebeiztem Tannenholz bildeten die ganze Ausstattung des Gemaches. Der Bewohner desselben saß an dem 133 Tische und schrieb bei einer Lampe, deren Blechschirm das Licht auf einen engen Kreis beschränkte. Neben ihm auf dem Tische stand Eßgeschirr, dessen Inhalt kaum berührt schien, an der Seite lag ein Schwert in einer zerrissenen Scheide und ein vielgebrauchter Schlapphut. Das Kommen des Altbürgermeisters hatte er überhört; seine Gänsefeder knirschte weiter über das grobe Papier. Er unterbrach seine Beschäftigung erst, als Herr Ehrenfried, der ihn eine Weile still betrachtet hatte, an ihn die Worte richtete: »Das heiß' ich einen Feuereifer! Kaum in einiger Sicherheit, so greifet Ihr auch schon zur Feder. Ehrenfried Kumpf heißet Euch willkommen in Rothenburg, Herr Doktor!«

Nun warf jener die Feder weg, schlug den Lampenschirm in die Höhe und ergriff, aufspringend, lebhaft beide Hände des Besuchers. Es war ein kleiner dürrer Mann mit einem schwärzlichen Gesichte und dunklen, von innen heraus leuchtenden Augen. Gekleidet war er wie ein Bauer, in weißlichem Zwillich und Bundschuhen. »Ich habe zu lange feiern müssen und Eile tut not,« sagte er, die Hände des Altbürgermeisters festhaltend und zu ihm hinauf blickend. »Ich zwicke das sanftlebende Fleisch in Wittenberg. Ach, Thomas Münzer wird seine Freude daran haben, wann er es lieset, nicht minder die Freunde, so ich mir in Straßburg und Basel gewonnen habe. Möget Ihr etwa einen Blick hineintun?«

Er raffte die von ihm bereits beschriebenen Blätter zusammen, ordnete sie und gab sie Herrn Ehrenfried, der unterdessen Barett und Mantel abgelegt hatte.

»Ein Waffengang mit Luther in der Abendmahlsfrage?« rief der Gast und begann zu lesen.

»Ihr kennt sicher seine Schrift, darinnen er behauptet, daß der Wein und das Brot wirklich der Leib Christi seien,« sagte der kleine Doktor. »Darauf diene ich ihm, wie solcher Grobkörnigkeit gebührt. Daß ich für meine symbolische Auffassung der heiligen Handlung 134 auch Zwingli gewonnen habe, damit habe ich es jetzt vollends bei ihm verschüttet und er hält sich, wie er gestehet, gegen mich und meine Freunde alles für erlaubt. Er verschreit uns als aufrührerische Geister und schüret bei Fürsten und Obrigkeiten, daß sie uns des Lehramts entsetzen und aus dem Lande weisen. Es soll uns kein Ort bleiben, allwo wir ruhen und unsere Verteidigung gegen seine Verdächtigungen und Schmähungen, die seine ultima ratio sind, in Druck ausgehen lassen können. Ein römischer Ketzerrichter könnte diejenigen, so anderer Meinung sind denn er, nicht fanatischer verfolgen.«

Es war Dr. Karlstadt, so nach seinem unweit Würzburg gelegenen Geburtsort genannt, der diese schweren Anklagen erhob. Sein eigentlicher Name war Andreas Bodenstein. Selbst seine Gegner mußten von ihm einräumen, daß er an Wissen und Tiefsinn dem Reformator überlegen war, dem er als Dekan der theologischen Fakultät zu Wittenberg den Doktorhut gereicht hatte. Durch die Unduldsamkeit des »Gottesmanns« aus Sachsen vertrieben, war Dr. Karlstadt zunächst nach dem Oberrhein gewandert, wo sich auch Thomas Münzer, Bucer und andere von den Kanzeln und Lehrstühlen Verscheuchte aufhielten. Als er von dort seiner ostfränkischen Heimat sich zuwendete, ließ der Markgraf Kasimir auf ihn fahnden. Valentin Ickelsamer jedoch, dem lateinischen Schulmeister zu Rothenburg, der in Wittenberg zu seinen bedeutendsten Schülern gehört und die Universität nach seiner Austreibung verlassen hatte, war es, dank seinen Beziehungen zu Dr. Deutschlin, dem Altbürgermeister und anderen Gesinnungsgenossen gelungen, den Flüchtling in die Stadt zu schmuggeln. Die Wache am Rödertor, in dessen Nähe der Tuchscherer wohnte, mochte den kleinen, bäuerlich gekleideten Mann gar nicht beachtet haben, da der lateinische Schulmeister allgemein bekannt war und man wußte, daß er aus dem Dorfe 135 Ohrenbach gebürtig war, also bäuerliche Verwandte besaß.

