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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Leck.

Der Himmel war jetzt ringsum klar, die Sterne blinkten groß und hell, der Wind war aber noch heftig und die See ging hohl. Mutterseelenallein auf Deck, hatte ich alle Muße, nachzudenken, und ich überlegte zunächst, was zu tun sein würde, sobald es der Wind erlaubte.

Wir lagen seit dem Beidrehen mit der Spitze nach Westen und waren breitseit nach Süd-Südosten getrieben worden. Wenn See und Wind ruhiger wurden, mußten wir versuchen, Segel zu setzen, um, durch Lavieren in nordöstlicher Richtung, wieder auf unsern Kurs nach den Bermudas zu kommen. Wahrscheinlich war es aber, daß wir bald auf ein vorüberfahrendes Schiff stießen, welches uns aufnahm. Es wäre ein ganz außergewöhnliches Unglück gewesen, wenn dieser Fall nicht eintrat, denn wir befanden uns auf einer der großen Verkehrsstraßen des Ozeans, auf welcher englische, amerikanische, holländische und französische Schiffe aus allen Teilen der Welt kamen und gingen.

Mein großer Wunsch war es allerdings, das Schiff zu bergen und es persönlich, wenn auch nicht gerade nach England, so doch nach irgend einem Hafen zu bringen, von welchem aus ich den Reedern hätte Mitteilung machen und Anweisungen einholen können.

Wie ich schon früher einmal erwähnt habe, war ich gänzlich von meinem Beruf abhängig. Mein Vater war als pensionierter Militärarzt gestorben, als ich zwölf Jahre alt war, und hatte mich völlig mittellos zurückgelassen. Sein einziger Freund, der Geistliche der Gemeinde, zu der wir gehörten, hatte mich damals edelmütig zu sich genommen, zwei Jahre auf die Schule geschickt, danach aber, meiner Neigung entsprechend, als Schiffsjunge auf ein Schiff gebracht.

Unter diesen Umständen konnte es für mich zu großem Vorteil ausschlagen, wenn es mir gelang, das Schiff zu retten. Meiner Meinung nach mußte mich dies in den Augen der Reeder sehr heben und vielleicht die Aufmerksamkeit anderer Firmen auf mich lenken, die in der Handelswelt Einfluß hatten.

Es waren angenehme Träumereien, denen ich mich hingab. Meine Gedanken schweiften von einer schönen Vorstellung zur andern; ich sah mich schon als Kapitän eines prächtigen Schiffes. Schließlich gelangte ich natürlich auch bei Mary Robertson an. Würde ich sie wohl später noch einmal wiedersehen, nachdem ich sie glücklich in ihre Heimat gebracht hatte? Würde sie den jungen Maat bald vergessen, den das Geschick für kurze Zeit mit ihr zusammengeführt, ihr in Kummer, Leid und Todesnot zum Gefährten gegeben hatte? Noch saß ich ganz vertieft in solche Gedanken, da schreckte ich plötzlich auf; ich hörte Schritte und sah Forward auf mich zukommen.

»Schlechte Nachricht, Sir,« sagte er, als er vor mir stand. »Ich bin plötzlich aufgewacht, wovon weiß ich nicht, aber eine Stimme in mir rief: ›An die Pumpe!‹ Da bekam ich's mit der Angst, lief gleich hin, peilte und fand zwölf Zoll Wasser.«

»Was?« schrie ich, in die Höhe fahrend, »zwölf Zoll?«

»Ja, leider.«

»Wie spät ist es jetzt?«

»Zwanzig Minuten nach zehn.«

»Rufen Sie gleich Cornish und den Steward, wir müssen sofort an die Pumpen. Freilich sind ja eigentlich nur acht Zoll Wasser zugekommen, da die Pumpen erst bei vier Zoll saugen, immerhin ist aber das Schiff leck und zwar nicht unbedenklich.«

Er sah noch einen Augenblick nach dem Wetter, dann ging er.

