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Zehntes Kapitel.
Ein teuflischer Plan.

Um halb acht Uhr hörte ich den Zimmermann den Steward rufen. Ich war besorgt, daß sich der Bursche aus Furcht wieder verstecken könnte und begab mich deshalb zu ihm, um ihm zu sagen, daß er augenblicklich gehen müsse, da ich glaubte, es handle sich nur um Befehle für das Frühstück. Der Sicherheit halber begleitete ich ihn auf Deck; es war so, wie ich gedacht hatte, unbelästigt trollte er bald wieder ab, um die Aufträge auszuführen, die ihm gegeben worden waren.

Stevens lag rauchend, sehr behaglich an einem der Oberlichter, einige Leute, ebenfalls mit der Pfeife im Munde, lagerten um ihn herum. Alle leichten Segel waren gesetzt; unter einem strahlenden Himmel, bei klarem Horizont und azurblauer See steuerte das Schiff seinen Kurs West-Südwest.

Auf unserer Leeseite war ein großer Dampfer zu sehen, der in südlicher Richtung dampfte; er war als Brigg getakelt, sein Ziel schien mir die Westküste von Afrika zu sein.

Die Leute, die den Zimmermann umgaben, machten, als sie mich sahen, eine Bewegung, als ob sie das Hüttendeck verlassen wollten, einer aber flüsterte irgend etwas und danach blieben sie ruhig liegen.

Der Zimmermann, welcher sah, wie ich den Dampfer beobachtete, rief: »Der würde nicht viel Zeit gebrauchen, um uns zu fangen, was? Übrigens ist es gut, daß Sie gerade heraufkamen, sonst hätte ich sie holen lassen müssen. Weiß der Teufel, ich wüßte nicht, was wir tun sollten, wenn es dem Kerl einfiele, Fragen an uns zu stellen. Was würden Sie denn machen?«

»Gar nichts, ich brauche doch nicht jedem zu antworten, der mich etwas frägt.«

»Hinter ihm weggehen, meine ich, würde das klügste sein,« äußerte einer der Leute.

»Das würde gerade das richtige sein, um Argwohn zu erregen,« entgegnete ich ruhig; »aber macht was ihr wollt.«

»Mr. Royle hat ganz recht,« sagte ein anderer, »laßt ihn nur machen, er wird schon wissen, was das beste ist.«

Ich beobachtete hienach noch eine Weile den Dampfer, dann sprach ich: »Er macht wohl seine zwölf Knoten und wird sehr bald unsern Kurs kreuzen; mag er immerhin signalisieren, ich antworte nicht.«

Die Leute wurden bei dem Näherkommen des Schiffes doch ängstlich, ihr böses Gewissen machte sie zu Memmen. Was mich betrifft, so starrte ich es mit stumpfer Gleichgültigkeit an. Die Hilfe, deren ich so dringend bedurfte, konnte mir von ihm oder seinesgleichen nicht kommen, höchstens zufällig von einem neugierigen Regierungsschiff. Meine Aufgabe war eine zu schwierige, als daß ich ganz nach eigenem Gutdünken hätte handeln können; das geringste Mißtrauen, das ich erregte, konnte mir das Leben kosten.

»Einen Strich abfallen,« rief ich dem Mann am Rade zu, »das werden sie nicht merken und um so schneller unsern Kurs durchqueren.«

Wir glitten leicht durch das Wasser, und als wir den Dampfer auf unserem Wetterbug hatten, war er so nahe, daß wir das Schirmdach auf seinem Hinterdeck und eine Menge Menschen sehen konnten, die uns neugierig betrachteten. Es war ein großes Ozeanschiff und schnitt herrlich durch das Wasser. Nach einigen Minuten schon querte es unsere Bahn, und die uns beobachtenden Menschen waren bald nicht mehr zu erkennen.

Was hätte ich nicht dafür gegeben, dort an Bord sein zu können.

»Nimm wieder den alten Kurs!« befahl ich dem Mann am Rade.