Dr. Karlstadt hatte laut Verabredung seinen ehemaligen Schüler vor dem Tore in einer Herberge erwartet, in welcher die von Augsburg nach Würzburg ziehenden Frachtfuhrleute einzukehren pflegten. Seine Bauerntracht war übrigens keine Maske, wie das Junkerkleid Luthers auf der Wartburg. Schon ehe letzterer von dort zurückgekehrt war, hatte Karlstadt in Wittenberg gelehrt, daß ein Handwerk treiben besser als Gottesgelahrtheit sei; die Doktoren und Magister derselben seien ein Greuel; die Jugend sollte die Hochschulen, die Mönche die Klöster verlassen und entweder ein Handwerk erlernen oder wie Adam die Erde aufgraben. Er selbst war mit seinem Beispiel vorausgegangen, hatte auf dem Gute seines Schwiegervaters zur Karst gegriffen und nannte sich Nachbar Andreas.

Seine Äußerungen hatten Herrn Ehrenfried augenblicklich lebhafter interessiert als die noch unvollendete Schrift. »Es schmerzet mich,« seufzte er und legte die Blätter wieder aus der Hand, »daß dieser hochverehrte Mann sich selbst nunmehr auf den Papst hinausspielt und danach trachtet, die kaum befreite Vernunft wiederum in Fesseln zu schlagen.«

»Auch ich habe ihn um seiner großen Gabe willen wie keinen geschätzt,« versicherte Dr. Karlstadt. »Durch die Hölle wäre ich für ihn gegangen, und Ihr wisset, werter Gönner, daß deren Fürst ihm viel zu schaffen gemacht hat. Aber den wahren Teufel, so in der Einsamkeit der Wartburg Macht über ihn gewann und ihn zu Fall gebracht hat, den hat er leider nicht erkannt. Das ist der Teufel der Eitelkeit, der ihn glauben machet, seitdem er zu Worms vor den Fürsten und Ständen des Reichs stand, daß die Reformation einzig aus seinem Kopfe entstanden sei, als wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus geboren wurde. Er maßet sich an, daß er unfehlbar sei und daß Gott einzig 136 und allein durch seinen Mund spreche. Er ist unstreitig ein kühner Mann und von der Leidenschaft durchglühet, ohne welches nichts Großes unternommen wird. Allein der Böse trübet seinen Geist, und seinem Blick gebricht die Helle und Weite, deren es bedarf, um die Reformation zum Siege zu führen, Und jetzt hat der Teufel ihm also den Nacken gesteifet, daß er die Protestanten lieber in zwei Parteien auseinander reißt, als daß er von seinem Irrtum in der Abendmahlslehre weichet und die Hand fasset, die ihm Zwingli zur Verständigung bietet.«

»Da sei Gott für,« rief der Altbürgermeister betroffen. Der Flüchtling aber fragte:

»Ja, was meint Ihr wohl, warum er zornentbrannt von der Wartburg dahergestoben kam, als ich in Wittenberg die Ohrenbeichte aufhob, die Messe abschaffte und das Abendmahl in zweierlei Gestalten reichte?«

»Und die Heiligenbilder aus dem Dom getan hattet,« ergänzte Ehrenfried Kumpf.

»Das geschah ohne mein Zutun,« versicherte der Doktor.

»Aber es geschah mit Recht, daß man die Götzenbilder ausschaffte,« rief der Altbürgermeister. »Warum er alles wieder in den vorigen Stand setzte und sogar die Kutte wieder anlegte, anstatt das Tuch zwischen sich und Rom vollends zu zerschneiden, das hat keiner begriffen. Ihr hattet doch im Geiste der Reformation gehandelt.«

»Auch bestritt er die Folgerichtigkeit meines Fürnehmens nicht und konnte es nicht,« erklärte Dr. Karlstadt. »Es sollte aber alles und jedes nur durch ihn geschehen, das war es. Das war der Wendepunkt in seinem Leben. Da fing er an, Sammetpfoten nach oben zu machen und uns, die wir unsere Vernunft nicht von ihm verstricken ließen, die Krallen zu zeigen.«

Ehrenfried Kumpf schwieg nachdenklich eine Weile, 137 dann sagte er: »Verwunderlich ist nur, daß die Fürsten seiner Unduldsamkeit zu willen sind. Sie müssen ein gar kurzes Gedächtnis haben. Hat er doch geschrieben, daß sie durch das Wort Gottes scheitern gehen werden.«

Die dünnen Lippen des Gelehrten verzogen sich zu einem bitteren Lachen. »Er wird es schon wettzumachen wissen, verlasset Euch darauf! Er schenkt den Fürsten Klöster- und Kirchengüter, da sind sie mit ihm zufrieden.«