Ich war der Verzweiflung nahe, noch soeben hatte ich in den kühnsten Hoffnungen geschwelgt, mir alle möglichen schönen Aussichten vorgespiegelt und nun, nach allem Kampf und der freudigen Zuversicht auf endlichen Sieg, nun doch noch das Schiff leck, der schauerlich kalte Tod vor uns! Das war hart.

So sollte sich mein leidenschaftlicher Wunsch, Mary Robertson zu retten, also nicht erfüllen! Das Herz zog sich mir zusammen, wenn ich daran dachte, wie ein böses Geschick sie geradezu zu verfolgen schien, wie sie nicht aufatmen durfte, ohne daß ein neuer, immer schwererer Schlag sie traf: Zuerst Schiffbruch, dann die Meuterei, gleich nach dieser der entsetzliche Sturm, unmittelbar darauf der Tod des Vaters und jetzt das neue Schrecknis mit dem lecken Wrack. ›Himmlischer Vater,‹ schrie es auf in meinem Herzen, ›nimm doch mich, nimm uns alle, aber schütze das herrliche Mädchen, errette es und sei ihm gnädig!‹

Nach diesem Stoßgebet begann ich wieder ruhiger zu denken. Allmählich, Gott sei dafür gepriesen, wich meine Verzweiflung und machte neuer Hoffnung Platz. Aus dieser unversiegbaren Quelle allen Trostes schöpfte ich neuen Mut; es wurde wieder hell vor meinen Augen. Ich sagte mir, daß noch kein Grund zum Verzagen sei, ich überlegte, daß wenn das Schiff in dreiviertel Stunden nicht mehr als acht Zoll Wasser einnahm, es noch möglich sein mußte, es ein paar Tage hindurch flott zu erhalten, wenn regelmäßig mit Ablösung gepumpt wurde. Das ließ sich aber machen, wenn Miß Robertson das Steuer nahm, denn dann waren wir vier Mann zu der Arbeit. Außerdem war tausend gegen eins zu wetten, daß während dieser Zeit uns ein Schiff begegnen, unser Notsignal sehen und uns Hilfe bringen würde.

Unter diesen köstlicheren Gedanken hörte ich plötzlich den Gang der Pumpen und den Hochbootsmann dabei singen, um die andern beiden zu ermutigen und anzufeuern. Welch starkes Herz hatte doch dieser Mann! Ich, der ich diese Geschichte erzähle, schäme mich, meiner eigenen geringen Taten zu gedenken, während doch alles Heldentum auf seiner Seite war. Ja, er war ein selten braver, wackerer Gefährte; in seinem Herzen ein Ritter ohne Furcht und Tadel.

Ich wagte meinen Posten keinen Augenblick zu verlassen, denn das Schiff arbeitete heftig und bedurfte beständiger Aufmerksamkeit, weil es bei den hochgehenden Wogen bald beidrehte, bald wieder abfiel, aber ich fühlte mich beinahe krank vor Ungeduld, zu erfahren, welche Fortschritte das Pumpen machte. Ich stand wie auf Kohlen auf meinem Platz in dem Bewußtsein, wie meine Kraft die Arbeit gefördert haben würde.

Es war wirklich ein ganz besonderes Unglück, daß von uns vier Männern nur drei brauchbar waren, und da einer davon beständig am Rade sein mußte, eigentlich nur zwei für alle wichtige Arbeit gerechnet werden konnten. Wäre der Steward Seemann gewesen, so würden unsere Schwierigkeiten bedeutend geringer gewesen sein, und ich beklagte es bitter, daß Fisch und der Holländer getötet worden waren, nachdem die beiden schlimmsten Gesellen, Stevens und Johnson, ihren Lohn empfangen hatten. Hätten wir diese beiden Leute jetzt mehr gehabt, so wären sie, dem bösen Einfluß von Stevens nicht mehr unterworfen, wohl ganz sicher noch ebenso brave, tüchtige Kerle geworden wie Cornish, und wir hätten mit ihrer Hilfe nicht nur die Pumpen in Gang halten, sondern es auch möglich machen können, zu gleicher Zeit zu segeln.