Stevens trat jetzt zu mir und sagte: »Ich habe dem Steward aufgetragen, das Frühstück für die Mannschaft auszuteilen und das unsrige um acht Uhr bereitzuhalten. Ich denke, der greinende Schlingel wird nun empfinden, was es heißt, Hunger zu leiden. Was sagen Sie jetzt zu den Leuten, sind es nicht die reinen Lämmer?«

»Ja, das sind sie,« antwortete ich lachend, »trotzdem aber werde ich doch froh sein, festes Land unter den Füßen zu haben. Wie sie wissen, wird nach dem Gesetz zuerst immer der Anführer der Meuterer gehangen, und da ich das zweifelhafte Vergnügen habe, hier die Rolle desselben zu spielen, so habe ich soeben beim Anblick dieses Dampfers schon ein ganz unangenehmes Gefühl an meinem Halse verspürt. Wahrhaftig, ich wäre froh, aus der aufregenden Geschichte erst glatt heraus zu sein.«

»Das kann ich mir denken, mir geht's auch so, machen Sie also, daß wir die Sache bald hinter uns bekommen.«

»Was an mir liegt, soll schon geschehen, ich werde tun, was mir gesagt wird, mehr kann ich leider nicht tun.«

»Das verlangt auch niemand. Sie müssen uns jeden Tag Ihre Berechnungen zeigen, nicht etwa weil wir Ihnen mißtrauten, nein, nur um die Leute zu beruhigen, daß wir nicht Gefahr laufen, an die Bermudas zu stoßen.«

»Ach, die Bermudas liegen weit nördlich von unserem Kurs.«

»Ganz recht, Mr. Royle, Sie wissen ja Bescheid,« entgegnete er in einem vielsagenden, mir recht verständlichen Ton.

Darauf wandte er sich zu den Leuten in unserer Nähe und rief lustig: »Nun, Maats, fort mit euch zum Frühstück, laßt's euch schmecken.« Die Burschen ließen sich das nicht zweimal sagen und sprangen heiter johlend davon; er sah ihnen lachend nach und fuhr dann zu mir fort: »Ich will jetzt den Hochbootsmann rufen. Sollen wir beide zuerst frühstücken oder wollen Sie es vor uns tun? Bestimmen Sie, mir ist alles recht.«

»Dann werde ich auf Deck bleiben, bis Sie fertig sind,« erwiderte ich, denn ich wünschte den Tisch für mich allein zu haben.

Ich schlenderte nach dem Geländer des Hüttendecks und sah den Leuten zu, wie sie ihr Frühstück in Empfang nahmen. Sie benahmen sich, einzelne laute Späße abgerechnet, ganz anständig dabei. Ob der Gedanke, daß sie keine Vorgesetzten mehr zu scheuen hatten, sich nicht bald geltend machen würde, ob nicht Zänkereien, Gewalttätigkeiten und alles, was eine Empörung roher, ungebildeter Menschen gewöhnlich mit sich bringt, bald folgen würde, war eine andere Frage.

Soweit ich erkennen konnte, bestand das Frühstück aus Butter, weißem Brot, einer Schnitte Schinken, aus Tee und einem Glas Brandy. Das war freilich ein gewaltiger Unterschied gegen früher, und wirklich rührend war es anzusehen, wie selbst die ältesten Matrosen, vergnügt lachend, sich beeilten, nach vorn in ihre Behausung zu gelangen, um dort in Ruhe und Behaglichkeit ihr ungewohnt herrliches Mahl zu verzehren.

Seitdem der Koch, im Glauben, die Leute wollten ihn Mr. Duckling in die See nachwerfen, zum Tode erschrocken davongelaufen war, hatte ich ihn nicht wiedergesehen. Jetzt, bei der Frühstücksausgabe, bemerkte ich aber, daß er sich ganz still verhielt. Dies schien mir ein sicheres Zeichen, daß der erlebte Schrecken noch nachwirkte. Ich war erfreut darüber, denn ich hatte gefürchtet, er würde sich als ein sehr gefährlicher Meuterer erweisen und von unheilvollem Einfluß auf die Leute sein.