»Hm, unser Rat wäre es wohl auch zufrieden, die Hand auf das Vermögen der geistlichen Stifte unserer Stadt zu legen,« wiegte Ehrenfried Kumpf den Kopf. »Da sind die Dominikanerinnen, die grauen Schwestern, die Franziskaner samt ihren Schwester- und Brüderhäusern, die Deutsch-Ordensherren und Johanniter, und ist ein ewig Schellen und Klingeln, Plärren und Bittgehen, so daß man aus der Haut fahren möchte. Aber unsere Geschlechter fürchten, so sie den Sturm entfachen, daß er sie hinwegfegt mitsammen dem Alten, darein sie ihre Wurzeln haben. Sie haben gegen die Bürgerschaft kein rein Gewissen. Und weil der Doktor Deutschlin bei dem Judenrummel bewiesen, was er Macht hat über die Gemüter, so wagt es wiederum der Innere Rat nicht, obwohl ihn der Äußere dazu ermächtigt hat, den Reformator auszuschaffen. Wenn mich nicht alles täuscht, so sind geheime Zettelungen mit Würzburg im Wege, und der Rat läßt dem Doktor die Zügel, weil er hoffet, durch den bischöflichen Stuhl von seiner Furcht befreit zu werden.«

»Stehet es also«, rief Dr. Karlstadt lebhaft, »dann werden wir um so leichter den Widerstand des Rates brechen. Schaffet daher, werter Freund, daß ich in der Stadt zum Worte gelange! Ihr wisset, daß es mir ebenso wenig wie Euch darum ist, dem Kaiser vorzuenthalten, was des Kaisers ist. Ich bin kein Politikus. Nur darum, daß den dürstenden Seelen der lautere und starke Wein 138 des Evangeliums unverwässert durch den abfälligen Mann in Wittenberg geschenkt werde.«

Der Oberbürgermeister machte jedoch ein bedenkliches Gesicht. »Das wird schwer angänglich sein. Denn ich will Euch nicht hehlen, lieber Doktor, daß man Euren Feuerkopf noch mehr fürchtet als den Deutschlins. Es ist Euch wohl nicht fremd geblieben, wie man Euch nach den Anfangsbuchstaben Eures Namens heißet?«

»Freilich nicht,« zuckte der Gast mit einem Lächeln die Schultern, »sie nennen mich das böse ABC.«

»Wir müssen daher auf eine Gelegenheit passen, um sie das ABC zu lehren,« lächelte auch Herr Ehrenfried. »Verlasset Euch darauf, daß ich Eures Wunsches nicht müßig gehen werde. Derweilen schreibet Ihr Euer Büchlein fertig; einen Drucker für selbiges schaffe ich Euch.«

»Eilet, dränget, werter Freund und Gönner, damit uns inzwischen ein so gewaltiger Mitstreiter wie Dr. Deutschlin nicht verlustig gehe,« rief der kleine, schwarzbraune Mann eifrig. »Die Freunde in Oberschwaben, an der Donau, im Schwarzwalde und die Sendboten Nürnbergs rufen alle Völker zum gemeinsamen Kampfe auf wider Rom. Tun wir auch unsere Schuldigkeit! Als ich in dem Wirtshause vor dem Rödertor auf Ickelsamer wartete, siehe, da kamen sie vorübergestoben, die Geschlechter der Stadt, mit Peitschengeknall und Schellengeklinge, in all ihrer Üppigkeit. Es war wohl niemand darunter, der sich besonnen hätte, daß es der Fleiß der Armen ist, der sie in Sammet und Atlas kleidet, und daß es ihr Schweiß ist, der sie wohlriechend macht. Rom lässet sie ins Verderben taumeln, obgleich es in der Apostelgeschichte heißet: ›Es war aber keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wie viele ihrer waren, die da Äcker oder Häuser hatten, verkauften sie dieselben und brachten das Geld des verkauften Gutes und legten es zu der Apostel Füßen; und man gab jeglichem, was ihm not war.‹ Ja, werter Gönner, das ist die einzige 139 Rettung der Menschheit, daß die christliche Kirche zu ihrem Ursprunge zurückkehrt.«

Von seiner lebhaften Einbildungskraft fortgerissen, verlor er sich in Schilderungen eines goldenen Zeitalters, das mit dieser Rückkehr beginnen müßte. Es waren Visionen eines mystischen Tiefsinnes, wie die Propheten Jesaias und Daniel ihrem unterjochten Volke sie ausmalten von einem durch Gott errichteten Königreiche, das ewiglich bleiben würde. Ehrenfried Kumpf vermochte ihn wohl kaum ganz zu erfassen, geschweige Kilian Etschlich, der darüber in die Stube kam, wo er sich still in eine Ecke setzte und zuhörte. Erst nachdem Dr. Karlstadt schon eine Weile verstummt war, erhob sich der Altbürgermeister, dessen Augen von jugendlicher Begeisterung glühten. »Ja, der Sieg kann uns nicht entgehen,« sagte er und reichte dem Bruder Andres die Hand. »Doch nun pfleget der Ruhe, werter Freund! Das nächste Mal führe ich Euch unsere Mitstreiter zu, den Deutschlin, den Kommentur, den blinden Mönch.«

»Sie werden mir hoch willkommen sein«, versicherte der Doktor warm.

