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Neuntes Kapitel.
Meine Schützlinge.

Da die Leute die ganze Nacht auf den Beinen gewesen waren, riet ich dem Zimmermann, ihnen zu sagen, daß die Wachen nicht geändert würden und die Freiwache sich deshalb schlafen legen solle.

Wie mir schien, forderten einige Leute Rum; der Zimmermann wies sie jedoch ab, indem er sagte, daß bis zum Frühstück kein solcher ausgeteilt werden würde, und wenn sie noch lange davon redeten, würde er die Fässer anbohren und auslaufen lassen. Wenn sie anfangen wollten zu trinken, so würde es nicht lange dauern, bis das Schiff in Not geriete. Dann könnte ein anderes Schiff sich ihrer bemächtigen und sie alle miteinander nach England schleppen, und was sie dort erwarte, das wüßten sie ja.

Solche Worte aus dem Munde des Mannes, welcher ihr Ratgeber und Führer bei der Meuterei gewesen war, verfehlten ihre Wirkung nicht, und diejenigen, welche Rum gefordert hatten, wurden von ihren Maats sehr schnell zur Vernunft gebracht.

Die Furcht vor einer Möglichkeit, wie sie der Zimmermann geschildert hatte, war so groß, daß, wenn in diesem Augenblick einer den Vorschlag gemacht hätte, alle Rumfässer über Bord zu werfen, die meisten zugestimmt hätten und die Sache ausgeführt worden wäre.

Während der Zimmermann sich in dieser Angelegenheit mit der Mannschaft beschäftigte, benutzte ich seine Abwesenheit, um dem Hochbootsmann einige Fragen über die Meuterei zu stellen und ihn über das Vorhaben der Leute auszuforschen, welches der Zimmermann verschwiegen hatte. Der Hochbootsmann, welcher im Grunde ein ehrlicher Mensch war, erklärte, daß er keine Ahnung von dem seitens des Zimmermanns geheim gehaltenen Plan hätte, versprach mir aber, Johnson oder andere, die darum wüßten, auszuholen, und wenn er etwas erfahren hätte, es mich wissen zu lassen.

Er sagte mir, daß er sich an der Meuterei habe beteiligen müssen, um sein Leben zu erhalten, denn die Leute hätten ihn immer in Verdacht gehabt, daß er es mit dem Kapitän hielte. Jetzt verfolge ihn fortwährend der Gedanke, wie die ganze Sache enden solle. Wenn er es irgend einrichten könne, sich von den Leuten zu trennen, so würde er es tun; das Schiff zu verlassen und in offenen Booten nach dem Lande zu steuern, wie es die Absicht sei, schlösse die Gefahr nicht aus, unterwegs in irgend einer Weise angehalten zu werden. Sollten die Boote aber auch das Land ungehindert erreichen, so wäre hundert gegen eins zu wetten, daß die Leute, nach ihren Schicksalen und allen Umständen befragt, sich zum großen Teil durch ihre Antworten verdächtig machen würden.

Hier wurde unsere Unterhaltung durch den Zimmermann unterbrochen, welcher kam, um mich aufzufordern, die Wache zu übernehmen, damit er und der Hochbootsmann sich zu Bett legen könnten, er wenigstens wäre wie zerschlagen und zu keiner Arbeit fähig, bis er ausgeschlafen hätte.

Es war jetzt voller Tag, der Osten erfüllt von der Pracht der aufgehenden Sonne. Ich entdeckte windwärts ein Segel, welches nach Osten steuerte. Durch das Glas erkannte ich, daß es ein kleiner Topsegelschoner war, aber da wir bei frischer Brise gute Fahrt machten, verlor ich ihn bald aus dem Gesicht.