Das rasselnde, dumpfe Geräusch der Pumpen hatte Miß Robertson unten keine Ruhe gelassen; sie kam auf Deck, bekleidet mit dem Überzieher und der Pelzmütze des Kapitäns.

Ich freute mich, daß sie dieses Kostüm wieder angelegt hatte, denn ich sah daraus, daß sie an mich gedacht und sich gesagt hatte, ich würde in meiner Sorge um sie ihr nicht erlauben, ohne genügenden Schutz gegen das Wetter auf Deck zu bleiben. Sie fragte, ob noch immer Wasser ins Schiff dränge, und ich teilte ihr daraufhin der Wahrheit gemäß mit, daß es seit halbzehn um acht Zoll gestiegen wäre.

»Das ist wohl viel?« meinte sie, mich ängstlich ansehend.

»Nun, wenigstens mehr, als wir brauchen können,« antwortete ich möglichst sorglos.

»Ich möchte Sie nicht mit Fragen belästigen, Mr. Royle, aber ich bin doch sehr besorgt.«

»Natürlich sind Sie das; fragen Sie mich, was Sie wollen, ich werde Ihnen die Wahrheit sagen.«

»Gut, was gedenken Sie zu tun, wenn Sie des Wassers im Schiff nicht Herr werden?«

»Das Schiff zu verlassen.«

»Auf welche Weise?«

»In jenem Boot dort.«

»Was, in dem kleinen Boot? Das könnte sich doch nicht fünf Minuten bei dem Seegang halten.«

»Die Wogen werden nicht so bleiben; morgen um diese Zeit wird die See aller Voraussicht nach ruhig sein.«

»So hoffen Sie, das Schiff bis morgen erhalten zu können?«

»Wenn das Wasser nicht schneller eindringt, als bisher, so wird sich das Schiff so lange über Wasser halten, als unsere Kräfte ausreichen, es stündlich auszupumpen; Sie sehen also, es geht nicht so rasch ans Sterben,« fügte ich lachend hinzu, um ihr Mut zu machen.

»Nein, daran denke ich auch nicht,« entgegnete sie, sinnend vor sich hinblickend; »so lange Sie bei mir sind, werde ich mich nicht fürchten. Sie haben mich schon einmal vom Tode errettet und werden mir auch jetzt das Leben erhalten, das weiß ich, das weiß ich ganz gewiß,« wiederholte sie mit sonderbarem Nachdruck; »eine innere Stimme sagt es mir.«

»Ich werde es wenigstens mit Aufbietung aller meiner Kräfte und aller mir zu Gebote stehenden Mittel versuchen,« antwortete ich, meinen Blick fest auf sie richtend.

»Davon bin ich ganz durchdrungen,« erwiderte sie, »es ist aber noch etwas Anderes, was mich beseelt, ich fühle im Innern die Gewißheit, daß, welche Gefahr uns auch bedrohen mag, wir beide nicht umkommen werden.«

Sie hielt inne, sah mich mit einem ganz eigentümlich ernsten Blick an und fuhr dann fort: »Vielleicht werden Sie mich für abergläubisch halten, aber ich muß Ihnen gestehen, daß diese meine Überzeugung auf einem Traum beruht. Ich sah meinen Vater, Mr. Royle, genau so, wie im Leben; er kam auf mich zu, ich streckte ihm meine Arme entgegen; da schloß er mich in die seinen und sagte, meinen Kopf zärtlich streichelnd: ›Liebling, fürchte dich nicht! Der Mann, der dein Leben schon einmal errettet hat, wird es wieder retten. Gott wird dir und ihm gnädig sein, er hat euer Gebet gehört.‹ Hierauf küßte er mich und verschwand. Ich wachte auf und richtete mich in die Höhe; sein Bild stand noch lebendig vor mir, daß ich dachte, nein, mir fest einbildete, er müsse wirklich bei mir gewesen sein. Da kleidete ich mich schnell an und ging zu ihm. Freilich, ich fand ihn ja, wie wir ihn zuletzt verlassen, aber Mr. Royle, glauben Sie, sein Geist ist bei uns!«