»Meister«, sprach Ehrenfried Kumpf zu dem Tuchscherer, der ihm die Treppen hinunterleuchtete, »ich brauche Euch die Sicherheit Eures Gastes nicht zu empfehlen, Ihr wisset, wie es darum steht. Aber lasset Euch auch sein leiblich Wohl angelegen sein. Er selbst achtet dessen nicht.«

»Darob entschlaget Euch nur der Sorgen«, beruhigte Meister Etschlich ihn. »Hab' schon selber gemerkt, wie es in dem Ding mit ihm beschaffen ist. Aber nichts für ungut, Herr Kumpf; die Verheißungen des Doktors könnten mir schon gefallen; jedennoch halte ich dafür, daß die Feder keinen umbringt.«

»Aber die Feder verbreitet die Wahrheit, und an der Wahrheit blutet die Lüge sich zu Tode.«

Meister Kilian schüttelte den Kopf. »Das ist ein 140 langsamer Tod, wenn einen die Lüge bedrängt. Derweilen erschlägt die Gewalt das Recht. Warum will der Doktor warten, bis ihm ein Rat zu predigen erlaubt? Laßt ihn sich auf die Gassen stellen! Wenn er recht zu predigen weiß, die Bürgerschaft wird ihn schützen, wie den blinden Mönch.«

»Keine Gewaltsamkeiten, Meister«, warnte Herr Ehrenfried. »Die lautere Wahrheit des Evangeliums wird den zähen Widerstand der Römlinge wie Wachs am Feuer schmelzen.«

»Ich bin kein Gewaltmensch«, widersprach jener. »Wie aber nennet Ihr's, Herr Altbürgermeister, daß der Doktor im Elend umirren muß von wegen seinem Glauben? Ist das auch Rechtens, daß einer deswegen verfolgt wird? Der lateinische Schulmeister hat mir alles erzählt. Mein Weib – Gott hab' es selig! – war wie er aus Ohrenbach, daher kenn' ich ihn. Was hilft mir mein Glauben, wenn ich ihn nicht bekennen darf? Was hilft mir ein Recht, wenn ich's nicht kriegen kann? Was hilft da alle Geduld und alles Warten?«

Sie waren mittlerweile im untern Hausflur angekommen und der Altbürgermeister fragte, indem er stehen blieb, mit Teilnahme: »So, ist die alte Wunde immer noch nicht geheilt? Ihr seid doch heute ein Mann, der gut im Stande ist.«

Das derbe Gesicht des Tuchscherers schaute unfreundlicher als vorher und tiefer drückte die Stirnfalte seine Brauen herab, als er antwortete: »Das Geld hab' ich längst verschmerzt, aber nicht das schreiende Unrecht, so mir geschehen ist. Das grimmt fort und fort. Von meinem Recht lass' ich nimmer, es mag biegen oder brechen.«

»Ein verständiger Mann muß sich in die Verhältnisse schicken, die er nicht zu ändern vermag«, hielt ihm der Altbürgermeister vor. »Ihr verhätschelt Euern Groll wie ein krankes Kind und macht es dadurch erst recht krank.« 141

»Ich will mein Recht«, murrte Kilian verstockt und schloß die Haustür auf.

Herr Ehrenfried legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach eindringlich: »Der Stadt Wohl hat auch Rechte an Euch. Begrabet die Vergangenheit und gesundet! Gute Nacht, Meister!« Er schritt in die Dunkelheit hinaus.

Die Mahnung blieb auf Kilian Etschlich wirkungslos. Sein Leben war ihm durch die erlittene Ungerechtigkeit vergällt. Immer nur darüber bei seinen Webstühlen grübelnd, war er fast menschenscheu geworden. Nun berührte es in neuester Zeit den wunden Fleck wieder schmerzhafter, daß er überzeugt war, der Rat werde die Exekution gegen Stephan von Menzingen eben so wenig ausführen, wie die gegen das Geschlecht der Trüb. Er selbst hatte ihn eines Tages so stolz durch die Gassen schreiten sehen, als gebiete er über die ganze Welt.

Einige Tage später kamen in der Dämmerstunde einige Bekannte zu ihm, die in dem Roten Hahnen auf der Schmiedgasse, St. Johannis gegenüber, bei dem Vespertrunk sich zusammengefunden hatten. Der Rote Hahnen, dessen Wirt Hans Krätzer die Schwester des langen Lienhart zur Frau hatte, war die Trinkstube der Bürger. Es waren drei in ihren Zünften etwas geltende Meister, die den Tuchscherer in seinem Hause aufsuchten. Kaum in der Stube und während Kaspar die Schnabellampe auf dem schweren Eichentisch anzündete, so rief schon der bewegliche Meister Lorenz Diem von den Kürschnern, indem er selbst lachte: »Heut kannst Du lachen, Etschlich –«

»Denn der Rosenberg und der Finsterlohr haben den Rat mit derselben Münze bezahlt, wie er Dich!« fiel ihm der Schuster Melchior Mader mit einer knarrenden Stimme in die Rede. Mit seiner großen Nase und der hohen, breiten Stirn, unter der die Augen wie in 142 sich gekehrt schauten, hätte man den Meister für einen Gelehrten halten können.