Der Anblick dieses Schiffes veranlaßte mich jedoch, über meine Lage nachzudenken. In welchem Lichte mußte ich erscheinen, welche Behandlung würde mir zuteil werden, wenn ich die Geschichte dieser Meuterei erzählte, vorausgesetzt, ich erreichte überhaupt noch jemals das Land. Doch diese Sorge stand vorläufig in zweiter Linie, das, was mich gegenwärtig am meisten beschäftigte und ängstigte, war der Gedanke, was die Leute mit mir anfangen würden, wenn ich sie an die von ihnen erwünschte Stelle gebracht hätte. Es war kaum denkbar, daß sie mir, dem Zeugen ihrer mörderischen Taten gestatten würden, mein Leben zu retten. Mochten sie mir augenblicklich beteuern, was sie wollten, Vertrauen darauf konnte ich nicht haben. Sie waren und blieben Verbrecher, von denen ich nichts anderes erwarten konnte, als daß sie mich ohne jedes Besinnen mit kaltem Blut morden würden, wenn die Aussichten auf ihr Entkommen sich durch meinen Tod verbesserten. Ebenso war ich fest überzeugt davon, daß ich das Schicksal Coxons und Ducklings geteilt haben würde, wenn sie nicht einer Person bedurft hätten, welche die Schiffsführung verstand und geeignet war, sie aus den Gefahren herauszubringen, in denen sie sich nach Verübung ihrer Taten befanden.

Meine Aufregung war größer, als ich eingestehen mochte. Ich entwarf im stillen alle möglichen und unmöglichen Pläne zu meiner Errettung aus dieser Drangsal, immer aber im Hinblick auf die beiden Schiffbrüchigen.

Einen Augenblick dachte ich daran, den Hochbootsmann ins Vertrauen zu ziehen, im geheimen Lebensmittel in eins der Boote zu verstauen, eine Gelegenheit abzupassen und mich mit ihm und unsern Passagieren, im Schutz der Nacht davonzustehlen. Dann wieder erschien es mir besser, durch ihn die Stimmung der Leute sondieren zu lassen, um zu erfahren, ob einige darunter wären, die sich auf unsere Seite stellen würden, wenn wir zu den Waffen griffen und es auf einen Kampf mit dem übelgesinnten Teil der Mannschaft ankommen ließen.

Einen Augenblick dachte ich auch daran, sie in dem Kurs des Schiffes zu täuschen und plötzlich in einen Hafen einzulaufen. Das war aber natürlich eine ganz überflüssige Idee, denn sie war absolut unausführbar.

Um die Mannschaft sehen zu lassen, daß ich meinem Dienst ganz wie früher oblag, verließ ich das Deck nicht, bis es sechs Uhr war. Der Morgen war um diese Zeit sehr schön, die Brise duftig und warm, und das Wasser so blau wie der Himmel.

Als ich in die früher von mir bewohnte Kajüte ging, um den Zimmermann zu wecken, fand ich ihn mit den Stiefeln auf den Füßen auf meiner Matratze liegend und eine mir gehörige Pfeife in der Hand. Ich sagte ihm, das Schiff könne jetzt alle kleinen Segel tragen und riet ihm, diese zu setzen. Er stieg in ziemlich guter Laune von der Pritsche und ging durch die große Kajüte. Als er im Begriff stand, die Treppe hinaufzusteigen, fragte ich ihn, ob er jetzt wohl den Steward sehen wolle, um mit diesem über die Kajütenvorräte zu sprechen, es wäre mir lieber, sagte ich, wenn er dem Manne die nötigen Befehle erteilte, da ihm die Wünsche der Leute am besten bekannt wären. Die Wahrheit war aber, daß ich ihm so viel als möglich Verantwortung aufbürden wollte, um jede Unzufriedenheit mit meiner Leitung der Geschäfte tunlichst zu vermeiden.

»Meinetwegen, schaffen Sie ihn her, wo steckt er?« erwiderte er und kam zurück.

»Steward,« rief ich.

Nach einer kleinen Weile wurde die Tür der Kapitänskajüte geöffnet und der Steward erschien. Ein so kummervolles, blutleeres Gesicht, mit so verzweifeltem Ausdruck, roten Augen und bebendem Munde hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Seine Hände hingen wie die eines Blödsinnigen herab, seine Knie schlotterten, und das Haar war vom Angstschweiß zusammengeklebt.

