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Einunddreißigstes Kapitel.
Fortsetzung.

Dank der liebevollen Fürsorge und Hingabe meiner Pflegerin war ich am dritten Tage nach meinem Wiedererwachen so weit hergestellt, daß ich die Kajüte verlassen konnte. Die Passagiere hatten sich oft nach meinem Befinden erkundigt, und meine Verlobte erzählte mir, daß auf dem Schiff die größte Neugier herrsche, mich zu sehen. Ich war eben der Held des Tages, hätte diese Ehre aber herzlich gern einem andern abgetreten.

Der zweite Offizier des Schiffes, ein Mann von ungefähr meiner Größe und Gestalt, hatte mir freundlicherweise seinen Kleiderschrank zur Verfügung gestellt, doch brauchte ich mir nur einige Wäsche von ihm zu leihen. Meine andere Kleidung, wenn auch stark mitgenommen, erschien mir für die kurze Reise noch gut genug und ausreichend.

Zur Mittagszeit am dritten Tage stand ich also auf, kleidete mich gemächlich an und setzte mich dann hin, meine Braut zu erwarten, da sie den Wunsch ausgesprochen hatte, mich auf Deck zu führen.

Sie kam auch bald. Als ich sie sah, überkam mich das wonnige Gefühl der Wiedergenesung und die Gewißheit, dem Mädchen meiner Liebe jetzt ganz anzugehören, mit einer Macht, wie nie zuvor, und erfüllte mich mit unbeschreiblicher Glückseligkeit. Ich schloß sie mit Tränen der Rührung in die Arme, und auch sie weinte. Nach einer Weile faßte sie sich aber, nahm meine Hand und sagte: »Mir ist, Geliebter, als müßten wir erst Gott danken, ehe wir auf Deck gehen.«

»Ja, du Engel,« erwiderte ich, »du sprichst mir aus der Seele, auch ich trage Verlangen danach.« Und wohl selten haben zwei Menschen Gott inniger gepriesen und gedankt, ihn brünstiger angefleht um seine fernere Hilfe und seinen Segen, als wir es taten. Danach gaben wir uns noch einen Kuß und schritten zur Tür. Als wir den großen Schiffssalon betraten, war ich erstaunt über die reiche, luxuriöse Ausstattung des Raumes. Wie sehr stach er doch ab gegen die einfache, ja dürftige Einrichtung der Kajüte des ›Grosvenor‹!

Der Tisch wurde gerade zum zweiten Frühstück gedeckt; fein gekleidete Stewards eilten geschäftig hin und her. Die Tafel war mit Blumen verziert; Kristallkaraffen mit rotem und weißem Wein und verschiedene Silbergeräte standen darauf. Ein prächtiger, dicker Teppich bedeckte den ganzen Fußboden, die Wände ringsum waren in Mahagoni vertäfelt, stellenweise vergoldet und mit großen Spiegeln versehen. Bequeme Sofas und Fauteuils machten den Raum behaglich, sogar ein Flügel war vorhanden. Freundlicher Sonnenschein drang durch die großen Oberlichter und spiegelte sich in dem Kristall auf dem Tische und den Spiegeln an den Wänden.

Einen Moment blieb ich wie geblendet stehen, dann schritt ich weiter und verbeugte mich vor zwei Damen, die mit einer Handarbeit beschäftigt, plaudernd auf einem der Sofas saßen, ebenso begrüßte ich einen Herrn, welcher in einem Buche las. Alle drei standen sofort auf, als meine Braut mich vorstellte. Die Damen begannen, mir Schmeicheleien zu sagen, und der Herr bat mich um die Erlaubnis, mir die Hand schütteln zu dürfen. Offenbar sahen sie in mir einen großen Romanhelden; ihre Liebenswürdigkeit war wahrhaft erdrückend; ich wurde verlegen, weil ich nicht wußte, was ich zu all den Lobhudeleien sagen sollte. Wir entzogen uns dieser übermenschlichen Bewunderung, sobald es anging. Als wir aber die Kajütentreppe hinaufstiegen, hörte ich noch, wie eine der Damen sagte, sie hätte nie im Leben etwas Romantischeres und Aufregenderes gelesen, wie daß ein junger Seemann ein hübsches Mädchen von einem Wrack mit eigener Lebensgefahr abholt, sich in dasselbe verliebt und es schließlich nach tausend Gefahren heimführt.