»Ist halt wahr, Du kannst lachen«, bestätigte der dritte Gast, der in seinem gedrungenen, kraftstrotzenden Gliederbau wie ein Herkules unter den anderen erschien. Der Metzgermeister Fritz Dalk war wegen seiner Stärke in ganz Rothenburg bekannt.

»Aber was gibt's denn?« fragte Kilian Etschlich, den Besuch der Reihe nach anblickend. »Doch setzet Euch, und einen Trunk werdet Ihr hoffentlich auch nicht verschmähen.«

»Nie«, versicherte Fritz Dalk, obwohl sie eben vom Wein kamen, und Kaspar verschwand mit einem dickbäuchigen Krug im Keller, nachdem er zuvor die Fensterläden geschlossen hatte.

»Er weiß wirklich noch nichts«, verwunderte sich der geschmeidig schlanke Kürschner Lorenz Diem.

»Nämlich der Ratsbote ist seit einer guten Stund' herein«, erklärte Melchior Mader. »Und jetzt lärmt und rumort es auf dem Markt und in den Schenken. Die Stadt darf den Schimpf nit auf sich sitzen lassen; der Rat soll die Rüstkammern der Zunfthäuser öffnen. Im Roten Hahnen fing einer sogar das alte Kriegslied zu krächzen an von dazumalen, als die Stadt gegen den Wilhelm von Elem und seine adeligen Raubgesellen auf Ingolstadt auszog.«

»Ein Schneider war's; aber mehr als den Anfang wußte er nicht«, lachte Lorenz Diem. »Nu also! Der Rat hatte den Fingerling ausgeschickt, daß er von den beiden Junkern Strafe und Schadenersatz von wegen dem Rummel am Dreikönigstag einziehen sollte. Der Fingerling als ein kluger Hahn, der er ist, klopft zuerst in Laudenbach an. Der Junker Philipp aber nimmt das Mandat garnicht an, sondern lacht ihm ins Gesicht und höhnt, daß er dem wohlweisen Rat einen Gulden zur Verehrung geben wolle, wenn er ihm die Dirn des Seilschwimmers auf die Burg schicken wolle.« 143 Fritz Dalk, der Metzger, schlug ein etwas fettklingendes Lachen auf, so daß sein dickes, schon von Natur rotes Gesicht wie ein Feuerbrand loderte.

Kaspar hatte unterdessen Wein und Becher gebracht und eingeschenkt. Der Kürschner feuchtete sich die Lippen an und fuhr fort: »Der wilde Zeisolf auf Haltenbergstedten nimmt das Mandat zwar, aber er zerreißt es und wirft dem Fingerling die Fetzen ins Gesicht und läßt ihn mit den Hunden vom Hof hetzen. Die haben ihn übel zugerichtet und der Junker und die Knechte lachten hinter ihm her wie die Teufel, sagt er.«

Kilian Etschlich, der mit der größten Spannung zugehört hatte, stieß ein langgezogenes dreimaliges »A!« aus. »Und jetzt?« fragte er.

Der Metzger Dalk hob mit einer kehlenden Stimme zu singen an und es klang greulich:

»An einem Sonntag es geschah,
Daß man das Panner ausziehn sah
Zu Rothenburg aus den Mauern.
Sie zogen über die Landwehr hinaus,
Die Bürger und die Bauern.«

Lachend brach er ab und Kaspar bemerkte trocken: »Heut würden sie schwerlich auch nur so weit kommen.«

»Es wär' auch gefehlt, wenn's die Stadt wollte«, sprach Melchior Mader, der Schuhmacher. »Sie würde sich den Schwäbischen Bund auf den Hals ziehen. Die beiden Junker sind reichsunmittelbar. Der Rat müßte beim Reichsgericht wider sie klagen.«

Der Tuchscherer schlug eine höhnische Lache auf. »Ich weiß an mir, was dabei herauskommt«, rief er. »Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus. Nur dem Schwachen weist der Rat die Zähne; der Bürger mag tausendmal im Recht sein wider die Ehrbaren, den zertritt er. Jetzt haben es die günstigen lieben Herren an sich selbst erfahren, wie's tut, und ich will lachen, lachen.« 144

Er wiederholte sein Hohngelächter.

»Ja, dennoch ist's und bleibt's ein Schimpf für die Stadt«, knarrte der Schuster.

»Und was mir geschehen ist, ist kein Schimpf für die Stadt?« zischte der Tuchscherer.

