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V. Wiener Blut.

Unsere Lehrbuben.

Nach meinem Dafürhalten gibt es in Wien doch nur zweierlei Nationalitäten in der bloßfüßigen Diätenclasse des vielköpfigen Lehrbubenstandes: den »reinen« Czechen und das unverfälschte » Wiener Blut«. Alle übrigen Völkerstamme und Racen des gemeinsamen Vaterlandes sind in dieser vielgebeutelten Menschenbranche in Wien nur sporadisch vertreten, denn mir wenigstens ist beispielsweise auf dem hiesigen Pflaster noch kein illyrischer oder polnischer Lehrbub' begegnet und ich hörte auch bisher nur die zwei (übrigens gleich unnachahmlichen) Idiome aus Czaslau's oder des Alserbachs Revieren, wenn in einer bewegten Debatte den Betreffenden »lange Reden von den Lippen flossen«. – Nebst diesen zwei Hauptsprachen des Christenlehr-Publicums wird freilich noch ein Separatdialect, nämlich von den acclimatisirten jugendlichsten Czechen das Nothdeutsch, vulgo »Böhmakeln«, als Umgangssprache für Röhrbrunnen und Greißler in Anwendung gebracht; allein diese Versuchsgermanen gravitiren doch wieder nach der weitläufigen Nation der »Wenzelsbrüder« und ich halte deßhalb an meinem culturhistorisch-statistischen Dogma fest, daß es in Wien nur zweierlei Lehrbubengattungen gibt: den »böhmischen Buben« und das »Wiener Kind«.

Diese Nationalitätenscheidung ist nicht ohne Wichtigkeit, weil sie die Doppelnatur des hiesigen Lehrbuben erläutert, und nicht nur zur Charakterisirung der einzelnen Individualität und der heterogensten natürlichen Anlagen dient, sondern auch manche Räthsel des öffentlichen Verkehrs und der Werkstätte löst.

Schon die oberflächliche Bezeichnung »Lehrbub« (im Schöndeutschen: Lehrling oder Lehrjunge) versinnlicht den Begriff und läßt uns eine Species zweibeiniger, mit menschlichen Neigungen und Bedürfnissen, ja selbst mit allgemeinen menschlichen Fähigkeiten ausgestatteter Geschöpfe ahnen, welche theils als Novizen des Knieriems, theils als Eleven der Hobelbank oder des Bügeleisens, oder als Prakticanten des »Malterschaffels« u. s. w. in die ersten Geheimnisse ihrer respectiven Profession einzuweihen sind, bevor sie als reif erklärt werden, um z. B. für einen Buckeligen einen Frack anzumessen oder sonstige gewerbliche Meisterstücke zu vollenden.

Der »Lehrbub« wäre deshalb eigentlich nur ein Geschäftszögling und seine Aufgabe die: durch eine bestimmte Anzahl von Jahren sozusagen an den Brüsten der Zunftweisheit zu saugen und die Offenbarungen des Zuschneidens etc. unter der »leitenden Hand« des kundigen Gesellen in sich aufzunehmen, mit einem Worte: die Grundzüge der erwählten Fachwissenschaft auf dem Dreifuß oder »Werkelbank« zu studiren. Das wäre nun, wenn auch gerade nicht amüsant, so doch nicht um verzweifeln zu müssen, oder sich mittelst einer Rebschnur oder eines Sprunges vom Schanzel aus in ein besseres Jenseits zu befördern; aber die Mission des Wiener Lehrbuben ist eben eine ganz andere.

Es geht die sinnige Volkssage, daß einst der Teufel, als er am ungeberdigsten gewesen, nahe daran war, verurtheilt zu werden, sein wohlgeheiztes Domicil verlassen zu müssen und in irgend einer Gestalt ein Jahr lang in diesem frostigen irdischen Jammerthale zuzubringen. Der geängstigte Teufel bat nun mit aufgehobenen Händen um die eine Gnade, wenigstens nur nicht als » Fiakerpferd« oder » Wiener Lehrbub« seine Strafzeit verbüßen zu müssen. Dieser hübsche Mythos erklärt zur Genüge das Los des Wiener Lehrbuben.