Obgleich ich durchaus nicht darauf angelegt bin, einem Traum irgend welche Bedeutung beizumessen, so lag doch ein so tiefer Ernst und eine solche Feierlichkeit auf ihrem ganzen Wesen, als sie von der Erscheinung sprach, daß es Eindruck auf mich machte. Mein Herz hüpfte ordentlich vor Freude über ihre Worte, und neue Hoffnung, neuer Mut erfüllten mich bei ihrem festen Glauben an unsere Rettung. »O ja,« erwiderte ich ernsthaft, »Träume sind nicht immer bloß Schäume, es gibt Träume, die einer Hellseherei gleichen. Vor einigen Jahren strandete ein Schiff, es hieß ›Mary‹, auf den Felsen im Süden von einer der Kanalinseln. Einem Teil der Mannschaft war es gelungen, sich auf die Felsen zu retten; sie lebten dort mehrere Tage ohne Wasser und ohne irgend welche andere Nahrung als Austern, welche ihren Durst vermehrten, ohne den Hunger zu stillen. Ein von Guernsey kommendes Schiff segelte bei den Felsen vorbei, jedoch in einer Entfernung, in welcher es nicht möglich war, die Notsignale der verhungernden Menschen zu bemerken. Aber der Sohn des Kapitäns hatte zweimal geträumt, daß sich Schiffbrüchige auf den Felsen befänden und bestürmte seinen Vater so lange mit Bitten, nach den Felsen zu steuern, daß dieser endlich widerstrebend nachgab. Die Verunglückten wurden, dem Tode nahe, halb wahnsinnig vor Durst, aufgefunden. Nur der Traum des Knaben hatte sie gerettet. Diese Geschichte ist wahr, warum sollte ich nicht auch an Ihren Traum glauben?«

Sie erwiderte nichts, aber als das Schiff sich in diesem Augenblick so tief neigte, als ob es ganz übergehen wolle, ergriff sie schnell, jedoch vollkommen ruhig, meinen Arm; ihr furchtloses Wesen bezeugte mir, daß sie fest an die Worte glaubte, die ihr Vater im Traum zu ihr gesprochen hatte, daß sie sich völlig sicher an meiner Seite fühlte. Sie ahnte nicht, wie unsagbar glücklich mich das machte.

»Der Hochbootsmann hat mir erzählt,« sagte sie nach kurzem Stillschweigen, »daß Sie das Schiff zu bergen wünschen. Ich fragte ihn, warum? Sind Sie böse über meine Neugier?«

»Wie sollte ich, und was antwortete er?«

»Er meinte, Sie dächten wohl, die Reeder würden Sie für Ihre Treue belohnen und befördern.«

»Ach, was weiß der davon; nie habe ich solche Gedanken ihm gegenüber geäußert; ich begreife nicht, wie er zu diesem Geschwätz kommt.«

»Nun, ist es denn so schwer, solchen Wunsch zu vermuten? Er ist doch eigentlich ganz natürlich.«

»Gewiß wäre er das, aber diesen Schelmen gegenüber doch kaum. Von Menschen, die ein Schiff mit so schlechten Provisionen auf See schicken, daß die Mannschaft zur Meuterei getrieben wird, kann man doch keine Dankbarkeit erwarten.«

»Das glaube ich auch, aber was gedenken Sie zu tun, wenn Sie nicht imstande sind, das Schiff zu retten?«

