Heinrich Schaumberger
Im Hirtenhaus
Heinrich Schaumberger

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23. In der Schlucht.

Auch Lorenz verließ heute in eigenthümlich bedrückter Stimmung das Haus. Schwere Träume hatten ihn gequält, fast müder, als er sich niederlegte, war er wieder aufgestanden. Fast erschrak er, als Margelies sagte: »Bleib' heut' daheim, mir liegt's so schwer auf dem Herzen, mir ist, als sollt' ich Dich nicht fortlassen. Du warst auch so unruhig diese Nacht und siehst so bleich aus – bleib' daheim!« Lorenz war ärgerlich über sich selber, daß er so schwach gewesen, tröstete lächelnd Margelies, in der frischen Morgenluft und bei der Arbeit werde ihm bald besser sein – und ging mit scherzendem Gruß davon.

Aber es ward ihm nicht besser. Die Sonne ging roth und glanzlos auf, kein Lüftchen regte sich, eine drückende Schwüle lag auf der Erde. Schwerathmend stieg er den Kulm hinan; vergebens wusch er sich in den Quellen des Lindenbaches Kopf und Brust, das kalte Bad erquickte ihn nicht, fort und fort ängsteten ihn die Traumbilder dieser Nacht, die sich am Tage fortsetzten und ergänzten. Bald sah er einen Berg in Bewegung und auf sich hereinstürzen, und es war kein Ausweg, oder er konnte nicht fliehen; bald hörte er die Stimmen seiner Kameraden dumpf und hohl, als kämen sie tief, tief aus der Erde hervor, jammervoll um Hülfe bitten, und er konnte ihnen nicht helfen. – Vergebens strich er über Stirn und Augen – die Bilder verschwanden nicht, und mit jedem Schritt legte sich eine Last mehr auf seine Brust.

Seine Besorgnisse waren freilich nur zu sehr begründet und die quälenden Bilder und Träume nur Kinder 209 seiner Unruhe und Angst. Er arbeitete jetzt in dem großen Durchstich zwischen Dammsbrück und Rottenstein, an dessen nördlichem Ausgang, dicht über dem Dörfchen Rottenstein, ein nicht minder gewaltiges Werk ausgeführt ward, die Ueberbrückung des Rottenthales. Der Durchstich, den sich die Ingenieure wohl als leichter ausführbar mochten vorgestellt haben, war etwas spät in Angriff genommen worden, und da nun die Arbeit nicht nach Wunsch fortschritt, verdoppelte man die Arbeitskräfte, machte gewaltsame Anstrengungen, das Versäumte nachzuholen. Hunderte von Arbeitern wimmelten sowohl im Durchschnitt als unten im Thal durcheinander, hackten und schaufelten, gruben sich immer tiefer hinein in den Berg. Erst leise, bald lauter ward unter den alten, erfahrenen Arbeitern die Besorgniß laut, grade an dieser wichtigen und gefährlichen Stelle werde leichtfertig fortgearbeitet, man denke nur an baldmöglichste Fertigstellung und vergesse darüber alle Vorsicht. Die Böschungswinkel seien für den lockern, losen Sandboden viel zu steil, zwar sei er mit Sandsteinschichten durchsetzt, aber die bröcklichen, unzusammenhängenden Steinmassen könnten unmöglich die darauf lastenden Erdschichten tragen, wenn man fortfahre, ihnen von unten den nöthigen Halt zu entziehen. Die Aufsichtsbeamten, selbst die Ingenieure lachten über solche Befürchtungen, höchstens zuckten sie die Achseln, beriefen sich auf die Berechnungen ihrer Vorgesetzten und trieben zur Weiterführung der Arbeiten. Selbst hie und da vorkommende kleine Senkungen des Gesteins blieben unbeachtet, erst als aus allen Klüften Sandbäche hervorrieselten, im höher liegenden Waldboden 210 klaffende Spalten aufrissen, wurden die Ingenieure bedenklich, ließen in aller Eile Holzstützwerke errichten, den Bergrutsch aufzuhalten. Da Lorenz mit Beil und Säge umzugehen wußte, ward er den Zimmerleuten zugetheilt und half einen besonders drohend hereinhängenden Felsen stützen! Deutlich zeigte sich jetzt, wie sich der Felsen mählig senkte, das und ein dumpfes Getöse im Berg öffnete den Ingenieuren vollends die Augen; alle verfügbaren Arbeiter wurden an den gefährlichsten Punkten vereinigt, alle Kräfte auf's Höchste angespannt, das drohende Ereigniß abzuwenden. Wenn aber zu spät? – Dann war nicht nur die Arbeit vieler Wochen zerstört, waren ungeheure Summen vernichtet – hunderte von Menschenleben schwebten in gräßlicher Gefahr!

Das lag Lorenz so schwer auf der Brust. Unwillkürlich falteten sich seine Hände, ehe er in den Durchstich hinabstieg.

In der Nacht hatte sich nichts Bedrohliches ereignet, die Gerüste standen, eine weitere Senkung war nicht eingetreten. Die Ingenieure thaten zuversichtlich und sprachen beruhigende Worte, trotzdem lastete ein banges Vorgefühl auf den Arbeitern, bleich und still schafften sie mit einem Eifer, der deutlich zeigte, alle wußten, man arbeitete zur Sicherung des eignen Lebens.

Die Mittagsrast war vorüber. All die forschenden Blicke, die an den Büschen droben auf den Rändern der Böschungen hingen, hatten keine verdächtige Bewegung bemerkt; die Ingenieure, mit dem Fortgang der Sicherungsarbeiten zufrieden, lachten über die Zaghaften. So ging es abermals hinein in den sonnendurchglühten Schlund, 211 den bald ein betäubendes Getöse erfüllte. Das Gerüst, an dem Lorenz arbeitete, war nahezu vollendet, nur noch einige Keile mußten eingetrieben werden. Diese Aufgabe fiel Lorenz zu, seine Kameraden wurden an andere Arbeitsplätze gesendet – Lorenz war allein.

