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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Ein Todesfall.

Durch den Abgang der Fockstenge war das Schiff sehr entlastet. Seit wir England verlassen hatten, war mir jedesmal, wenn die See hochging, die ungeheure Hebelwirkung aufgefallen, welche die Schwere der hohen Spieren auf das tiefgehende Schiff ausübte, und nach der Wirkung, die das Überbordgehen der Fockstenge hatte, zweifelte ich nicht, daß das Schiff sich leichter gegen die Wogen heben und unsere Lage weniger gefahrvoll werden würde, wenn wir uns von einem Teil seines Obergewichtes befreien konnten.

Cornish hatte das Rad übernommen, Forward und ich saßen auf der Leeseite der Kajütenbedachung, wo wir uns bei dem Toben der Elemente um uns her verständigen konnten.

»Das Schiff hält sich ruhiger, seit die Fockstenge fort ist,« sagte ich. »Es ist immer noch zu viel Gewicht oben; ich denke, wir schaffen die obersten Stengen sämtlich herunter.«

»Der Meinung bin ich auch,« erwiderte er, »aber wie machen wir das auf die beste Art, ohne die unteren Masten der Gefahr einer Beschädigung auszusetzen?«

»O, das will ich Ihnen sagen, ich steige mit einer Handsäge hinauf und säge die Stengen an. Was halten Sie davon? Wollen wir sie auf diese Weise abbrechen lassen?«

»Ja, das ist wahr, das geht,« stimmte er zu. »Die Sache will ich gleich besorgen.«

»Nein, nein,« erwiderte ich, als er sofort lebhaft aufsprang, »jetzt bin ich daran, ich gehe hinauf, Sie kappen unten die Pardunen. Wir müssen aber gut abpassen, bis das Schiff einmal tüchtig überholt, sonst fallen am Ende die Spieren auf Deck und schlagen uns Löcher hinein.«

Ich ging, um mir für den Zweck eine passende Säge zu holen, während ich mich aber über das Hauptdeck fortarbeitete, traf mich trotz aller Vorsicht eine Sturzsee, zog mir die Beine unter dem Leibe weg und warf mich mit dem Kopf gegen die Schanzkleidung. Zum Glück tat ich mir keinen Schaden und kam mit dem bloßen Schrecken davon.

Außer der Säge brachte ich mir auch einen Peilstock mit, um die Pumpe zu peilen, denn ich hegte ein beständiges Mißtrauen gegen die Dichtigkeit der Pflöcke, mit welchen der Hochbootsmann die Bohrlöcher verkeilt hatte. Zu meiner großen Freude und Beruhigung war das Ergebnis meiner Untersuchung ein sehr günstiges. Das Schiff zeigte sich im Kielraum fest und hatte nur wenig Wasser vom Deck aus eingelassen.

Diese Entdeckung gab mir neuen Mut; ich steckte die Säge in meinen Rock und stieg zunächst in das Besantakelwerk.

Als ich mühsam die Webeleine emporklimmte, schien es mir, als wäre der Orkan etwas weniger heftig, aber was man wünscht, glaubt man auch leicht. Hoch oben, wo ich der vollen Gewalt des Sturmes ausgesetzt war, erschien mir seine Kraft und sein Toben wahrhaft schreckenerregend; zeitweise preßte er mich so fest gegen die Wanten, daß ich mich um keinen Zoll hätte rühren können, selbst wenn es mein Leben gegolten hätte.

Als es mir nach unglaublichen Anstrengungen gelungen war, die Quersahlungen zu erreichen, hielt ich einige Augenblicke an, um Atem zu schöpfen. Ich schützte meine Augen mit der Hand und suchte sorgfältig den Horizont ab, aber kein Schiff war zu sehen.

Der Besanmast selbst stand ziemlich fest, aber die Kreuzbramstenge schwankte heftig, weil die eine Pardune gerissen war; dazu kam, daß der Hochbootsmann schon ein paar Brassen losgeworfen hatte, damit die angesägte Stenge Freiheit hätte, über Bord zu gehen, sobald sie fiel. Die im Winde schwankenden Raaen und das heftige Schlingern des Schiffes drohten jeden Augenblick, das ganze Stengenwerk zusammenzuwerfen, so daß ich in der größten Gefahr schwebte.