»Nun, wie ich Ihnen schon sagte, dann werden wir das Boot besteigen, und ich werde versuchen, Land zu erreichen, wenn wir nicht ein Schiff treffen, welches uns aufnimmt.«

Innerlich lachte ich über meine Antwort, denn ich verstand recht gut, wo sie eigentlich hinaus wollte; sie war einen Moment verwirrt und ließ den Kopf sinnend hängen, fuhr dann aber fort:

»Ja, das weiß ich wohl; nein, ich wollte gern wissen, was Sie anfangen werden, wenn wir glücklich auf das Festland gelangt sind und Sie kein Schiff mehr haben?«

»Dann muß ich suchen, ein anderes zu finden.«

»Doch als Kapitän?«

»Ach, wo denken Sie hin; ich würde ganz zufrieden sein, wenn ich wieder ein Unterkommen als zweiter Maat fände.«

»Sie würden doch aber auch eine Stelle als Kapitän annehmen, wenn Ihnen eine solche angeboten würde?«

»Wenn ich könnte, gewiß mit dem größten Vergnügen, aber ich kann nicht.«

»Warum denn nicht?« fragte sie lebhaft.

»Nun, aus dem einfachen Grunde, weil ich das Examen als Kapitän eines Handelsschiffes noch nicht gemacht habe.«

Diese Antwort schien sie nicht erwartet zu haben, denn sie wurde nachdenklich und versank in Stillschweigen.

Während sie so, sinnend ins Leere sehend, vor mir stand, und ich sie mit Entzücken betrachtete, fiel mir ein, wie sie mir von mehreren Schiffen ihres Vaters erzählt hatte, und mich durchzuckte der Gedanke, daß ihre Fragen die Einleitung gewesen sein könnten, mir den Befehl über eins dieser Schiffe anzubieten.

Ich gebe mein feierliches Ehrenwort, daß mir jede Erinnerung an ihre gesellschaftliche Stellung am Lande und ihren Reichtum, als ihres Vaters einzige Erbin, so gänzlich entschwunden war, als wenn ich nie ein Wort davon erfahren hätte. Was sie mir war, sie war es einzig und allein geworden durch die wunderbaren Schicksale, welche uns mit einander verkettet hatten, durch ihre bezaubernde Persönlichkeit, ihr edles, mutvolles Wesen. So oft ich sie sah, so oft ich an sie dachte, von Stunde zu Stunde möchte ich sagen, war mein Herz mehr von ihr gefesselt worden. Nie war mir mein Leben mehr wert als jetzt, da das ihrige von dem meinigen abhing, zu jeder Zeit würde ich es aber auch gern hingegeben haben, wenn ihre Rettung es erheischt hätte.

In diesem Bewußtsein war es für mich eine bittere Enttäuschung und ein empfindlicher Schlag, als mich der Gedanke packte, sie wolle mir für meine ihr bewiesene Aufopferung gewissermaßen einen Lohn bieten. Ich verlor hierüber alle Besinnung, warf den Kopf plötzlich auf und sagte mit Entrüstung: »Mir scheint, Miß Robertson, Sie hegen die versteckte Absicht, mir den Befehl über eins Ihrer Schiffe anvertrauen zu wollen?«

»Allerdings, diesen Gedanken hatte ich,« erwiderte sie, verwundert über mein auf einmal so verändertes Wesen.

»Nun,« entgegnete ich, »dann muß ich Ihnen zu meinem lebhaften Bedauern erklären, daß Sie mich vollständig verkannt haben, und ich auf die mir zugedachte Ehre ein für allemal verzichten muß.«

Sie zuckte zusammen, zog ihre Hand erschreckt von meinem Arm zurück, sah mich mit ihren großen Augen erstaunt an und stammelte mit halb erstickter Stimme: »Mr. Royle, nie hätte ich gedacht, daß Sie so zu mir sprechen könnten, was habe ich Ihnen getan?«