»Na, junger Mensch,« schrie ihn der Zimmermann an (nebenbei gesagt, war der Steward ungefähr vierzig Jahre alt), »was denkst du, daß mit dir geschehen wird, he? Willst du gehangen werden, oder gefällt dir das Ersaufen besser, oder soll der Koch, der sehr geschickt mit dem Messer ist, dich schlachten? Sag, was willst du dir wählen?«

Der Unglücksmensch wandte seine Augen wie geistesverwirrt auf mich, und seine bläulich weißen Lippen zuckten konvulsivisch.

»Ach, Mr. Stevens scherzt ja nur,« tröstete ich ihn lachend, dachte aber dabei in meinem Innern, wie gern ich den elenden Schurken massakrieren würde, der sich an der Angst des armen Geschöpfes so zu weiden vermochte. »Mr. Stevens will mit dir über die jetzige Verpflegung der Leute sprechen.«

»Zu Befehl, Sir,« stammelte er endlich, sah dabei demütig zu dem Zimmermann auf und faltete seine Hände, wie um sich dadurch mehr Festigkeit zu geben.

Der Zimmermann lehnte am Besanmast, die Hände in den Hosentaschen, und hob an:

»Du wirst begreifen, Mensch, daß die Verhältnisse an Bord jetzt andere geworden sind, wir sind jetzt alle gleich, keiner ist mehr, wie der andere, nur du bist die einzige Ausnahme, du bist nichts, du bist eine Null, denn dir Hundsfott hat es Freude gemacht, uns mit verfaultem Fraß zu vergiften. Nun höre: Du sollst dein Amt behalten, den Leuten aber von jetzt ab von den Kajütenvorräten geben und außerdem täglich jedem Mann drei Maß Rum. Mr. Royle wird dir sagen, wie lange unsere Fahrt dauern wird, und du wirst eine Berechnung machen, auf Grund deren jeder Mann seinen richtigen Anteil erhält. Nur du,« fuhr er fort, indem er seinen Tabakssaft ausspie, »darfst nichts anderes anrühren, als das, was du uns bisher gabst. Das merke dir. Wenn wir dich dabei ertappen, daß du auch nur so viel, wie die Hälfte eines Zwiebacks von unserer Verpflegung nimmst, dann, bei Moses und allen Propheten, sollst du in kürzerer Zeit an der Fockraanocke baumeln, als du ›Amen‹ sprechen kannst.« Hiebei schüttelte er drohend seine Faust vor dem Gesicht des Unglücklichen und fragte dann, sich an mich wendend:

»Das war ja wohl alles, was zu sagen war?«

»Alles,« erwiderte ich, und der Steward wankte gebeugt nach der Speisekammer, während der Zimmermann die Treppe hinaufstieg.

Ich betrat die Kajüte, welche ich zur Vermeidung von Mißverständnissen auch fernerhin die Kapitänskajüte nennen werde und setzte mich dort auf einen Stuhl vor dem großen Tisch. Die Kajüte war behaglich ausgestattet, mit hängenden Bücherbrettern, einer schönen Landkarte, einigen Bildern von Schiffen, einer Hängebettstelle und mehreren Mahagonikästen, die mit Polsterkissen belegt waren, um als Sitze dienen zu können.

Neben Schreibmaterialien, Meßinstrumenten, einem Bootskompaß und verschiedenen andern Dingen, mit denen der Tisch bedeckt war, fand ich auch einen amerikanischen, fünfläufigen Revolver, welcher, wie ich entdeckte, geladen war. Ich steckte ihn, nebst einer Schachtel dazugehöriger Patronen, sogleich in meine Tasche.

Ich freute mich meines glücklichen Fundes, denn ich konnte nicht wissen, ob nicht einmal ein Augenblick kommen würde, wo mir diese Waffe unentbehrlich war. Die Sehnsucht, vielleicht noch mehr zu finden, trieb mich dazu die Kasten zu durchstöbern; ich suchte mit einem wahrhaft fieberhaften Eifer, denn ich war der Meinung, daß, wenn es dem Hochbootsmann gelang, auch nur einen einzigen Mann der Besatzung auf unsere Seite zu bringen, im äußersten Notfall schon ein Kampf gewagt werden könnte. Drei entschlossene Männer mit Revolvern in der Hand, gaben schon ein gutes Übergewicht und konnten mit Ruhe und Besonnenheit eine solche Zahl Leute töten, oder wenigstens kampfunfähig machen, daß mit den übrigbleibenden fertig zu werden war.