Um keine Zeit zu verlieren, faßte ich mein Messer mit den Zähnen und kletterte zur Kreuzbramstenge hinauf. Mit einer Hand mich festhaltend, schnitt ich den Kreuzbramstengenstag durch. Nachdem die Stenge diesen Halt verloren hatte, schwankte sie derart wild hin und her, daß ich jeden Augenblick fürchtete, ich würde von der Stenge abgeschüttelt werden, oder sie würde mit mir über Bord gehen.

Es gelang mir jedoch, ohne Unfall wieder in die Quersahlung hinabzugleiten, und nachdem ich auch hier den Stag durchschnitten hatte, zog ich meine Säge heraus und begann die Stenge damit zu bearbeiten. Ich durchsägte sie gerade unter der Raa, so daß sie an dieser Stelle abbrechen mußte, stieg dann schnell in den Wanten herab und rief Forward zu, die Pardunen leewärts zu kappen.

Als ich das Deck erreichte, war er damit fertig. Jetzt hatte die Stenge nur noch Halt an den Pardunen auf der Wetterseite. Wir sprangen daher in die Püttingen hinunter, paßten einen Moment ab, als das Schiff stark überholte und kappten die Taue. Unmittelbar danach flog die Spiere samt Raaen und Tauwerk über Bord.

Ermutigt durch diesen Erfolg, schritten wir sofort auch an die Beseitigung der Großbramstenge. Forward beschwor mich zwar, jetzt unten zu bleiben und ihn hinauf zu lassen, ich gab aber nicht nach und stieg hinauf.

Die Arbeit glückte wie vorher und wir waren sehr erleichtert und erfreut, als wir auch diese Stenge davontreiben sahen.

Das Schiff hatte jetzt zwar das Aussehen eines Wracks, doch war es in diesem Zustand sicherer, als es irgendeinen Augenblick gewesen war, seit der Sturm sich erhob. Die Entlastung von diesem Obergewicht schien es so schwimmkräftig gemacht zu haben, als ob wir hundert Tonnen Ladung herausgeworfen hätten. Ich fühlte mich jetzt beruhigter. Wenn alles so blieb, wie es war, durften wir hoffen, daß der ›Grosvenor‹ den Sturm aushalten würde.

Wir hatten alle drei keinen trockenen Faden mehr am Leibe; deshalb verabredeten wir, daß der Hochbootsmann und ich hinuntergehen wollten, um die Kleider zu wechseln; hernach sollte Forward an Stelle von Cornish das Rad übernehmen.

Ich war furchtbar ermattet, trotzdem aber fühlte ich mich glücklich in der Hoffnung, daß wir doch noch Schiff und Leben retten würden.

Zuerst ging ich in die Speisekammer, um meine abgespannten Nerven durch einen Trunk zu stärken. Alle Glieder zitterten mir nach der furchtbaren Anstrengung und von den häufigen Sturzbädern war ich kalt wie ein Eisklumpen. Darauf wechselte ich die Kleider und nie habe ich ein köstlicheres Gefühl empfunden, als nachdem ich wieder trockenen Flanell, warme Strümpfe und trockene Seestiefel auf dem Leibe hatte. Die Schuhe, die ich bis dahin an den Füßen getragen, waren durchweicht wie Löschpapier und rissen entzwei, als ich sie auszog.

Es war schon elf Uhr vormittags und ich wünschte sehnlichst, Miß Robertson zu sprechen, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen und sie über unsere Lage zu beruhigen. Ich schlich deshalb leise nach ihrer Tür und horchte, ob sie mit ihrem Vater spräche. So sehr ich aber auch mein Ohr anstrengte, es gelang mir nicht, irgend etwas zu vernehmen, da das Krachen und Stöhnen des Schiffes, und das Geheul des Sturmes zu gewaltig war.

Um mich bemerkbar zu machen, rüttelte ich endlich an dem Griff der Tür, diese wurde von innen geöffnet und Miß Robertson blickte heraus.

Als sie mich sah, trat sie zu mir in die Kajüte. Sie wollte mich anreden, aber die Stimme versagte ihr; ein Ausdruck qualvollen Kummers lag aus ihrem Gesicht; sie fiel auf die Knie, preßte ihre Hände fest vor die Augen und ließ den Kopf auf die Bank niedersinken. Nie habe ich ein ergreifenderes Bild herzzerreißenden Jammers gesehen.

Ich glaubte nicht anders, als daß das fürchterliche Schlingern des Schiffs ihrem Gehirn geschadet hätte und daß sie sich einbildete, ich wäre gekommen, um ihr zu sagen, wir gingen auf den Grund.