»Sie haben mich tief gekränkt, durch die Absicht, meine Ihnen erwiesenen Dienste seinerzeit gewissermaßen ablohnen zu wollen.«

»Mein Gott, wie können Sie nur so etwas sagen! ›Ablohnen!‹ welches Wort! – Besinnen Sie sich doch nur!«

Sie ließ den Kopf sinken und fuhr dann mit ihren Tränen kämpfend fort: »Ach Gott, daß Sie so böse auf mich sein können.«

Ihre Stimme Lang so kindlich klagend, daß es mir ordentlich ins Herz schnitt und ich auf der Stelle wie Wachs ward.

»Böse?« rief ich, »nein, wahrhaftig nicht, nur unendlich traurig war ich. Wie könnte ich nur einen Augenblick wirklich böse auf Sie sein? Sehen Sie, ich dachte nur, Sie müßten wissen, daß alles, was ich getan habe, nur ... nur ...« Ich stotterte und hielt inne. Das wahre Geheimnis meines Grolles wollte nicht heraus. Wie ein Schuljunge, der seine Lektion nicht kann, stand ich vor ihr, verwirrt und befangen. Wie einfältig mußte ich ihr vorkommen, wenn sie nicht erriet, was mich in diese schlimmere Lage brachte. Ich suchte meine Verlegenheit zu verbergen, indem ich ihre Hand nahm und sie wieder auf die Stelle legte, von welcher sie dieselbe vorher so erschrocken weggezogen hatte. Während ich noch überlegte, wie ich diese, für mich so peinliche Szene wenigstens halbwegs vernünftig beenden könnte, riß sie mich aus aller Not, indem sie fragte: »Warum sprechen Sie nicht weiter? Sie wollen sagen: daß alles, was Sie für mich getan haben, aus Menschenfreundlichkeit geschah, daß Sie für jeden andern ganz dasselbe tun würden; nicht wahr, so ist es?«

»Nein, ganz gewiß nicht!« rief ich lebhaft, wieder ganz meiner Herr. »Das können Sie auch im Ernst nicht glauben.«

Sie erwiderte nichts, blieb noch einen Augenblick wie in Gedanken verloren stehen und schritt dann langsam nach der Schiffsseite, wo sie zuerst eine ganze Weile nach den Sternen blickte und dann die schweren, sich überstürzenden Wogen verfolgte, wie sie sich in der Dunkelheit verloren.

Ich hatte über dem Gespräch unsere gefahrvolle Lage im Augenblick ganz vergessen, erst das Geräusch der Pumpen versetzte mich wieder in die schauerliche Wirklichkeit zurück. Ich wollte eben Forward zurufen, und fragen, wie es stände, da hörte das Pumpen plötzlich auf, und er kam mit den Leuten auf mich zu, schon von weitem schreiend: »Die Pumpen saugen!«

»Hurra!« rief ich, »geht hinunter alle miteinander und stärkt euch mit einem Grog.«

Die armen Kerle waren von der gehabten Anstrengung so außer Atem, daß sie wie Walfische pusteten und schnaubten, als sie um mich herumstanden; auch Miß Robertson war mit herangetreten.

»Wenn's nicht schlimmer kommt, Forward,« sagte ich, »so wird sich's wohl machen, was?«

»Ja, dann kann sich's schon machen, aber ein sauer Stück Arbeit bleibt es, das weiß Gott; ich habe in meinen Armen ein Gefühl, als wenn sich alle Muskeln zu Knoten geschlungen hätten.«

»Ich auch,« stöhnte der Steward.

»Soll ich nicht das Rad nehmen?« fragte Cornish matt.

»Das fehlte gerade, mein Bursche,« erwiderte ich, »nein, auf der Stelle runter mit euch allen, einen Schluck genommen und dann aufs Ohr gelegt. Ich bin so munter wie eine Lerche und will bis zwölf Uhr hier bleiben.«

Der Steward trottete hierauf sogleich ab, die beiden andern blieben aber noch stehen.