Zu meiner großen Enttäuschung erwies sich jedoch all mein Suchen als fruchtlos. Alles, was ich fand, waren Kleidungsstücke, Papiere, Karten, alle Loggbücher, Zigarren und ein Beutel, welcher etwa dreißig Pfund in Silber enthielt.

Während ich in der Weise beschäftigt war, wurde an die Tür geklopft und auf mein ›Herein‹ trat das junge Mädchen ein. Ich begrüßte sie herzlich, forderte sie auf, Platz zu nehmen und erkundigte mich nach dem Befinden ihres Vaters.

»Er ist noch sehr schwach,« antwortete sie, »aber es geht ihm doch wenigstens nicht schlimmer. Ich hörte soeben Ihre Stimme und bemerkte, daß Sie sich in diese Kajüte begaben. Wenn ich Sie nicht störe, möchte ich Ihnen einige Mitteilungen über uns machen.«

»Nichts könnte mir angenehmer sein; darf ich so unbescheiden sein, Sie um Ihren Namen zu bitten?«

»Marie Robertson. Mein Vater ist Kaufherr in Liverpool, Mr. Royle, und das Schiff, in dem wir Schiffbruch litten, gehörte ihm. O!« rief sie, ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckend, »viele Stunden lang erwarteten wir jeden Augenblick den Tod. Noch immer ist es mir wie ein Traum, daß wir gerettet sind, und dann ist mir manchmal wieder, als ob alles, was geschehen, nur eine schreckliche krankhafte Einbildung wäre. Ich glaube, ich stand am Rande des Wahnsinns, als ich Ihr Schiff sah; ich hielt Ihr Boot für eine Vision und war ganz darauf gefaßt, dieselbe sich in Nebel auflösen zu sehen. Es war entsetzlich, mit dem Toten und dem irrsinnig gewordenen Matrosen eingesperrt zu sein. Letzterer verlor schon am ersten Tage unseres Unglücks den Verstand, und als der andere ganz plötzlich mit einem furchtbaren Aufschrei starb, zeigte der Wahnsinnige fortwährend auf ihn unter schrecklichem Geheul. Papa und ich waren seiner Wut vollständig preisgegeben, falls Tobsucht bei ihm ausbrach, denn wir konnten aus dem Hause nicht heraus, weil das Wasser, welches ununterbrochen dagegenspülte, uns sofort über Bord geschwemmt haben würde.«

Sie erzählte mir dies alles in Absätzen, wie wenn die Erinnerung an die Schreckensstunden, die sie erlebt, ihr fast die Sprache raubte.

Plötzlich sah sie mit einem Lächeln von wunderbarer Holdseligkeit auf und, meine Hand ergreifend, rief sie:

»Wie viel Dank schulden wir Ihnen, wie gut sind Sie, welchen Mut haben Sie bewiesen!«

»Sie zollen mir unverdient viel Anerkennung, Miß Robertson. Meine Tat entsprang dem einfachen Gefühl der Menschlichkeit; sie erforderte weder große Anstrengung noch besondere Kühnheit. Hätte ich wirklich mein Leben dabei gewagt, so würde ich kaum mehr getan haben als meine Pflicht. Wie wurden Sie denn gestern hier aufgenommen? Ich hoffe gut?«

»O ja. Der Kapitän befahl dem Steward, uns alles zu geben, was wir wünschten. Ich glaube, der Wein, den er uns schickte, rettete Papa das Leben. Er war im Vergehen, erholte sich aber bald, nachdem er davon getrunken hatte. Ich bin in großer Verlegenheit,« wechselte sie plötzlich den Gegenstand, während eine zarte Röte ihre Wangen färbte, »ich besitze nicht einmal ein Stückchen Band, um mein Haar aufbinden zu können.«