»Hast du das gehört?« flüsterte ich lachend.

»Ja,« antwortete sie ebenso.

»War es denn so romantisch?«

»Ich denke, ja.«

»Und aufregend?«

»Ach schrecklich!«

»Und, haben sie später immer glücklich gelebt?«

Sie gab mir einen Klaps auf den Arm, sah mich schelmisch an und fragte: »Kannst du mir das sagen?«

»Wie du doch schlau bist, Kleine,« entgegnete ich, ihren Arm fester an mich drückend, »aber weißt du, romantisch und aufregend war es eigentlich wirklich, ja, sehr romantisch, wenn ich jetzt so zurückdenke; schade nur, daß wir jetzt das erst von andern erfahren haben, selbst aber von der Romantik bis jetzt gar nichts empfanden. Ich glaube aber, das ist immer so, man merkt das Schöne an der Sache immer erst, wenn alles vorbei ist, und die Bilder der Vergangenheit an einem vorüberziehen wie ein Traum.«

Unter solchem Geplauder betraten wir das Deck.

Dort waren eine Menge Passagiere, Männer, Frauen und Kinder. Als ich meine Blicke über das Schiff schweifen ließ, staunte ich über seine Größe. Es war ein herrliches, mächtiges Eisenschiff von gewiß 4000 Tonnen Gehalt und bewegt von einer Maschine, von wenigstens 800 Pferdekräften. Sein Deck war durch ein Schirmdach gegen die Sonne geschützt; es hatte einen gelben Schornstein, sehr hohe Masten und lange Raaen. Überall, wohin ich sah, bemerkte ich Komfort und verbesserte Vorrichtungen im Takelwerk und der Ausrüstung, welche den Dienst und die Handhabung des Schiffes erleichtern. Wir dampften über eine glatte See mit einer Geschwindigkeit von wenigstens dreizehn Knoten. Ein kühler Luftzug wehte unter dem Zeltdach hindurch, fächelte meine hohlen Wangen und erfrischte und kräftigte mich wie ein stärkender Trank.

Als der Kapitän uns sah, kam er auf uns zu, begrüßte uns sehr herzlich, schüttelte mir die Hand und gratulierte mir in freundlichster Weise zu meiner Genesung. Mit eigener Hand stellte er Stühle für uns beide neben den Besanmast. Dann kam der erste Offizier und sämtliche Passagiere, und wäre ich so zynisch gewesen wie der alte Diogenes, mein Herz hätte sich zum Glauben an die Güte der menschlichen Natur bekehren müssen, so viel Freundlichkeit und Anerkennung wurde mir zuteil.

Den besten Beweis ihrer Güte lieferten sie mir aber doch, als sie sich nach ihrer liebenswürdigen Begrüßung bald wieder zurückzogen, so daß ich Ruhe finden konnte. Nur der erste Offizier und der Doktor blieben noch ein Weilchen länger bei uns stehen. Als aber die Frühstücksglocke ertönte, da gingen auch sie mit den Passagieren nach unten.

Der Kapitän hatte uns vorher den Vorschlag gemacht, auf Deck zu bleiben, damit ich die frische Luft recht lange genießen könne; das Frühstück wollte er uns durch einen Steward schicken. Das war uns sehr angenehm, und als der Offizier vom Dienst seinen Posten auf der Kommandobrücke einnahm, hatten wir zu meiner großen Befriedigung das Deck beinahe für uns allein.