»Hochbootsmann,« begann nun Miß Robertson, »bitte, reden Sie Mr. Royle zu, daß er mir das Rad übergibt; er hat sich während der letzten Stunde mit mir unterhalten und dabei das Rad oft nur mit einer Hand regiert, da denke ich, werde ich es doch mit beiden Händen auch in der Gewalt haben können.«

»Wenn Sie nicht heruntergehen wollen,« entgegnete ich, »so sollen Sie steuern, aber ich werde bei Ihnen bleiben.«

»Das würde keinen Zweck haben,« sagte sie schmollend wie ein eigensinniges Kind, das durchaus seinen Willen durchsetzen will.

Cornish lachte über das ganze Gesicht und ging weg, Forward aber blieb noch immer stehen, bis ich endlich sagte:

»Nun, alter Freund, machen aber auch Sie, daß Sie Ihr Lager suchen, Sie haben es weiß Gott nötig. Tun Sie es um unser aller willen, denn wenn Sie mir plötzlich einmal ausspannen sollten, dann hätte ich die halbe, nein, zwei Drittel meiner Mannschaft verloren.«

»Schon gut, Sir, wie Sie meinen,« erwiderte er gähnend, »Sie und die Miß werden sich ja über das Steuern einigen.«

Damit ging er.

»Sie sehen, wie gehorsam diese Leute sind,« wandte ich mich nunmehr an das Mädchen; »warum wollen Sie nicht auch hübsch folgsam sein und schlafen gehen?«

»Ich habe Sie unbewußt gekränkt, Mr. Royle, und das tut mir sehr, sehr leid.«

»So lassen Sie uns Frieden schließen,« rief ich lachend und hielt ihr meine Hand hin.

Sie schlug ein und ich küßte ihre Hand. Danach entfernte sie sich schweigend, drehte aber noch einmal um und sagte mit tiefer Bewegung:

»Wenn wir gezwungen sein sollten, das Schiff plötzlich zu verlassen, ach, Sie werden mich ja verstehen, so würde es Zeit meines Lebens auf mir lasten, wenn der arme Papa zurückgelassen worden wäre.«

»Das soll bestimmt nicht geschehen, darüber beruhigen Sie sich; jeder Ihrer Wünsche in dieser Beziehung wird mit der größten Pietät ausgeführt werden.«

»Es würde mir ein gar zu trauriger Gedanke sein, wenn er mit dem Schiff unterginge, ohne daß ein Gebet für ihn gesprochen worden wäre,« schluchzte sie.

»Überlassen Sie das mir; Sie dürfen fest überzeugt sein, daß er mit jeder Ehrerbietung und aufrichtigem Bedauern, noch ehe das Schiff untergeht, bestattet werden wird, so, wie es auf einem Schiff Brauch ist.«

»Ja, ich weiß es,« erwiderte sie, mir die Hand reichend und mit einer mir tief zu Herzen gehenden Weichheit in ihrer Stimme, »Sie werden sich mir auch hierbei als der treue, mir von Gott gesandte Freund erweisen und alles nach meinem Herzen tun; ach, wenn ich Sie doch vorhin nicht so erzürnt hätte!«

»Ich bitte Sie inständig, denken Sie doch das nicht; tragen Sie mir nicht Worte nach, die ich in einer augenblicklichen Aufwallung sagte. Seien Sie gut. Ich hoffe fest, daß, wenn ich Sie mit Gottes Hilfe glücklich in Ihre Heimat zurückbringe, Sie in späteren Zeiten immer an mich denken werden als an einen Mann, der selbstlos handelte und dem Ihr Leben mehr wert war als das seine.«

Sie sah mir einen Augenblick voll und fest ins Auge, dann sprach sie leise:

»Wie könnte es jemals anders sein? Gott segne Sie«; dann schritt sie langsam der Kajüte zu.


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