Nachdem jeder sein Teil erhalten hatte und nach vorn verschwunden war, ging ich langsam auf und ab, dabei warf ich einen Blick durch das Oberlicht in die Kajüte und sah den Zimmermann, die Mütze auf dem Kopf, beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, wie einen Vielfraß schlingen. Der Hochbootsmann zeigte bessere Manieren und sah gegen den Zimmermann wie ein feiner Herr aus.

Als Stevens demnächst wieder auf Deck erschien, ging ich hinunter. Der Hochbootsmann hatte, als er mich kommen sah, die Höflichkeit aufzustehen und wollte offenbar den Tisch verlassen, ich bat ihn aber sitzen zu bleiben. Zunächst rief ich den Steward und fragte, wie ihn die Leute behandelt hätten.

»Danke, Sir, so ziemlich mittelmäßig,« antwortete er, mit etwas mehr Mut in seinem Wesen; »sie waren nicht roh, selbst der Koch hat nichts zu mir gesagt. Mr. Stevens ist zwar sehr grob, aber ich denke, es ist dies einmal so seine Art.«

Der Hochbootsmann lachte und fragte ihn, ob er schon gefrühstückt hätte.

»Nein, Sir, noch nicht, ich kann warten.«

»Aber hier ist doch genug zu essen und zu trinken.«

»Ja, Sir, sehr viel.«

»Na, so nehmen Sie doch, so langen Sie doch zu, Mr. Royle wird nichts dagegen haben.«

»Danke, Sir,« stammelte er, »ich habe keinen Appetit.«

Aus dem Tone, in welchem der Steward alle seine Antworten gab, erkannte ich, daß er dem Hochbootsmann nicht traute und ihn für einen ebenso gefährlichen Menschen hielt wie den Zimmermann. Offenbar glaubte er, derselbe wolle ihm nur eine Falle stellen, um ihn doch noch baumeln zu sehen, wie der Zimmermann gedroht hatte. Sobald er konnte, zog er sich eilig in die Vorratskammer zurück.

»Ist der Steward aber ein närrischer Kauz,« lachte der Hochbootsmann. »Der ist ja wie ein verprügelter Hund.«

»Du mein Gott, man kann sich wohl kaum darüber wundern, nach all der Todesangst, die er ausgestanden hat. Ich fürchtete schon, er würde den Verstand verlieren.«

»Ach, wissen Sie, Mr. Royle, ich habe eigentlich immer gefunden, daß es mit so einem Steward niemals ganz richtig ist; er ist nicht Fisch, nicht Vogel, weder Seemann noch Landratte, von so einer Art Mischling kann man nie viel Mut erwarten. Man kann ihn deshalb auch nicht gerade verdammen, es wäre das ebenso, wie wenn man einer Meerkatze vorhalten wollte, daß sie nicht so groß ist wie ein Pavian. Übrigens sagen Sie einmal, was wird denn aus unsern Passagieren? Ich glaube, die werden ganz vergessen.«

»O, für die habe ich gesorgt,« antwortete ich, nach dem Oberlicht sehend, um zu entdecken, ob der Zimmermann in der Nähe wäre, und als ich ihn nicht bemerkte, fuhr ich mit gedämpfter Stimme fort: »Was ich Sie fragen wollte; worüber hat denn Stevens mit Ihnen gesprochen?«

Er wiegte eine Weile sinnend den Kopf, warf ebenfalls einen forschenden Blick durch das Oberlicht und zischelte dann: »Wissen Sie, Sir, das ist ein schlechter, ein ganz schlechter, ein Erzhalunke. Er war es auch, der den Kapitän niederschlug.«

»Das überrascht mich nicht zu hören; ohne daß Sie mir das sagen, würde ich allein schon nach der Art, wie er den Mörder entschuldigte, darauf geschworen haben, daß er es war.«