»Gott sei Dank,« sagte ich, »nun haben wir Ruhe und können uns bei der herrlichen Fahrt miteinander freuen. Ach du einziges Lieb, wie wonnig wohl ist mir zumut; noch kann ich den Wechsel der Verhältnisse und mein Glück nicht recht fassen. Welcher Unterschied, wenn wir unsere jetzige Lage mit der auf dem ›Grosvenor‹ vergleichen, wo die Wogen über uns schlugen und das Schiff arbeitete, als ob es jeden Augenblick in Stücke fallen wollte, wir selbst sterbensmatt und im stillen jeden Augenblick den Tod erwartend. Mich schaudert, wenn ich daran denke.«

»Drum laß uns jetzt nur daran denken, daß wir leben, du lieber Mensch, und freudig in die Zukunft sehen.«

Ich drückte ihr zärtlich die Hand und sagte: »Ja, du hast recht, das wollen wir tun. Weißt du, ob das Schiff direkt nach Glasgow geht?«

»Ja, direkt dorthin.«

»Hast du Bekannte dort?«

»Nein. Der Kapitän hat mich aber eingeladen, bei seiner Frau zu wohnen, bis ich Nachricht von Hause habe.«

»An wen willst du schreiben?«

»An meine Tante in Leanington. Ich werde sie bitten, mich in Glasgow abzuholen. Und du?«

»Ich?« Ich sah sie lächelnd an. »Deine Frage erinnert mich daran, daß ich überlegen muß, was ich tun soll.«

»Du bist noch viel zu schwach dazu. Wenn du anfangen willst zu überlegen, werde ich böse.«

»Aber Kind, sei doch vernünftig, ich muß doch überlegen.«

»Unsinn, das hast du gar nicht nötig.«

»Jawohl, ich muß darüber nachdenken, was ich tun muß, wenn ich nach London komme.«

»Na, weißt du, als wir auf dem ›Grosvenor‹ waren, da hast du immer für mich gedacht, nicht wahr? Jetzt aber, auf der ›Peri‹, beabsichtige ich, für dich zu denken, das sage ich dir. Ich habe schon alles überlegt und bin fix und fertig damit.«

»Ach, sieh mal an, also fix und fertig; ich dächte aber doch, ich hätte ein Wort mitzusprechen; ich will ganz offen sein – –«

»Ich auch – ich habe furchtbaren Hunger; siehst du, da kommt gerade der Steward mit dem Frühstück. – Das ist schön, daß Sie uns etwas bringen,« rief sie ihm heiter zu, ohne weiter auf mich zu achten; »setzen Sie das Tablett hier neben uns.«

Der junge Mann tat das und blieb stehen, um uns zu bedienen, ich bedeutete ihm aber, er könne gehen, wir würden uns selbst versorgen.

Während wir nun zulangten, sagte ich: »Das erinnert mich recht an unser Abschiedsmahl auf dem ›Grosvenor‹.

»Ja, ganz und gar,« erwiderte sie lustig, »denn sieh, dort ist ja auch unser guter Forward; genau mit denselben treuen Augen blickt er uns an wie damals, als er uns gratulierte, daß wir uns ausgefunden hätten. Winke ihm doch mit der Hand einen freundlichen Gruß zu; er wagt es nicht, heranzukommen.«

Als ich es tat, schwenkte er sofort seine Mütze, und die vier Leute, die bei ihm standen, taten das Gleiche.

Nun wandte ich mich wieder an die kleine Person neben mir: »Also, was ich vorhin sagen wollte, ich werde ...«

»Ja gewiß,« unterbrach sie mich sofort, »du wirst jetzt ganz stille dein Frühstück genießen.«

»Nein, du allerliebster, kleiner Trotzkopf, das werde ich nicht, du sollst mich anhören.«

»Ich will aber nicht; ich habe meine Einrichtungen schon getroffen und brauche nichts zu hören.«

»Mein Gott, ich will ja aber nur von mir sprechen.«

»Das ist es ja eben; sei doch nicht so dumm, Schatz; es genügt vollständig, wenn ich spreche, begreife doch nur, daß ich jetzt für dich denken und handeln muß, du bist doch noch zu schwach.«

Ich blickte sie mit Unbehagen an, denn meine Armut kam mir wieder empfindlich in Erinnerung, und ich hatte eine starke Abneigung, etwas zu hören, was meinen Stolz verletzt hätte. Sie las mir die Gedanken von der Stirn und sagte errötend, jedoch ohne den Blick von mir zu wenden, mit leiser, lieblicher Stimme:

»Ich dachte, wir wollten uns heiraten?«

Ach Gott, wie das klang und wie entzückend sie dabei aussah! Wären wir nicht auf Deck und unter den Augen des wachhabenden Offiziers gewesen, ich wäre ihr um den Hals gefallen, so aber drückte ich ihr nur zärtlich die Hand und erwiderte: »Daran denke ich ja fortwährend, du Herzensengel, aber freilich vorläufig mit andern Gedanken, als ich gern möchte. Nun sei mal artig und höre mich ganz still an, du mußt dich ein bißchen in meine Lage versetzen. Kann es dich denn wundern, wenn es mir widerstrebt, dich als vollständiger Bettler zu heiraten? Ich muß erst etwas verdienen.«

»Aber guter Gott,« unterbrach sie mich wieder ...