Dieser Gedanke sollte sie keinen Augenblick länger quälen. Ich teilte ihr sofort mit, daß sich das Schiff ganz wacker hielte, und der Sturm auch nachzulassen scheine; aber sie schüttelte nur mit dem Kopf und verharrte in ihrer Stellung.

»So sagen Sie mir doch um Gottes willen, was geschehen ist?« flehte ich sie an. »Weshalb sind Sie so gebrochen? Ich bin ganz niedergeschmettert, Sie so zu sehen, nach all dem Mut, den Sie bewiesen. Noch steht es ja nicht schlimm mit uns. Das erste Schiff, welches uns begegnet, wenn der Sturm sich gelegt hat, wird uns an Bord nehmen und bis dahin sind immer noch drei Menschen bei Ihnen, die solange sie atmen vor keiner Gefahr auch nur einen Zoll breit zurückweichen werden, wenn es Ihre Rettung gilt!«

Sie hob ihr blasses, von Tränen überströmtes Gesicht zu mir auf und sprach mit einem Blick und einem Ton, den ich nie vergessen werde, nur die drei Worte: »Papa ist tot!«

Mein Gott, also das war es! Wie hatte ich ihren edlen, heldenmütigen Charakter nur so verkennen können, anzunehmen, sie wäre aus Furcht für ihr Leben im Geiste irre geworden!

Ich stand wie betäubt da und fand keine Worte. Was hätte ich auch sagen sollen? In der hoffnungslosesten, verzweiflungsvollsten Lage mit dem Schiffe würde ich immer noch verstanden haben, sie zu ermutigen und zu trösten, aber ihr Vater tot! Für diesen Schmerz, dem nicht abzuhelfen war, wußte ich keinen Trost; jedes Wort wäre hier nutzlos gewesen. Deshalb ergriff ich nur schweigend ihre Hand, richtete sie auf und führte sie in ihre Kajüte. Die Nässe des Decks verdunkelte das Oberlicht, das Schlitzfenster seitwärts aber ließ genug Licht einfallen, daß ich den Toten sehen konnte. Er war so weiß wie das Laken, welches ihn bedeckte, und sein schneeweißes Haar gab ihm das Aussehen einer Marmorfigur.

Armer, alter Mann! Eine friedliche, heilige Ruhe lag auf seinem Antlitz, und seine hageren Hände waren gefaltet, als ob er im Gebet gestorben wäre.

»Gott war bei ihm, als er starb,« sagte ich und schloß seine starren Augen so sanft, als ich es mit meinen rauhen Händen nur irgend vermochte.

Sprachlos vor Schmerz stand das arme Kind währenddem neben mir, dann aber brach es wieder in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Der Jammer schnitt mir ins Herz; ich wußte in meiner aufwallenden Liebe und Zärtlichkeit nicht mehr, was ich tat, ich schlang meine Arme um sie und ließ sie sich ausweinen, den Kopf an meiner Schulter.

Ich bin überzeugt, daß sie empfand, wie ich trauerte, und daß sie in meinem Verhalten den Wunsch erkannte, ihr die Vereinsamung weniger fühlbar zu machen, in welche sie der Todesfall versetzte.

Als sie wieder etwas ruhiger geworden war, setzte sie sich und erzählte mir, wie sie nach Verlassen des Decks, ehe sie sich legte, erst noch einmal nach ihrem Vater gesehen und sich gefreut hätte, daß er ganz ruhig schlief.

»Also war er damals noch nicht tot?« fragte ich.

Sie verneinte dies ganz entschieden. Sie hatte an dem leisen Heben und Senken seiner Decke bemerkt, daß er friedlich atmete. Vor großer Müdigkeit war sie bald fest eingeschlafen. Kaum eine halbe Stunde, ehe sie mich an ihrem Türgriff hörte, hatte das Arbeiten des Schiffes sie wieder aufgeschreckt, und sie hatte einen Mast fallen hören. Sie glaubte, daß das Schiff bald sinken würde und trat an ihres Vaters Bett, um ihn zu wecken, damit er sich bereit machen sollte. Als sie seinen Arm ergriff, fand sie ihn kalt und steif, ihr Vater war tot. Sie würde mich gerufen haben, doch es widerstrebte ihr, den Toten zu verlassen. Da legte sich das Schiff plötzlich sehr stark auf die Seite, und der zweite Mast ging über Bord. Überzeugt, daß nun auch für sie der letzte Moment gekommen sei, hatte sie sich über die Leiche des Vaters geworfen und Gott um einen schnellen Tod angefleht.

Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich sie jetzt bitterlich weinen sah und daran dachte, was sie während der letzten halben Stunde gelitten haben mochte. Während ich Gott inbrünstig bat, ihr Kraft und Trost zu gewähren, hatte ich unwillkürlich ihre Hand ergriffen, die ich sanft streichelte. Sie sah mich darauf mit einem rührenden Blicke an und schien wieder Fassung zu gewinnen. Diesen Moment benutzte ich, ihr zu sagen, daß es Zeit für mich sei, die astronomischen Messungen vorzunehmen; sobald ich diese gemacht hätte, würde ich aber wiederkommen.

Sie erwiderte nichts und drückte mir leise die Hand. In tiefer Bewegung küßte ich die ihrige und ging dann ohne ein weiteres Wort auf Deck.

Ich fand Cornish noch am Rade, während Forward an der Wetterseite lehnte und die Bewegungen des Schiffes aufmerksam beobachtete.

Ängstlich blickte ich zum Himmel auf in der Hoffnung, daß die Sonne sich doch wenigstens auf einige Momente zeigen und mir Gelegenheit geben würde, meine Messungen zu machen. Es lag mir ungemein viel daran, unsere Lage bestimmen zu können, denn wenn ich nicht die Länge und Breite kannte, unter der wir uns befanden, konnte ich auch nicht unsern Kurs bestimmen, um nach den Bermudas zu steuern, sobald der Sturm sich legte.

Ich wartete vergeblich, und die Zeit verrann; endlich packte ich meinen Sextanten wieder ein und begab mich in die Kajüte zurück, nachdem ich noch gesehen hatte, daß Forward am Rade stand, Cornish also jedenfalls hinuntergegangen war, sich auch umzukleiden.

Natürlich eilten meine Gedanken sofort wieder zu Miß Robertson. Ich beschloß, sie zu bitten, die düstere Koje, in welcher der Tote lag, zu verlassen, und dafür meine Kajüte zu beziehen.

»Ihr weiteres Verbleiben bei dem Verstorbenen hat keinen Zweck,« sagte ich, als ich zu ihr eintrat. »Ich bin überzeugt, daß ich im Sinne des Toten handle, wenn ich Sie hinwegführe von der Stätte, die Sie fortwährend an Ihr Unglück erinnert und Ihren Schmerz immer von neuem anfacht. Bitte, kommen Sie mit mir.«

Ich zog sie mit sanfter Gewalt aus der Tür, verschloß diese und brachte sie in meine eigene Kajüte.

»Ich bitte Sie,« fuhr ich fort, »von jetzt ab diesen Raum als den Ihrigen zu betrachten, ich werde nebenan ziehen.«

Sie entgegnete mir unter Schluchzen, daß sie bei ihrem Vater bleiben und sich nicht von ihm trennen wolle.

»Sie werden nicht von ihm getrennt sein, wenn er Ihnen auch nicht sichtbar ist,« erwiderte ich. »Nach meiner Anschauung gibt es nur eine Trennung, nämlich die, wenn das Herz untreu wird und vergißt. Vergessen aber werden Sie Ihren Vater niemals, und deshalb wird er auch immer bei Ihnen sein. Ich denke mir, der Tod macht die, die wir lieben, doppelt zu unserm Eigentum, denn sie sind selige Geister geworden, die über uns wachen und uns stets nahe sind, wir mögen sein wo wir wollen; ihre Liebe zu uns ist eine erhöhte, weil sie geklärt und frei ist von aller irdischen Selbstsucht. Versuchen Sie einmal, in dieser Weise an den Toten zu denken, es dürfte Ihnen manchen Trost gewähren. Ihr Vater hat die Reise, zu der wir uns alle rüsten müssen, vor Ihnen angetreten, Sie haben nur Abschied von ihm genommen auf einstiges Wiedersehen. Nur ein Mensch, der dazu verdammt wäre, hier unten ewig zu leben, müßte den Tod auch als eine Trennung auf ewig betrachten.«