»Stevens hat die ganze Geschichte angezettelt, er und der Koch. Die Mannschaft hätte sicher nicht gemeutert, wenn die beiden nicht so gewühlt hätten. Freilich, es war auch eine grenzenlose Unüberlegtheit von dem Kapitän und dem Maat, die Leute so zu reizen.«

»Das meine ich auch,« stimmte ich bei, »worauf ich aber augenblicklich kommen wollte, wissen Sie, das ist der Punkt in dem Plan der Leute, den Stevens vor mir geheimhält. Meint er es ernstlich, daß ich das Schiff bis auf 50 Meilen an New-Orleans heranführen soll?«

»Ja, Sir, das tut er, das ist alles so, wie er gesagt hat; er will dann beidrehen, die Boote besteigen, nach einer der Mündungen des Mississippi, oder einem andern, vielleicht näher gelegenen Punkt der Küste rudern, dort landen und sich mit den Leuten für Schiffbrüchige ausgeben.«

»So, also wirklich,« entgegnete ich nachdenklich, »dann dürfte die Lösung des Rätsels für mich bei der Einschiffung in die Boote zu suchen sein. Offen gestanden, ich kann mir nicht recht denken, daß er mich mitnehmen wird, denn er hegt Mißtrauen gegen mich. Er ist argwöhnisch, wie es alle Mörder sind.«

Der Hochbootsmann sah mich, während ich sprach, prüfend an, ganz wie ein Mensch, der nach dem Ausdruck des Gesichts eines andern einen Entschluß erwägt. Als ich geendet hatte, bog er sich plötzlich dicht zu mir herüber und flüsterte: »Sie haben ihn richtig erkannt; wissen Sie, was er beabsichtigt? Der Schuft will das Schiff anbohren!«

»Ah!« fuhr ich erschrocken zurück, dem Hochbootsmann fest ins Auge sehend; »ist das wahr?«

»Was ich Ihnen sage, regelrecht anbohren, kurz ehe die Boote abstoßen.«

Ich blickte ihn wie versteinert an; er sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann sprach er ganz leise weiter:

»Und Sie, Sir, sollen auf dem Schiffe zurückgelassen werden.«

»Also anbohren und mich zurücklassen?«

Er nickte.

»Das hat er Ihnen gesagt?«

Er nickte wieder.

»Wann?«

»Soeben.«

»Und was soll aus Mr. Robertson und seiner Tochter werden?«

»Werden ebenfalls zurückgelassen.«

Ich tat einen tiefen Atemzug und legte wie erstarrt Messer und Gabel auf meinen Teller.

In diesem Augenblick schrie der Zimmermann herunter:

»Nun, Maat, wie lange wirst du noch bleiben?«

»Komme schon,« antwortete der Hochbootsmann.

Mit diesen Worten stand er auf und wollte gehen, ich aber hielt ihn fest und sagte: »Bitte, mir kommt da gerade noch ein Gedanke; sollten nicht noch mehrere an Bord sein, denen Stevens nicht traut? Sie werden sie kennen, nennen Sie mir auch nur zwei außer Ihnen, so verpflichte ich mich, das Schiff in unsere Gewalt zu bringen. Ich meine, wenn diesen Leuten im letzten Moment gesagt wird, sie würden zurückgelassen werden, um in dem angebohrten Schiff unterzugehen, so werden sie sich mir anschließen und den Kampf um ihr Leben wagen.«

Er schüttelte schweigend den Kopf und stieg die Treppe hinauf, drehte sich aber noch einmal um und sagte: »Übereilen Sie nichts; ich habe zwei Stunden vor mir und will alles überlegen.«

Ich hatte ihn bis an die Treppe begleitet; jetzt begab ich mich nach meinem Platz zurück, setzte mich wieder und versank in tiefe Gedanken. Die Mitteilung des Hochbootsmannes übertraf alles, was ich nur irgend gefürchtet hatte. Daß Stevens nach dem Versprechen, kein Blut mehr zu vergießen, sich nun doch noch gerade mich und die schuldlosen Personen, die wir gerettet hatten, mit kalter Überlegung zu neuen Opfern auserkor, fand ich teuflisch. Der Gedanke daran betäubte mich förmlich. Zuerst erfaßte mich ein Gefühl der Verzweiflung, allmählich aber verwandelte sich dieses in rasende Wut. Ich mußte alle meine Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht auf Deck zu stürzen und den Schurken auf der Stelle, wo er stand, über den Haufen zu schießen.