»Beim Teufel, das ist's«, rief Fritz Dalk und schlug mit seiner gewaltigen Faust auf den Tisch. »Der Rat ist selbst schuld, daß er was abgekriegt hat. Hätt' er am Dreikönigstag die Junker aus dem Kloster herausgreifen lassen, so wär's nit dazu gekommen.«

»Und überhaupt die Klöster und Stifte«, sprach Melchior Mader. »Sie genießen von allem, was wir Bürger mit unserem sauern Schweiß zu der Stadt Bestem schaffen; aber sie tragen keinen Heller dazu bei. Sie müssen zu den Steuern und Lasten herangezogen werden.«

»Wahr, wahr«, stimmte der lebhafte Lorenz Diem ihm bei. »Aber was brauchen wir denn die Klöster und Stifte? Meines Dafürhaltens sollten sie als unnutz und schädlich abgetan werden.«

»Und wer hindert's, wenn nicht der Rat?« fragte Kilian Etschlich. »Wer ändert's, daß ich mit meinem Recht auf den St. Nimmerleinstag warten muß, wie mein Neffe sagt, was der Dorfmeister in Ohrenbach ist?«

»Und zu dem Schimpf haben wir den Spott, daß wir Rothenburger mit dem neuen Glauben hinter den anderen freien Reichstädten nachhinken«, bemerkte der Kürschner.

»Und anderwärts sitzen auch die Zünfte im Rat«, fügte Melchior Mader hinzu.

»Und ich sag', daß der jetzige Rat den Teufel zu was taugt«, rief Fritz Dalk mit seiner dicken Stimme.

Unterdessen wurde dreimal leise an den Fensterladen geklopft. Die anderen achteten es in ihrem eifrigen Gespräch nicht. Kilian Etschlich zündete ein Licht an der Schnabellampe an und ging, um zu öffnen. 145 Seit dem heimlichen Besuch des Altbürgermeisters hatte sich das Zeichen alle Abende vernehmen lassen; denn Herr Ehrenfried hatte seinem Versprechen gemäß Dr. Deutschlin, den Kommentur und andere Freunde der Reformation zu Karlstadt geführt. Der jetzt vorsichtig Eingelassene erregte Kilians höchstes Befremden; denn er erkannte in ihm den Ritter Stephan von Menzingen. Schweigend wollte er ihm zur Stiege leuchten; der Ritter hielt ihn jedoch mit den Worten zurück: »Ihr habt Freunde in Eurer Stube. Ich vernahm auf der Gasse ihr Reden. Ich mußte es hören, denn sie sprachen gar zu laut. Ihr solltet vorsichtiger sein, Meister! Habet Ihr keine Hinterstube?«

Kilian sah betroffen zu ihm auf; dann murrte er: »Wir haben nichts Heimliches!«

»Natürlich nicht; Ihr könnet es ja auch am lichten Tag auf dem Markt ausrufen, daß der jetzige Rat den Teufel zu was taugt«, versetzte Herr Stephan mit einem leisen Lachen.

»Ist's ein Wunder nach dem, was heut geschehen ist? – Kommt!«

Der Ritter hielt ihn aber noch zurück. »Es eilt nicht, Meister. Mich wundert's nicht nach dem, was Euch von dem Rat geschehen ist. Es ist arg, meiner Treu, es ist arg. Das heißt altes Unrecht zu einem neuen machen, der Altbürgermeister hat es mir erzählt. Wahrhaftig, es ist arg. Aber Ihr starret mich an, als ob ich Chaldäisch spreche. Sollte Ehrenfried Kumpf es Euch aus Mitleid verschwiegen haben? Ihr wisset also wirklich nicht, daß er Eure Sache kürzlich wieder im Inneren Rat zur Sprache gebracht und daß der Rat sie für alle Zeit als abgetan erklärt hat?«

Es rang sich wie ein Röcheln aus der Brust des Tuchscherers und sein Gesicht nahm eine grünliche Blässe an.

»Fasset Euch, Meister«, ermahnte ihn Stephan von Menzingen. »Ich hab's an mir so gut wie Ihr erfahren, 146 daß der Rat doppelt Maß führt und ich dachte, Ihr berietet mit Euren Freunden, wie Ihr zu Eurem Rechte gelangen möget. Vielleicht, daß Euch mein Rat nützen könnte.«

Kilian Etschlich schien ihn gar nicht gehört zu haben. Seine Betäubung bewies, daß er die Hoffnung, doch noch zu seinem Rechte zu gelangen, bisher nicht völlig aufgegeben. Nun geschah ihm, wie einem Schiffe, dessen letztes Ankertau im Sturm reißt und das damit zum Spielball der empörten Elemente wird. Plötzlich fuhr ihm das Wort des Altbürgermeisters wie ein Blitz durch den Kopf und er wiederholte mit grimmem Hohn: »Keine Gewalttätigkeiten!« Darüber besann er sich auf sich selbst. Mit einem tiefen Atemzuge sagte er: »Nein, davon wußte ich noch nicht. Wenn Ihr es nicht verschmäht, Herr Ritter, so geringen Leuten, wie wir es sind, mit Eurer großen Erfahrung zu raten –«

»Ohne Umstände, Meister«, unterbrach ihn von Menzingen. »Den Bruder Andreas besuche ich ein ander Mal. Gehen wir zu Euren Freunden! Dem Rate hold und gewärtig zu sein, habe ich ebensowenig Ursache wie Ihr.«