»Ist nichts in dieser Kajüte, was Ihnen von Nutzen sein könnte? Hier z. B. ist eine Haarbürste, sie sieht noch ziemlich neu aus. Ob ich imstande sein werde, ein Stückchen Band unter uns aufzutreiben, weiß ich nicht, aber soeben kam mir hier beim Kramen ein Stück Zeug unter die Hände, und wenn Sie damit etwas anfangen können, – Nadel und Zwirn kann ich Ihnen leicht verschaffen, – so will ich es Ihnen in Ihre Kajüte bringen. Für Ihren Herrn Vater sind ausreichend Kleidungsstücke vorhanden, deren er sich bedienen kann, bis seine eigenen wieder in Ordnung gebracht sind; aber wie könnte ich Ihnen in dieser Beziehung helfen? Das hat mir schon viel Kopfschmerzen gemacht.«

»Wollen Sie mir den Stoff zeigen, von dem Sie eben sprachen?«

»Hier ist er,« sagte ich, das Stück aus dem Kasten nehmend.

»Ah,« rief sie, mit einem reizenden Lächeln, »das ist Serge, die kann ich gut verwenden.«

»Das freut mich, wenn Sie noch etwas verziehen wollen, findet sich vielleicht noch mehr, was Ihnen von Nutzen sein könnte.«

Ich eilte in meine Kajüte und holte ein Paar gestickte, noch unbenutzte Pantoffeln. Mit Vergnügen überreichte ich ihr diese, indem ich die Hoffnung aussprach, daß sie sich dieselben auf irgend eine Weise passend machen würde.

»Ich habe auch noch andere Gedanken, Miß Robertson,« fügte ich hinzu, »von denen ich hoffe, daß sie beitragen werden, es Ihnen mit der Zeit ein bißchen behaglicher zu machen, ein Seemann muß sich eben in allen Lagen zu helfen wissen.«

Sie nahm die Pantoffeln mit freundlichem Dankesblick und legte sie neben das Zeugstück, dann fragte sie mit besorgtem Ausdruck, was die Leute für Absichten hätten.

Ich erzählte ihr offen, so viel ich wußte, verriet jedoch keine Befürchtungen in bezug auf ihre, ihres Vaters, oder meine Sicherheit, sondern schilderte ihr unsere Lage, den Verhältnissen nach, in möglichst rosigen Farben.

»Ich vermute,« sagte ich, »daß wenn der Moment kommt, wo die Leute die Boote besteigen, sie uns zwingen werden, an Bord zu bleiben und es uns überlassen, allein mit dem Schiff fertig zu werden. Dies wäre noch nicht das Schlimmste, denn ich bin fest überzeugt, daß sie den Hochbootsmann und den Steward nicht mitnehmen werden. Mit Hilfe dieser beiden dürfte es uns schon gelingen, den nächsten Hafen zu erreichen, oder durch ein in Sicht kommendes Schiff Hilfe zu erhalten.«

Es schien mir, als teile sie meine Anschauung nicht und wolle Zweifel äußern, statt dessen aber sagte sie:

»Es mag kommen, was da will, Mr. Royle, so lange Sie bei uns sind, werden wir uns sicher fühlen.« Darauf stand sie plötzlich auf und bat mich, sie zu begleiten, um ihren Vater zu besuchen.

Der alte Herr lag auf einer der oberen Pritschen und war mit einer wollenen Decke bedeckt. Er sah wie ein Toter aus, mit seinem kreidebleichen, eingefallenen Gesicht; sein weißes Haar, und sein langer Backenbart hingen wirr um ihn; mit geschlossenen Augen, die abgezehrten Hände auf der Decke gefaltet, lag er völlig still.

Ich dachte, er schliefe, sie aber flüsterte: »Papa, hier ist Mr. Royle,« worauf er die Augen aufschlug und mich anblickte. Er bedurfte einiger Zeit, ehe er zum klaren Bewußtsein kam, dann aber reichte er mir die Hand, die ich mit Rührung ergriff, als ich sah, daß seinen Augen Tränen entflossen.