Um in meiner grenzenlosen Aufregung keinen unüberlegten Schritt zu tun, eilte ich in die Kapitänskajüte und schloß die Tür hinter mir zu.

Allmählich gelangte ich wieder zu ruhiger Überlegung. Ich erkannte, daß es reiner Wahnsinn sei, es auf einen Kampf ankommen zu lassen; auf wen hätte ich bei einem solchen mit Sicherheit zählen können? Auf den Hochbootsmann? Törichte Einbildung, wie sollte der Mann dazu kommen, sich gewissermaßen für mich zu opfern? Oder auf den Steward? Dieses schwachherzige feige Geschöpf konnte mir überhaupt nur hinderlich werden.

Ich stand ganz allein, und diese Erwägungen stellten mir meine Hilflosigkeit in einer Weise vor Augen, die beinahe vernichtend war. Ich malte mir das ganze mörderische Verfahren so deutlich aus, als wenn es sich schon vor mir abspielte: ich sah das beigedrehte Schiff, die abstoßenden Boote, von denen eins zurückblieb, um Zeuge des Trauerspiels zu sein und nach seiner Beendigung das beruhigende Bewußtsein mitzunehmen, daß nun kein Ankläger mehr zu fürchten sei. Natürlich konnte diese Szene nur in der Dunkelheit vor sich gehen, weil sonst die Boote den ›Grosvenor‹ nicht verlassen konnten, ohne Gefahr zu laufen, von vorübersegelnden Schiffen entdeckt zu werden.

Bei allem Grübeln kam mir schließlich noch der Gedanke, den Moment abzupassen, daß ich einmal mit dem Zimmermann allein wäre, ihn umzubringen und über Bord zu werfen. Nicht einen Augenblick würde ich gezögert haben, diese Tat auszuführen, wenn sich nur die Gelegenheit geboten hätte. Es mußten jedoch viele Umstände zusammentreffen, wenn es mir gelingen sollte, den Elenden heimlich beiseite zu schaffen, ohne daß der Verdacht der Täterschaft auf mich fiel.

Den Kurs des Schiffes zu ändern, war ebenfalls ein Ding der Unmöglichkeit, da ich denselben in Gegenwart der Leute festgestellt hatte; ein vorüberfahrendes Schiff anzurufen, wäre endlich geradezu Tollheit gewesen.

Mochte ich sinnen so viel ich wollte, mir fiel nichts ein, was mein Verstand auch nur annähernd als durchführbar erkannt hätte; ich stand völlig ratlos und verzweifelt am Rande eines Abgrundes und konnte weder vorwärts noch rückwärts.

Ich weiß, daß ich mich durch derartige Geständnisse nicht gerade als Held zeige, aber ich will auch gar nicht für einen solchen gelten. Ich war und bin noch heute ein einfacher Mann, der in eine so furchtbare Lage geraten war, wie sie selten einem Menschen bestimmt ist. Entsetzen und Verzweiflung hatten mich zu jener Zeit alles ruhigen Denkens beraubt und ließen mich kein Rettungsmittel finden; ich muß dies als ehrlicher Mann bekennen. Durch ein paar Federstriche könnte ich mich ja leicht anders zeichnen, aber ich würde dann nicht wahr sein und mir fälschlich einen Ruhm anmaßen, der allein Gott gebührt, durch dessen Gnade ich lebe, um die Sache zu berichten.