Die Unterhaltung der Meister brach jäh ab und sie schauten mit großen Augen auf den vornehmen Gast, den Kilian mitbrachte. Der Ritter bot ihnen in biederer Weise die Zeit und nahm bei ihnen am Tische Platz wie unter seinesgleichen. Der Tuchscherer holte aus dem Schrank einen silbernen Becher, den er einst bei einem Vogelschießen auf dem Brühl vor dem Rödertor gewonnen, und brachte damit dem Gaste den Willkommen. Stephan von Menzingen tat ihm tapfer Bescheid, trotzdem der Krätzer seinem verwöhnten Gaumen gar sehr widerstand. »Verzeiht, ehrenwerte Meister, daß ich Euch unsern Wirt so lange vorenthielt«, sagte er darauf. »Wie ich vernehme, ratschlagt Ihr, das gesunkene Ansehen der Stadt durch Abtun alten Unrechts wieder zu heben.« 147

Melchior Mader, der Schuster, ergriff zuerst das Wort. Er räusperte sich und sprach gemessen: »Dieses ist in der Tat unseres Fürnehmens, gnädiger Herr. Wir sind des Sinnes, daß Recht Recht bleiben muß, ansonst Treu' und Redlichkeit dahin fahren würden –«

»Zum Teufel«, ergänzte die dicke Stimme des Metzgers.

»Denn wir sind das Gemeinwesen«, fügte Lorenz Diem hinzu, »und tragen alle Lasten, während dem daß die Ehrbaren wie die Motten im Pelz leben.«

»Also klopf' sie heraus, Kürschner«, äußerte Kaspar, der, des Schenkenamtes waltend, hinter den Stühlen stand, halblaut.

Unter dem Lachen, das darüber entstand, bemächtigte Melchior Mader sich wieder der Rede. »Die Ehrbaren allein sind's nicht; wir Bürger sind also beschweret, daß wir vor Junkern und Pfaffen nimmer genesen mögen. Gewerb' und Handel können vor ihnen nit aufkommen.«

»Sie schöpfen von allem das Fett ab«, rief Fritz Dalk.

»Das ist leider wahr«, bestätigte der Ritter. »Doch davon reden wir wohl noch später ein Ausführliches. Zuerst fragt es sich, wie wir der Redlichkeit zu dem vorenthaltenen Recht verhelfen?«

»Es geht halt eines mit dem anderen«, sagte der Kürschner Lorenz Diem.

»Hätten die Zünfte Sitz und Stimme im großen Rat«, begann der Metzger Fritz Dalk und der Schuster vollendete: »Ja, das ist's, es ist alles ein Draht, auch das mit den geistlichen Häusern.«

»Und warum sind die Zünfte nicht im Rat vertreten, Ihr werten Meister?« fragte Stephan von Menzingen, indem er mit seinen breitgeliderten Augen die am Tische Sitzenden musterte.

»Ist halt eine harte Nuß!« meinte der stiernackige Dalk.

»Ich will sie an Eurer Statt knacken, Meister!« 148 antwortete Ritter Stephan. »Die Zünfte haben sich von den Ehrbaren hinausdrängen lassen, denn sie haben früher im Äußeren Rat gesessen.«

Die Meister schüttelten mit ungläubiger Verwunderung, selbst mit Mißtrauen die Köpfe. Sie hatten nie etwas davon gehört. »Dennoch ist es so«, versicherte Herr Stephan. »Anno 1450 ist es gewesen, also noch nicht gar so lange her. Just so, wie Ihr vorhin sagtet, Meister Mader, so fühlten sich damals Bürgerschaft und Hintersassen von den Geschlechtern bedrückt, daß sie sich wider deren Herrschaft mit Gewalt erhoben, und sie zwangen, den Zünften Sitz und Stimme im Äußeren Rat einzuräumen. Der Pakt, so damals von beiden Parteien geschlossen wurde, liegt im Archiv des Rathauses.«

Mit angehaltenem Atem horchten die Meister auf und ihre Augen hingen noch an dem Munde des Ritters, als er schon schwieg. Dann schauten sie einander an und es herrschte eine Stille, daß man das Bohren des Holzwurmes in dem Deckengebälk vernahm. Stephan von Menzingen weidete sich eine kleine Weile an ihrer Verzauberung, worauf er mit einem Anhauch von Geringschätzung bemerkte: »Damals hatte die Bürgerschaft noch Mark in den Knochen, von den Kriegen der Städte gegen den Landadel. Der Frieden hat's verzehrt.«

»Oho!« rief Fritz Dalk, und wies seine gewaltigen Metzgerfäuste.

»Um so besser, wenn ich mich irre, lieber Meister«, begütigte Herr Stephan. »Meiner Treu«, fuhr er fort und drehte seinen Schnauzbart in die Höhe, »hätten Eure Großväter und Väter besser acht gehabt, der Rat hätte dem Meister Etschlich nicht mitspielen können, wie es geschehen ist.«

»Ja, wie soll einer das jetzt verstehen? Es klingt halt wie ein Märlein«, rief Lorenz Diem und fuhr sich mit beiden Händen in das Stirnhaar, das in einem 149 geraden Strich über den Augen verschnitten war.