Der »Wiener Lehrbub« ist nämlich meist alles Andere, nur kein Lehrling in seinem Geschäftszweige, und theilt mit dem ihm assimilirten Mitgeschöpfe, dem Fiakerpferde, das Geschick, bei schlechter Kost fortwährend auf den Füßen sein zu müssen und unablässig – geprügelt zu werden. Seine Lehrzeit umfaßt deshalb eigentlich nur das Studium, welche Nationalitäten unter seinen Vorgesetzten und Gesellenchefs ausgiebiger zu »beuteln« verstehen, und ob das »Kopfstückel« eines wüthenden Hannauers intensiver wirkt, als der Rippenstoß eines Breslauers, oder ob der Puffer eines besoffenen Lippe-Detmolders mehr schmerzt, als die »Backpfeife« eines grollenden Thüringers. Der Wiener Lehrbub hat, wenn die Vorlagen seiner Tagesordnung erschöpft und er auf dem Dachboden, in einer Kellerspelunke oder einer Küchenstellage, für ein paar Stunden auf einer Strohmatratze das Nachtlager aufgesucht, die Tags über gemachten Erfahrungen überdenkt, und die abermals gewonnenen Resultate dieses Lehrplanes nachzählt, einen in seinen Details zwar bunten, in seiner Hauptsache nach aber doch einfachen Ueberblick: zwanzigmal bei den Ohren, zehnmal bei den Haaren gerissen worden, einundzwanzig Ohrfeigen, darunter sechs doppelte, vierzehn Faustschläge in's Genick, fünf Fußtritte etc. etc. erhalten. Schlußergebniß: Wieder nichts gelernt, aber viel geprügelt worden! –

Die Beschäftigung des Wiener Lehrbuben ist nämlich eine vielseitige und abwechselnde. Er hat früh Morgens beim ersten Hahnenruf die Milch für die »Herrschaft« und den Schnaps für die Gesellen zu holen, er hat Holz zu spalten, Stiefel zu putzen und ähnliche kleine Proben seiner Anstelligkeit und Brauchbarkeit abzulegen. Später holt er nochmals Schnaps, dann Schnaps und Speck, aber während er mit der Gesellenverproviantirung noch vollauf beschäftigt, und eben mit einem, unter der Primsenkäs-, Würstel-, Schusterlaibl- und Bierkrügllast ächzenden Tragbrette in die Werkstätte tritt, erhält er schon unter der Thüre von der keifenden Meisterin eine »Dachtel«, der ein Duplicat des Meisters folgt, weil der »faule Mistbub« nirgends zu finden gewesen, und die zwei jüngsten Sprößlinge des Lehrherrn, die ganz der Obhut des Vielumworbenen anvertraut sind, bereits ihr schreiendes Morgenconcert begonnen hatten.

Nun legt er die Rolle des Frühstückganymeds zurück und tritt in das ältere Charakterfach des Kindsweibes über. Er hat den einen plärrenden Nachwuchs auf den Armen zu schaukeln und den anderen noch in der Wiege befindlichen mit dem Fuße zu »hutschen«. Aber die kleinen Sänger beenden ihre schmetternden Solfeggien leider nicht. Dem geplagten Ajo rinnen die hellen Schweißtropfen über die Stirne, er schaukelt und hutscht und hutscht und schaukelt, ja er beginnt in seiner Herzensangst sogar ein Wiegenlied zu präludiren, oder auch ein Couplet der Ulke, das er vom Altgesellen gehört, aber es hilft nichts, seine ebenfalls schon hungerigen und durstigen Zöglinge schreien aus Leibeskräften fort, bis die erzürnte Meisterin aus der Küche in's Zimmer stürmt, und dem ungeschickten Burschen, der die Kleinen so lange schreien läßt, ein paar tüchtige Kopfstückeln versetzt.

Nun beginnt das Stiefel-Intermezzo. Die die Schule besuchenden Kinder erheben ein Höllenspektakel, weil ein Stiefel oder ein Schuh noch nicht gewichst sei. Der Meister hört die schwere Anklage, er findet, daß hier nur die Bosheit des faulen, nichtsnutzigen Schlingels den schlimmen Streich gespielt, er ergreift das corpus delicti, den ungeputzten Stiefel, und schlägt ihn dem Verbrecher ein Vierteldutzendmal um den Kopf, worauf erst die normale Züchtigung auf der Reversseite des Märtyrers executirt wird.

Das ist so die Ouvertüre zu dem Tagesdrama eines »ordentlichen« Wiener Lehrbuben. Es ist nun möglich und hoffentlich sogar wahrscheinlich, daß Einzelne einer sanfteren und delicateren Behandlung sich erfreuen oder erfreuten, und nicht einmal zu der üblichen, fast legalen »Auffrischung des Haarbodens« condemnirt werden oder wurden – aber die Mehrzahl dieser (freilich schmutzig-)weißen Sclaven, dieser Opfer eines barbarischen Werkstatt- und Küchen-Reglements hat diese Prügelschule unstreitig durchzumachen. Denn es gibt Meister und Gesellen, die gerade deshalb dem Prügelsystem anhängen, weil – sie selbst, wie sie gestehen, seinerzeit »genug« geprügelt wurden.