Da meine Kleider und andere mir gehörige Sachen noch in der jetzt vom Zimmermann bewohnten Kajüte geblieben waren, rief ich den Steward und befahl ihm, sie mir zu bringen. Mein Ruf wurde von Miß Robertson vernommen, welche sofort aus ihrer Kajüte herauskam, um mir für die ihr und ihrem Vater übersandten Sachen zu danken.

Sie hatte alles aufs beste benützt, ihr Haar war geflochten und mit einem Kamm hübsch aufgesteckt; sie sah in dem einfachen Kragen, den sie trug, allerliebst aus. Ihre totengleiche Blässe hatte einem gesunden Weiß Platz gemacht und ein Anflug von Farbe schmückte ihre Wangen.

»Papa geht es besser, er fragt unaufhörlich nach Ihnen; ich sagte ihm aber, daß Sie der Ruhe bedürften und auch viel zu tun hätten.« Darauf sah sie mich einige Augenblicke ernst an und fragte: »Was ist geschehen, Mr. Royle? Sie sehen verstört und sorgenvoll aus.«

»Es gibt vieles, was mich beunruhigt,« antwortete ich, nicht gerade sorglos, aber auch nicht zu viel Bedeutsamkeit in meinen Ton legend, denn damals dachte ich nicht, daß ich ihr noch die Wahrheit sagen würde. »Sie wissen ja, meine Stellung ist eine schwierige; ich muß mein Handeln sorgfältig überlegen, muß immer wachsam und auf meiner Hut sein.«

»Gewiß, ich weiß das, aber Sie sagten mir doch, daß Sie keine Besorgnis mehr wegen weiterer Gewalttaten hegten.«

Ich sah ihr eine kleine Weile sinnend ins Gesicht und erwog, ob ich sie ins Vertrauen ziehen, ob ich es wagen dürfte, ihr das mörderische Vorhaben des Zimmermanns mitzuteilen. Der ruhige Ausdruck ihrer Augen, ihre ganze Haltung, die so viel Entschlossenheit zeigte, gaben mir die Gewißheit, daß sie die Wahrheit hören konnte, ohne ängstlich zu werden. Deshalb nahm ich nunmehr keinen Anstand, zu sagen:

»Ganz recht, ich hegte in der Tat keine Befürchtung mehr für eine Gefährdung unseres Lebens seitens der Mannschaft, indessen will ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich soeben etwas hörte, was mich aufs äußerste erregt hat. Bitte, wollen Sie mit mir in meine Kajüte kommen, dort sind wir ungestörter.«

Sie trat ein, ich bat sie, Platz zu nehmen, und ohne weitere Umschweife begann ich:

»Ich nahm soeben mit dem Hochbootsmann zusammen mein Frühstück ein, hiebei äußerte ich, daß ich zweifelte, die Leute würden mir gestatten, mit ihnen zu landen, da sie wohl fürchten möchten, ich würde sie alsdann, sobald sich mir Gelegenheit böte, zur Anzeige bringen. Da erwiderte er mir, daß diese Annahme ganz richtig sei, denn ihre Absicht wäre, uns, das heißt Sie, Ihren Vater und mich an Bord zu lassen und das Schiff, kurz vor ihrer Abfahrt mit den Booten, anzubohren.«

»Um uns ertrinken zu lassen?«

»Gewiß, das ist ihr Plan.«

Sie warf ihre Lippen verächtlich auf und drückte ihre Hände vor die Stirn. Das war alles. Welchen Eindruck meine Mitteilung sonst auf sie gemacht haben mochte, war nicht zu erkennen; nur leise sagte sie:

»Es sind Teufel! Für so grausam hätte ich sie doch nicht gehalten; mein armer Vater!«

»Ja, Teufel sind sie alle, der größte aber ist Stevens, von dem geht alles aus; wenn er irgend kann, wird er den Plan ausführen. Ich habe mir schon den Kopf zermartert, um einen Weg zu unserer Rettung zu finden, aber bisher vergeblich. Indessen, drei Wochen liegen noch vor uns, ehe wir den Golf von Mexiko erreichen. In dieser Zeit soll und muß sich etwas finden.«