Von hier an begann die scharfe Biegung, Lorenz konnte etwa noch dreißig Schritte in den Durchstich, nach Rottenstein zu, hineinsehen. Hinter ihm waren die Gerüste vollendet, die Bahn leer, vor ihm, eben nach Rottenstein zu, an der tiefsten Stelle des Durchschnittes, wußte er mehr denn hundert Menschen in voller Arbeit, aber nur die Hintermänner waren für ihn sichtbar, dagegen lag die östliche – eben die bedrohte – Böschung bis zur Spitze vor seinen Augen.

Wieder kam das eigenthümliche Bangen von heute Morgen über ihn, der Schweiß rann von seiner Stirn, dabei überrieselten ihn Frostschauer. Er wußte selbst nicht was ihn zwang, immer zu den Büschen am Rand der Böschung aufzublicken. Mit fieberhafter Hast trieb er die Keile ein; plötzlich zuckte er zusammen, der Keil zog nicht mehr, noch ein Schlag, – der Keil sprang weit zurück! Jetzt knisterte und knackte es im Gerüst, die Balken und Verschalungen bogen und verschoben sich, Sandbäche rauschten ihm entgegen. – Richtig – dort über den Arbeitern zitterten die Büsche – und die Aermsten merkten nichts, rastlos arbeiteten sie fort. Das Klirren der Sägen und Beile ging ihm durch Mark und Bein, das Klingen der Steinschlägel tönte wie Todtengeläute in sein Ohr – in wenig Minuten war der Durchstich ein großes Grab.

212 Das Knacken und Knattern im Gerüst nahm zu, aber noch widerstand es dem ungeheuren Druck – hielt es nur wenige Sekunden noch aus, war er gerettet. Schon hob er den Fuß zur Flucht, da streiften seine Blicke die Kameraden, die ahnungslos fortarbeiteten – durfte er sie ungewarnt ihrem Schicksal überlassen? – – Aber wie warnen? – seine Stimme mußte in dem Lärm ungehört verhallen, ehe er zu ihnen kam, war Alles vorbei. – Seine Blicke hingen an den zitternden Büschen auf der Höhe, er sah die Felsen sich senken – und jetzt bemerkte er, die größte Wucht des Erdsturzes lag auf seinem Gerüst, brach dieses, ging hier die Hauptmasse nieder, die Kameraden waren gewarnt, fanden vielleicht Zeit zur Flucht.

Knirschend rieben die Felsen an den Balken, da und dort knickten Säulen, nur noch die Hauptstützen, wenngleich verschoben, standen fest. Ein Zittern ging durch die Glieder des einsamen Mannes, hundert Menschenleben lagen in seiner Hand – ein Schlag auf die gelockerte Verkeilung, und das Gerüst brach zusammen.

Wie ein Stich zuckte der Gedanke an Weib und Kinder durch sein Hirn, in seinen Schläfen hämmerte und pochte es. Durfte er sich für andere Menschen opfern und Weib und Kinder ins Elend bringen? Was sollte aus ihnen werden, fand er hier sein Grab? – Aber dort waren vielleicht hundert Gatten und Väter, was sollte aus ihren Wittwen und Waisen werden? – »Der Herr wird Euch nicht verlassen,« stöhnte er, »in Gottes Namen!« – Ein wilder, gellender Schrei, ein gewaltiger Schlag – dann 213 Knattern und Prasseln, Rollen und Brausen, der Berg war in Bewegung.

Vom dunkeln Drang der Selbsterhaltung getrieben, kletterte Lorenz in wahnsinniger Hast an der entgegengesetzten Böschung empor. Sand und Steine rollten ihm unter den Füßen hinweg. Erde überschüttete ihn, aber seine Füße gruben sich in die Wand, seine Finger krallten sich in die Felsspalten – vorwärts! – Ein vielstimmiger, jammervoller Schreckensruf gellte erschütternd aus der Tiefe, Erdmassen, Steinbrocken wirbelten durch die Luft, Sandmassen quollen zu ihm empor, umschlossen seine Füße wie eherne Zangen – los – vorwärts! – Ein Donner, Krachen und Prasseln hinter ihm, als habe sich die Erde gespalten, dicke Staubmassen benehmen ihm den Athem, seine Kräfte lassen nach, die zitternden Hände, Füße und Kniee finden keinen Halt mehr – noch einmal: vorwärts! – Da streift ein stachlicher Zweig sein Gesicht, die tastende Hand umschließt den Stamm eines Busches, mit letzter Kraft ein Schwung – Erde und Steine prasselten in die Tiefe – der Rand der Böschung ist erreicht!

Lorenz sank auf die Kniee und hob die Hände zum Himmel, dann raffte er sich auf und floh in wilden Sprüngen von dem Ort des Schreckens. In seinem Hirn rollte und brauste es, gespenstisch huschten die Büsche an ihm vorbei, blendendes Licht wechselte mit tiefer Dämmerung, wie im Traum sah er bestürzte, bleiche Gesichter, hörte er menschliche Stimmen – nichts konnte ihn halten, nur ein Gedanke war in ihm: fort, fort! – Endlich sah er vor sich ein Haus, die offene Thür schien ihm gastlich zu 214 winken – Thränen traten in seine Augen, mit dem Seufzer: »Gerettet – Herr mein Gott sei gelobt!« brach er auf der Schwelle bewußtlos zusammen.

 


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