Und nun beginnt das eigentliche Rührstück, dessen Entr'acte wieder nur mit »Prügeln« ausgefüllt werden, dessen Musik klatschende Maulschellen und dessen Ausstattung blutige Ohren und ausgerissene Haarbüschel bilden. Der Lehrjunge hat die Einkäufe für die Küche zu besorgen, er muß, um zwei Kreuzer Neugewürz zu holen, oft fünf Stockwerke auf- und absteigen und hat diese Leibesbewegung auf Verlangen nach Safran um drei Kreuzer, und später bei dem plötzlichen Bedarf von einem halben Seitel Milchrahm fortzusetzen. Er hat Holz und Wasser zu schleppen und die Kinder in's Freie zu tragen, er hat die Geschäftswege zu verrichten und dem »Herrn« das Essen in die Stadt zu bringen, er hat unausgesetzt zu laufen und zu schaffen, er ist das unentbehrlichste Factotum der »gnä' Frau« und der Gesellen, er ist das lebendige Perpetuum mobile des Hauses, und galoppirt nebstbei doch auch durch alle Vorstädte. So vergeht der Tag, die Woche, der Monat, das Jahr – die Jahre. Seine Erholung besteht darin, daß er Sonntags ein Kinderwagerl in den Prater oder auf den Galizinberg zu ziehen, oder ein müdes oder launenhaftes Kind auf dem Rücken stundenweit zu transportiren hat.

Nochmals, so vergehen die Jahre! Endlich kommt die Zeit der Freisprechung und sein Lohn für vier- und fünfjährige Dienste: das Freigewand. Hat er nun einen herz- oder gewissenlosen Meister, so entledigt sich dieser selbst dieser winzigen Verpflichtung und jagt den armen Teufel vor seinen »Rigorosen« unter irgend einem beliebigen Vorwand davon, und der um sein sauer verdientes »Freigewand« also Betrogene hat, will er kein Vagabund, kein Dieb, kein »Strizzi« werden, die ganze Prügelrolle-Laufbahn an einem anderen Orte auf's Neue durchzumachen. Aber gesetzt den Fall, der Meister ist so »edelmüthig« und läßt die feierliche Function der Freisprechung vollziehen, und beglückt den Vielgeprüften mit der Donation eines adaptirten schwarzen »G'wandels«, so wird er sich doch hüten, den zum Gesellen avancirten Burschen zu behalten, da dieser, wie er nur zu gut weiß, bei ihm für das Geschäft nichts gelernt hat und erst jetzt irgendwo sein Metier zu erlernen hat. Natürlich gibt es auch in dieser Beziehung einzelne lobenswerthe Ausnahmen, aber der national-ökonomische Grundsatz, daß der billigste »Dienstbot« ein Lehrbub ist, hat seine Berechtigung.

Wenn aber der Humanist die vorsorgliche Frage auswirft, wie es selbst dem abgehärtetsten Habitus möglich sei, aus den Fährlichkeiten einer derlei vier- bis fünfjährigen Passionsgeschichte unversehrt hervorzugehen, so weiß ich keine andere Antwort, als: daß das Naturell des – ganz eigentümlich organisirten Lehrjungen im Allgemeinen ein so glückliches ist, daß das Schicksal es immerhin riskiren kann, auf ihn nach Herzenslust loszupauken. Uebrigens hat der passive Theil ebenfalls seine Waffen, und in der Wahl und im Gebrauche der Waffen tritt dann der Unterschied der beiden Nationalitäten am merklichsten hervor.

Der » böhmische Bua« – wie der abendländische Einwanderer, der mit einem Rudel nationaler Collegen durch einen »Dorfweisel« bei der Taborlinie hereingebracht und in den erstbesten Gassenladen geschoben wurde – von seiner feindlichen Umgebung genannt wird, schweigt in speculativer, meist untrüglicher Berechnung der einstigen Revanche, wenn »die Pfeil' und Schleudern des wüthenden Geschicks« in Form der energischesten Schopfbeutler etc. auf ihn losstürmen. Er verschließt vorläufig in seinem rachebrütenden Schädel die hämischesten Pläne, aber wenn der Moment der Wiedervergeltung naht, dann kommt seine Individualität zum Durchbruche, er schleicht wie ein beutesuchender Tiger Nachts in die Küche, er öffnet mit geschickter Hand das »Speiskastl«, er erfaßt sein Opfer in Gestalt einer Extrawurst oder eines Schinkenbeines und schiebt Tags darauf die verruchte That auf die Köchin oder ihren kriegerischen Amanten, oder gar den Hauskater.