Sie antwortete nicht, sondern sah nur starr vor sich hin, und während sie so in Gedanken saß, fuhr ich fort:

»Ich will nichts übereilen, mich auf kein unsicheres Wagnis einlassen, keiner Gefahr aussetzen; was ich beschließe, muß seinen Zweck sicher erreichen, denn mein Leben ist mir jetzt teurer als je, da von demselben auch das Ihrige und das Ihres Vaters abhängt. Sie müssen gerettet werden. Mein Kopf wird mich nicht im Stich lassen. Noch bin ich nicht gefangen, wenn ich auch wie eine Maus in der Falle stecke.«

Sie sah zu mir auf und sagte zweifelnd: »Was sollte sich denn tun lassen?«

»Ich werde mit der Zeit darauf kommen und es Ihnen dann mitteilen.«

»Auch ich will nachdenken,« erwiderte sie; »bitte, sprechen Sie aber nicht mit Papa über die Sache.«

»Sicherlich nicht, und außerdem darf auch niemand uns nur im geringsten anmerken, daß wir um den Mordplan wissen, wir müssen vollständig ahnungslos erscheinen.«

»Ist die Mannschaft bewaffnet?«

»Nein.«

Sie ließ ihre Blicke durch die Kajüte schweifen und fragte: »Haben Sie keine Feuerwaffen?«

»Nichts als einen Revolver; aber wenn wir auch zwanzig hätten, so könnte es nichts nützen. So viel ich bis jetzt weiß, befindet sich kein Mann an Bord, der mir beistehen würde, nicht einmal der Hochbootsmann, es sei denn, er hätte die absolute Sicherheit, daß wir die Oberhand behielten.«

»Ach, hätte ich wenigstens noch außer Ihnen einen Revolver, ich würde ihn schon zu führen wissen.«

Sie stützte ihr Kinn in die Hand und blickte gedankenvoll vor sich nieder.

»Warum steuern Sie nicht das Schiff in irgend einen nahen Hafen?« fragte sie plötzlich.

»Ich kann den Kurs des Schiffes nicht mehr ändern, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden; ich muß alles vermeiden, was Argwohn erregen könnte.«

»Sie haben recht, aber wenn sich zum Beispiel ein Sturm erhöbe wie der letzte, bei welchem wir verunglückten, so könnte er uns in die Nähe des Landes treiben, wo wir vielleicht Hilfe fänden.«

»Nein, nur an keine Zufälligkeiten denken, wir müssen uns auf Gott und auf uns selbst verlassen.«

Wir schwiegen beide eine Weile, unsern Gedanken nachhängend, und ich schritt dabei auf und ab. Plötzlich wurden in der großen Kajüte Tritte laut, meine Tür wurde ungestüm aufgestoßen, und Stevens trat herein. Er starrte Miß Robertson an und sagte:

»Bedaure zu stören, wußte nicht, daß Sie hier wären, Ma'am.« Dann wandte er sich an mich: »Ich dachte, ich würde Sie im Bette finden, bin gekommen, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Wie lange rechnen Sie bis New-Orleans?«

»Ungefähr drei Wochen.«

»Gut, für drei Wochen ist jedenfalls Vorrat genug da. Ich habe eben dem Koch gesagt, er solle eins von den Schweinen abstechen; die Leute haben großes Gelüst auf Schweinebraten. Sie waren nahe am Ersaufen, was?« richtete er plötzlich seine Worte wieder an Miß Robertson.

»Ja, mein Vater und ich verdanken unser Leben dem Edelmut der Männer dieses Schiffes, sie müssen ebenso beherzt als gut sein, da sie ihr Leben wagten, um uns zu retten,« antwortete sie mit einem Lächeln von rührender Holdseligkeit, wobei sie dem Bösewicht, der mit der Mütze auf dem Kopf vor ihr stand, freimütig ins Gesicht schaute.