»Still, Liebchen, laß mich ausreden. Also ich habe mir überlegt, daß, sowie wir Glasgow erreicht haben, ich den Reedern den Untergang des Schiffes melden und mein rückständiges Gehalt fordern werde. Sobald ich dieses in Händen habe, will ich nach London gehen und so rasch als möglich zunächst wieder als Maat auf einem andern Schiff Stellung suchen. Vielleicht werden die Reeder, wenn sie meine Geschichte gehört haben, mir auch selbst eine Anstellung auf einem ihrer andern Schiffe geben. Jedenfalls will ich sehen, bald irgendwo unterzukommen und mir etwas zu erwerben. Ist mir das geglückt, dann, du Herzenskind, kann Hochzeit sein, dann –«

»Nein, nein,« rief sie heftig dazwischen, »ich kann nicht mehr hören. Ich sehe jetzt, was du beabsichtigst, du willst mit aller Gewalt Kapitän werden, du willst mich um deines törichten Stolzes willen Jahre lang warten lassen. Ist es nicht so?«

»Allerdings, ungefähr so.«

»O Gott! Was ist dir plötzlich in den Kopf gefahren, du armer, lieber Junge? Der Schiffbruch hat dir also richtig schließlich noch den Verstand genommen, ganz wie dem unglücklichen Steward. Es ist ja ein gräßliches Unglück.«

»Aber Liebling – – –«

»Ach, ich bin nicht dein Liebling, wenn du so denken und sprechen kannst. Wie viel Geld könntest du dir denn ersparen, selbst wenn du dich zwanzig Jahre als Kapitän abplagtest? Was würde denn deinem unsinnigen, grausamen Stolz genügen? Sage, um Gottes willen, wie könnte dir alles zusammengesparte Geld Freude machen, wenn du dir die Angst vorstellst, die ich während unserer Trennung täglich und stündlich um dich ausstehen müßte? Wie kannst du nur das Herz haben, mir so etwas zu sagen, da du weißt, daß ich mit Gütern gesegnet bin und alles dir gehört, was ich mein nenne? Würdest du mich weniger geliebt haben, wenn du gewußt hättest, ich wäre arm? Würdest du dein Leben nicht gewagt haben, um das meinige zu retten, wenn ich eine Bettlerin gewesen wäre? Du hast mich doch lieben gelernt als die einfache Mary Robertson und ich dich, als den lieben, prächtigen Menschen, der du bist. Willst du nun von mir gehen, und mich verlassen? Ach, das kannst du mir nicht antun!«

Bei den letzten Worten fing sie an bitterlich zu weinen und legte den Kopf an meine Schulter, und ich, ich biß mir beinah die Lippen wund, um die Rührung zu bezwingen, die sich bei ihren Tränen auch meiner bemächtigte. Ich hätte vor Glückseligkeit über ihre Liebe aufjauchzen mögen; meine Nerven waren aber durch die eben überstandene Krankheit so schwach geworden, daß mich gerade in den Momenten höchsten Glücks immer eine unwillkürliche Rührung überkam, deren ich mich oft schämte. Sobald ich aber meine Fassung wiedergewonnen, jubelte ich mit unterdrückter Stimme (damit der da oben auf der Kommandobrücke mich nicht etwa hörte): »Engel, Kind, Liebling, mag die Welt von mir denken, was sie will, ich bleibe bei dir; das Wasser sieht mich nicht wieder!«

Da hob sie den Kopf, sah mich mit ihren schönen Augen strahlend an und sagte weiter nichts, als:

»Nun bist du wieder mein vernünftiger, lieber Junge.«


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