»Sir,« sprach er mit schwacher, zitternder Stimme, »ich kann Ihnen nur sagen: Gott segne Sie.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Robertson,« erwiderte ich in möglichst heiterem Tone, »bitte sprechen Sie aber nicht weiter, schonen Sie sich, damit Sie bald wieder wohlauf vor uns stehen. Ihr Fräulein Tochter hat gottlob die entsetzlichen Schrecknisse der letzten Tage gut überstanden, jetzt handelt es sich nur noch darum, daß auch Sie wieder zu Kräften kommen. Haben Sie geschlafen?«

»Ach ja, ich habe geschlafen, ein wenig, danke Ihnen. Sir, ich habe mehr durchgemacht, als ich geglaubt habe ertragen zu können.«

Ich flüsterte Miß Robertson zu:

»Lassen Sie mich Ihnen eine Stärkung holen, die Ihnen beiden gut tun wird; in einer Minute bin ich wieder hier.«

Ich verließ die Koje und begab mich eilends in die Speisekammer. Hier fand ich den Steward, welcher auf einer Kiste saß, seine beiden Hände an die Schläfen gepreßt.

»Kerl,« schrie ich ihn an, »sitz nicht so da, als wenn du sterben wolltest; wo steht der Brandy?«

Er deutete mechanisch auf ein Gestell; ich nahm eine Flasche, goß ihm ein Glas ein, um ihm Mut zu machen, und fragte ihn dann nach Eiern. Ein Schubfach aufziehend, reichte er mir vier, das gestrige Geschenk unserer Hennen. Ich schlug je zwei in zwei Becher, mischte sie mit Brandy, und ging mit diesem Gebräu wieder zurück.

»Hier, Miß Robertson,« sagte ich, »ist meine Medizin, tun Sie mir den Gefallen, nehmen Sie sie, und Sie, Sir, werden hoffentlich nicht auf das Beispiel Ihres Fräulein Tochter warten.«

Zu meiner großen Freude genossen beide den Trank, auf dessen Bereitung ich sehr stolz war, und nach wenigen Augenblicken schon zeigte sich eine entschieden günstige Wirkung bei Mr. Robertson, denn er dankte mir mit weit stärkerer Stimme als vorher für meine Güte.

»Ich kenne kein besseres Stärkungsmittel,« sagte ich, als ich Miß Robertson den Becher abnahm, »ich freue mich, daß Sie es nicht verschmähten.«

Sie sagte darauf nichts, aber der Blick, den sie auf mich richtete, war beredter als Worte.

»Nun werde ich mich aber wieder entfernen,« wandte ich mich an den alten Herrn; »ich will doch sehen, ob ich nicht mit Hilfe des Steward noch einiges zur Bereicherung der Toilette Ihrer Fräulein Tochter aufzutreiben vermag.«

»Nein, verlassen Sie uns noch nicht,« rief er, »Ihre Gesellschaft tut mir gut, Sir, sie belebt mich; ich möchte Ihnen unsere Geschichte erzählen. Sehen Sie, die ›Cecilia‹ war mein Eigentum; ich bin Kaufmann und handelte größtenteils nach dem Kap, dem Kap der guten Hoffnung. Ich nahm im vorigen Jahr meine Tochter, mein einziges Kind, nach der Kapstadt mit, ich wünschte eine Veränderung, einen Luftwechsel für sie. Meine Absicht war, noch ein Jahr dort zu bleiben, meiner Tochter aber gefiel es nicht mehr, sie sehnte sich nach Haus, und – und – nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, Mister – Mister –«

»Royle,« half Miß Robertson ein.

»Ach ja, Mister Royle, also wie ich Ihnen schon sagte, meine Tochter wollte weg, und da schifften wir uns auf der ›Cecilia‹ ein, welche gerade für die Nachhausefahrt Ladung in Kapstadt einnahm. Es war ein festes gutes Schiff, und wir reisten auch nicht allein, ein Herr kam noch mit uns, namens – namens –«

»Jameson, Papa.«

»Richtig, der arme Jameson, der arme, arme Mensch!« Er verbarg sein Gesicht und schwieg wohl eine Minute lang, dann sah er wieder auf und fuhr fort:

»Es begann furchtbar zu wehen, ganz plötzlich, ein schrecklicher Sturm, er überraschte das Schiff in der Windstille, es war nicht darauf vorbereitet, alle drei Masten gingen über Bord. O Gott, was für eine entsetzliche Nacht war das! Die Leute verloren den Kopf, schrieen: das Schiff ginge mit dem Stern herunter, und stürzten in die Boote, eines davon verschwand schnell in der Dunkelheit, das andere kenterte. Dann kam der Kapitän und sagte: das Schiff sänke, es sei leck. Ja, es sank, aber zum Glück nur langsam; das Wasser schlug über Deck und wir liefen in unserer Angst in das Deckhaus, in welchem Sie uns fanden. Von dort rief ich dem Kapitän durch das Fenster zu, er möchte doch zu uns kommen; als er im Begriffe war, dies zu tun, kam eine Sturzsee und riß ihn über Bord. So blieben nur ich, meine Tochter, Mr. Jameson und – und – ach, erzähle du das übrige, mein armes Kind,« hauchte er plötzlich, seine Augen mit den Händen bedeckend.

Schon während ihr Vater erzählte, hatte Miß Robertson diesen mit einem Ausdruck unbeschreiblichen Schmerzes betrachtet, und wahrhaft herzbrechend war es, sie jetzt zu sehen, wie sie dastand, krampfhaft schluchzend, aber ohne Tränen. Eine ganze Weile herrschte tiefe Stille. Ich unterbrach dieselbe, indem ich fragte: »Wo lebten Sie, ehe Sie nach Kapstadt gingen?«

Sie faßte sich schnell und erwiderte: »Unser eigentlicher Wohnsitz ist Liverpool, mein Vater hat aber noch ein Gut bei Leamington, und dort habe ich die meiste Zeit zugebracht, weil meine verstorbene Mutter da begraben ist. Liverpool liebe ich nicht.«

»Sagen Sie, Sir,« begann auf einmal wieder Mr. Robertson, »haben Sie die Leiche des armen Jameson mitgebracht?«

»Sie meinen die Leiche, die im Deckhaus lag? Die ließ ich auf dem Wrack zurück, ich konnte mich nicht länger als unumgänglich nötig aufhalten.«

»Gewiß, gewiß, Sir, Sie taten, was Sie nur irgend konnten, Ihre Aufopferung und Mut waren groß. Lassen Sie mich überlegen. Sie sind nicht der Kapitän des Schiffes? Ich glaube, mein Kind, du sagtest, dieser Herr wäre der Maat; wo ist der Kapitän, Sir?«

Miß Robertson legte den Finger auf ihren Mund, was mich mit der Antwort zögern ließ. Der alte Herr überhob mich aber gleich selbst einer solchen, denn sein Gedächtnis war schon sehr schwach, er fragte gleich weiter: »Wohin geht das Schiff?«

»Nach New-Orleans,« entgegnete ich, seiner Tochter einen Blick zuwerfend.

»New-Orleans!« sagte er; »erlauben Sie einen Augenblick, ah ja, das ist hinter Westindien«; und mit großem Eifer fuhr er fort: »Wollen Sie an einer der westindischen Inseln anlegen? Ich bin in Kingston bekannt, habe dort mit einer Firma in bedeutenden Handelsverbindungen gestanden. Weißt du, mein Kind, Raymondi und Kompagnie. Ah, da würden wir sehr freundlich aufgenommen werden, könnten uns dort neue Kleider kaufen und dann mit einem Passagierdampfer heimreisen. Ha! ha! ha! Wie doch alles anders kommt, als man denkt!«

Mit diesem matten, traurigen Lachen legte er sich zurück, schloß wieder die Augen und schwieg. Ich will nicht behaupten, daß sein Verstand verwirrt war; aber unfraglich hatte sein Geist durch die Schrecknisse, die er erlebt, und die Leiden, die er erduldet hatte, gelitten. Es war dies auch nicht zum Verwundern, denn er zählte gewiß schon siebzig Jahre, während seine Tochter kaum mehr als zwanzig sein mochte.