Oder er rächt sich für die erlittene Unbill an der Menschheit überhaupt, durch einige Kunstgriffe beim nächsten »Anmäuerln«, bei »Kopf oder Wappen«, oder wie die Hasardspiele im Rayon des Stärkmachersteges heißen, und sprengt triumphirend die Bank, bestehend in soundsoviel Sechserln.

Oder er hegt – natürlich immer nur in der Absicht, sich »an der Menschheit überhaupt« zu rächen, die teuflische Ambition, irgend einen prügelsüchtigen Gesellen bei »Madel seiniges« unter Berichterstattung haarsträubender Vorfallenheiten anzuschwärzen und – die Geschichte kennt solche Beispiele – den Verdrängten selbst zu ersetzen. Denn Rache ist süß! –

Anders das leichte » Wiener Blut«. Der präsumtive Deutschmeister greift in seiner Aspirantenperiode, wenn noch der Knieriem über ihn geschwungen wird, zu keinen schmählichen Rachemitteln. Er wird, weil er in stetiger oratorischer Opposition, zwar noch mehr geprügelt, als sein geschmeidiger nationaler Antipode, dennoch beschränkt sich sein ganzes Wiedervergeltungssystem auf die Ausklügelung einiger lustigen Streiche, wodurch etwa die »Bisgurn, d'Masterin« ihre »Krämpf' kriegt«, oder »da Alte im Zurn um a paar Seitl Sturm« mehr trinkt, als gewöhnlich, »fuchsteufelswild« die häuslichen Penaten aufsucht, und »'s Weib« und die Kinder prügelt. Diese zu Zeiten vielleicht sogar ersprießliche Gemüthsemotion seiner Peiniger ist die ganze Revanche des Original-Wiener Lehrbuben, der nichts von gemeiner Rache weiß, selbst seinem brutalsten Widersacher keinen nachhaltigen Schaden zuzufügen stiebt und höchstens einen drolligen Schabernack und zur Abwechslung noch einen Schabernack ersinnt.

Dennoch dürft ihr auf die Gutmüthigkeit und Versöhnlichkeit des Wiener Lehrbuben nicht zu viel sündigen. Er hat eine furchtbare Waffe: den Witz, und seiner schneidigen Dialectik fiel schon so mancher geschniegelte Dandy zum Opfer. Das Herz des Wiener Lehrbuben sehnt sich auch nicht vorzeitig nach »Liebe«, wie das des schmeichelnden czechischen Amoroso – »a Hetz« mit einer bärbeißigen Oebstlerin, »a Cigarl« und eine Gratisfahrt in die Stadt als »blinder«, rückwärtiger Passagier eines feschen Fiakers, ist ihm trotz aller möglichen Peitschenhiebe tausendmal lieber, als die »Dummheiten« unter'm Hausthor mit einer vacanten Marianka. Dazu, das fühlt er, hat er noch Zeit und das Versäumte wird er noch einholen. In seinem Elemente ist er jedoch, wenn er beim Röhrbrunnen die Schlachtordnung der aufgestellten »Schaffeln«, »Butten« und Krüge in Verwirrung – oder auf der »Schleifen« die Kette seiner »Vordermänner« durch einen improvisirten Stoß oder Ruck wie Kartenhäuser zum Falle bringen kann.

Seht, dort schlendert der lustige Knirps dahin. Barfuß und barhaupt in drückender Hitze und grimmiger Kälte, zerlumpt und zerrissen, zerzaust und zerpufft, hängt er sich wohlgemut die fertigen Stiefel über die Achseln und pfeift, um das Knurren des Magens zu übertäuben, ein keckes Lied. Da liegt ein Cigarrenstummel, er hebt ihn auf, er bittet einen vorübergehenden martialischen Kürassierwachtmeister um Feuer – der ist gutmüthig genug, ihm zu willfahren; der dreiste Bursche pafft und pafft, endlich schreit er laut auf: » Es brennt, es brennt!« und läuft davon. Alles ruft erschreckt: » Wo brennt's?« Man reckt die Hälse nach allen Rauchfängen, man wartet eine halbe Stunde auf die hervorbrechenden Flammen, bis man merkt, daß man – aufgesessen. »Ein dummer Schusterbubenwitz!« murmelt die Gruppe und geht auseinander. Dumm? Versucht's, und seid bei so viel Ungemach noch so lustig, Ihr langweiligen Kopfhänger, Ihr! –

 


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