»Das ist so schwer just nicht«, antwortete Herr Stephan. »Die Bürgerschaft vermeinte, daß mit ihrem Siege über die Geschlechter halt alles abgetan sei, hatte sie doch ihr Recht verbrieft und feierlich beschworen. Was meinet Ihr, Meister Etschlich, daß ein Recht auf dem Papier wert ist, so Euch die Macht fehlt, es zu behaupten?« Kilian Etschlich machte eine zornige Gebärde. Der Ritter fuhr fort: »Nun, die Bürger kehrten zu ihrer Arbeit zurück, schafften und verdienten, und schlugen ihr eigenes Wohl höher an, als das Gemeinwohl. Verstanden auch wohl nicht viel von den öffentlichen Geschäften und waren froh, daß die Ehrbaren ihnen die Scherereien abnahmen. Merkten nicht, wie sie durch deren Praktiken und Listen allmählich beiseite geschoben wurden. Witterte dieser oder jener auch einmal Unrat, so war's itzt zu spät und unter der Bürgerschaft keine Einheit. Auf solche Art ist die Verfassung damals in Vergessenheit geraten.«

»Ist sie in Vergessenheit geraten, so müssen Rat und Bürgerschaft halt wieder daran erinnert werden«, rief der Kürschner mit glühendem Gesicht.

»Und das mit Nachdruck«, schnob Fritz Dalk und hieb mit seiner herkulischen Faust auf den Tisch, daß es krachte.

»Wenn die Bürgerschaft ihr verbrieftes Recht mit Nachdruck zurückfordert, dann wird es ihr nicht entstehen, des bin ich gewiß«, nickte Stephan von Menzingen den Meistern zu. »Dann wird auch Meister Etschlich zu seinem Recht gelangen, und an den Zünften wird es sein, die mancherlei Übelstände, an denen das Junkerregiment leidet, auf dem Wege Rechtens abzustellen. Bei Gott, die Mißwirtschaft des Rates währet schon allzu lange, und mir läuft die Galle über, so ich's bedenke.«

Die in Hitze geratenen Meister redeten und schrien 150 durcheinander und Kaspar schenkte ihnen fleißig ein. Nur Kilian Etschlich sprach kein Wort, aber in seinen Augen leuchtete es.

»Es ist spät geworden und wir reden darüber ein andermal wohl ein mehreres«, erhob Stephan von Menzingen seine Stimme. »Wie wäre es, Meister Etschlich, wenn Ihr uns eine Stube gönntet, etwa nach dem Hof hinaus?«

»Es soll gelten«, willigte dieser entschlossen ein.

»Nun dann, am blauen Montag nächster Woche, wenn es den ehrenfesten Meistern recht ist«, schlug der Ritter vor.

Sie waren damit einverstanden.

»Diese Stube ist ohnehin zu klein; denn es hat manchen in der Bürgerschaft, der unseres Sinnes ist«, äußerte Melchior Mader.

»Also, behüt' Euch Gott, liebe Freunde«, winkte der Ritter von Menzingen den Meistern vertraulich zu und griff nach Hut und Mantel. »Ich bin Euch gern mit meinem Rat zu Diensten.« Meister Kilian begleitete ihn bis zur Haustüre. »Jetzt ist mir nimmer bang um mein Recht«, sagte er dabei.

Ein hohler Westwind schnob durch die Nacht und wälzte die Wolken, zwischen denen nur selten ein Stern hindurchblickte, vor sich her. Die Wetterfahnen auf den Dächern und die Schilder an den in die Straße sich vorstreckenden Eisenstangen knarrten und kreischten. »Wartet nur«, dachte der Ritter, indem er, den Mantel fester um sich ziehend, die Rödergasse hinaufschritt, »über ein kleines wird ein stärkerer daherbrausen und die ganze morsche Herrlichkeit durch die Luft wirbeln!« Plötzlich blieb er aufhorchend stehen. Der Wind trug ihm ein wüstes Gelärm zu, in dem er das Klirren von Eisen zu unterscheiden glaubte. Es erscholl aus dem Paradiesgäßlein, das unmittelbar vor dem inneren Rödertor sich rechts abzweigte. Dort stand das Frauenhaus nicht weit von den Badstuben, heute der Juden 151 Tanzhaus genannt. Es war so selten nicht, daß bei jenem die Patriziersöhne mit den Handwerksgesellen in Zank und hellen Streit gerieten, wobei dann wohl die Schwerter das entscheidende Wort sprachen, nicht immer zugunsten der adligen Jugend, die solcher Art auf die Regierung sich vorbereitete. Mit einem halblauten Auflachen tauchte der Ritter in den finsteren Torbogen, der zum Herzen der Stadt führte. 152



 << zurück weiter >>