»Gott segne Sie!« schrie er, »da war keine Gefahr; ich würde bei der See für fünf Schilling bis zu Ihnen geschwommen sein.«

»Das glaube ich wohl,« entgegnete sie, »aber ich weiß auch, daß englische Seeleute ihre heldenmütigen Taten immer unterschätzen. Glücklicherweise ist mein Vater aber ein reicher Mann, und er wird sicherlich, sobald er wieder am Lande ist, allen Leuten dieses Schiffes seine Dankbarkeit bezeugen.«

»O, ist er reich?« rief der Zimmermann, als ob ihn ein neuer Gedanke durchblitzte.

»Sehr reich.«

»Wie reich mag er wohl sein, Ma'am?«

»Nun, ihm gehörte das Schiff, von dem Sie uns retteten, Schiff und Ladung.«

Sie hätte dem Kerl keine bessere Vorstellung von dem Reichtum geben können, denn den Wert eines Schiffes von solcher Größe verstand er zu schätzen.

»Und was würde er wohl der Mannschaft für seine Rettung geben?«

»Keinem Mann weniger als hundert Pfund,« sagte sie einfach.

Er riß die Mütze vom Kopf und ließ sie dabei fallen; als er sie wieder langsam aufgehoben hatte, sah er Miß Robertson sehr eigentümlich an, wandte sich nun zu mir und sagte mit beinahe beleidigender Kürze:

»Kommen Sie, wir wollen jetzt die Karte ansehen.«

»Entschuldigen Sie einen Augenblick, bis ich Miß Robertson wieder zu ihrem Vater gebracht habe,« erwiderte ich ihm und geleitete sie nach ihrer Koje.

Als ich zurückkehrte, fand ich ihn über der Karte liegend, auf der er mit seinem schmutzigen Zeigfinger herumfuhr.

»Wo sind wir jetzt ungefähr?« fragte er.

Ich bezeichnete ihm die Stelle.

»Was ist das hier für eine Linie?«

»Das ist die Länge.«

Er sah nach dem unteren Ende der Karte und sagte:

»Also dreißig, ist das so?«

»Ganz richtig, dreißig.«

»Aber wie nennen Sie es?«

»Nun dreißig, ich sage es Ihnen ja, den dreißigsten Grad westlicher Länge.«

»Und diese Linie ist dann vermutlich die Breite?«

»Ja.«

»Da steht vierzig.«

»Sagen wir vierundvierzig.«

»So, das ist genau richtig?«

»Ja.«

»Und was bedeuten denn hier die kleinen Dinger? Mich soll der Teufel holen, wenn ich die kleine Schrift lesen kann.«

»Das sind die Azoren.«

»O, wir sind also nördlich von denen, was?« fragte er in scharfem Ton.

»Nun, Sie können es ja selbst sehen.«

»Aber wo ist der verfluchte Golf von Mexiko?«

»Da.«

Er zog mit seinem schmutzigen Daumen eine Linie bis zum Golf, streifte dabei Bermuda und fragte:

»Was ist denn das?«

»Bermuda.«

»Davon werden Sie doch südlich halten, wie?«

»Wenn ich kann, gewiß.«

»Dort ist eine Station für Kriegsschiffe, wie ich gehört habe.«

»Ja, ich glaube es ist so.«

Nun nahm er den Bootskompaß, der auf dem Tische stand und fragte, ob er richtig wäre.

Nachdem ich das bejaht hatte, wollte er gehen, ich hielt ihn aber noch auf, indem ich äußerte: »Hören Sie einmal, die hundert Pfund, von denen die junge Dame sprach, möchte ich ganz gerne verdienen.«

»Ich auch,« antwortete er in mürrischem Ton.

»Es würde mir ein hübscher Ersatz sein für das, was ich noch von dem Kapitän zu fordern hatte.«

»Ja, das glaube ich schon,« lachte er höhnisch, »wenn Sie es nur bekämen, aber das ist so eine Sache, versprechen kann man so etwas sehr leicht.«

Mit diesen Worten ging er und warf die Tür hinter sich zu.


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