Da ich die Zeit, wo der Zimmermann die Wache hatte, benutzen wollte, um alles zu tun, was ich konnte, um diesen Unglücklichen ihre Lage möglichst erträglich zu gestalten, verließ ich sie jetzt und rief den Steward. Dieser kam mit angstvoller Eilfertigkeit, schielte aber fast bei jedem Schritt furchtsam durch das Fenster nach dem Hauptdeck, auf dem sich einige der Leute aufhielten.

Ich übergab ihm die Haarbürste zur Reinigung, stellte dann verschiedene Toilettengegenstände des unglücklichen Schiffers auf ein Tablett und schickte dieses Miß Robertson. Als dies geschehen war, bereitete ich auf einer mir gehörigen Spirituslampe Tee, richtete feines weißes Schiffsbrot, kaltes Geflügel, Schinken und eingelegte Früchte an und sandte dies ebenfalls an Vater und Tochter.

Es machte mir ein unendliches Vergnügen, den Entbehrungen dieser neuen Freunde abzuhelfen, und ich vergaß dabei beinahe die gefährliche Lage, in der ich mich befand. Coxons Habseligkeiten durchkramte ich gründlich, denn ich hielt mich für vollkommen berechtigt, sie zum besten des armen Mr. Robertson zu benutzen und schickte ihm einen guten Anzug, reine Wäsche und einen warmen Überzieher.

Der Steward gehorchte mir sehr demütig und dienstbeflissen. Er hielt sein Leben noch immer für gefährdet und glaubte, er würde der Wut der Leute doch schließlich noch zum Opfer fallen, sobald er die Kajüte verließe. Ich fand ihn indessen sehr nützlich, denn er gab mir einige vortreffliche Winke und teilte mir zu meinem großen Entzücken mit, daß er in dem Zwischendeck eine Kiste mit weiblichen Unterkleidern verstaut habe, welche seine Frau für ihre in Valparaiso lebende Schwester zum Geschenk bestimmt hatte und die zu meiner Verfügung ständen.

Ich forderte ihn auf, sogleich mit mir herunterzusteigen und die Kiste hervorzuholen. Dieses Geschäft kostete uns mehr als zwanzig Minuten, denn wir mußten erst eine Anzahl von Vogelkäfigen, eine Menge leichter Holzschachteln mit Puppen und anderes Spielzeug beiseite räumen. Wir brachten die Kiste in die Kajüte, und der Steward schloß sie auf. Er hob den Deckel, brach aber in Tränen aus, als er obenaufliegend einen Brief seiner Frau bemerkte, den diese an ihre Schwester geschrieben hatte.

Ich sagte ihm, er möchte sich den Brief verwahren und überzeugt sein, daß wenn alles mit uns gut ginge, seine Schwägerin reichlichen Ersatz für ihr verlorenes Eigentum erhalten würde.

»Ach Gott, ich denke ja nicht an die Kleider, Sir,« jammerte der arme Kerl, »sondern an meine Frau und mein Kind, die ich wohl nie wiedersehen werde.«

»Unsinn!« rief ich. »Mensch, quäle dich nicht mit so dummen Gedanken, tue ich es denn, oder einer von den beiden armen Leuten dort in der Kajüte? Und sind wir auch nur ein Haar besser daran, als du? Kerl, nimm endlich Vernunft an und sei kein altes Weib. Bedenke, daß wir zusammenhalten, uns untereinander beistehen und allen Schwierigkeiten und Kümmernissen mit kühner Stirn entgegentreten müssen. Das Schlimmste ist noch nicht geschehen; und wir dürfen nicht in der bloßen Erwartung der Dinge, die vielleicht einmal kommen könnten, jetzt schon den Verstand verlieren. Also immer den Kopf oben, alter Bursche. Noch leben wir, und ich denke, Gott wird uns schon aus all dieser Not herausführen. So und nun nimm hier die Sachen und bringe sie Miß Robertson.«

Er ging; ich sah ihm mit wonnigen Gefühlen nach, denn ich dachte, wie froh das liebe Mädchen sein würde, die Kleider wechseln zu können. Wenn sie auch nur für eine arme Arbeitsfrau bestimmt gewesen, so mußten sie doch selbst der verwöhntesten Prinzeß unter den gegenwärtigen Verhältnissen willkommen sein.


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