Während ich so sprach, weinte sie still vor sich hin und bemühte sich, zu lächeln, zum Zeichen, daß sie mir dankbar wäre für meine wohlgemeinten Versuche, sie zu trösten, aber es gelang ihr nicht. Ich brachte die Worte nur stoßweise heraus, denn ich hatte meine Stimme nicht in der Gewalt, so groß war das Mitgefühl, welches mich bewegte. Schließlich mußte ich mich abwenden, um meine Rührung zu verbergen. Da fiel mein Blick auf die kleine Bibel, die mich auf all meinen Reisen begleitet hatte, seitdem ich zur See gegangen war, und der Gedanke kam mir, daß bei der Trauer, die über das arme Mädchen gekommen war, und bei der gefahrvollen Lage, in der wir uns befanden, es uns allen Beruhigung und Trost bringen würde, wenn wir gemeinsam Gottes Gnade und Schutz anriefen.

Ich sprach in dem Sinne zu Miß Robertson und sagte, daß, wenn sie nichts dagegen hätte, ich Cornish und den Steward rufen und sie auffordern wolle, an unserer Andacht teilzunehmen. Der Hochbootsmann, der am Rade stände, könne freilich seinen Posten nicht verlassen, die treue Pflichterfüllung dieses braven Mannes würde vor Gott aber auch so gut wie ein Gebet sein.

»Sagen Sie ihm von unserer Absicht,« rief sie lebhaft, »so wird er auch am Rade mit uns vereint sein.«

Aus diesen Worten erkannte ich, daß mein Vorschlag ihr sehr sympathisch war und sie aufgerüttelt hatte aus ihren trüben, schmerzlichen Gedanken. Glücklich hierüber, begab ich mich sogleich auf Deck, um Cornish und den Steward zu rufen, vorher aber ging ich noch zu Forward und erzählte ihm, was sich ereignet hatte.

»Ach, das arme Kind!« sagte er bedauernd. »Möge Gott es trösten! Wahrhaftig, dieses mutige, hübsche, kleine Frauenzimmer muß viel durchmachen; es kommt ja gar nicht zur Ruhe und verdiente es doch ganz anders.«

»Ja, da haben Sie recht, das meine ich auch; es scheint ein wahres Verhängnis über ihr zu schweben; Sie können sich denken, wie gebrochen sie ist. Ich habe ihr vorgeschlagen, um uns alle miteinander in unserer Lage mutiger und getroster zu machen, eine gemeinschaftliche Andacht abzuhalten. Dabei habe ich ihr gesagt, daß Sie an derselben nicht teilnehmen könnten, weil Sie hier bleiben müßten. Da meinte sie, wenn Sie nur davon erführen, so würde das genügen, um Sie auch vom Rade aus mit uns im Gebet vereint sein zu lassen.«

»Na, das freut mich, daß sie das gesagt hat und denkt, daß ich gern dabei sein würde. Ja, das würde ich, denn wenn ich auch eine rauhe Haut bin und nicht recht verstehe, einen Psalm zu sprechen, so weiß ich doch, unser Herrgott versteht auch meine Sprache, und in der will ich ein gut Wort mit ihm reden, daß er uns allen hilft, besonders aber dem armen Mädchen, für welches ich gern sterben wollte, wenn ich es dadurch retten könnte. Ich bin ja auch älter und von Rechtswegen vor ihr an der Reihe. Und nun gehen Sie, Sir, und sagen Sie dem Kinde, der Forward würde seine Andacht halten.«

Ich klopfte dem braven, biederen Burschen freundlich auf den Rücken und ging, um Cornish und den Steward zu rufen.

Als ich mit diesen beiden bei Miß Robertson eintrat, lag die Bibel schon aufgeschlagen auf dem Tisch. Ich nahm sie in die Hand und sagte:

»Maats, wir leben in ernsten Stunden und können nicht wissen, was Gott über uns bestimmt hat. Miß Robertson und ich wollen eine Andacht abhalten, um Gott zu danken für alle Hilfe, die er uns bis hierher zuteil werden ließ und ihn zu bitten, uns auch weiterhin in seinen Schutz zu nehmen, uns herauszuführen aus der drohenden Gefahr und uns glücklich in unsere Heimat zu geleiten. Wenn ihr hieran teilnehmen wollt, soll es uns freuen.«

Der Steward antwortete sogleich: »Ja, Sir,« und sah sich nach einem Platze um, wo er sitzen oder knien könnte, Cornish aber ließ den Kopf hängen und blickte verlegen nach der Tür.

»Sie brauchen nicht hier zu bleiben, wenn Sie nicht wollen, Cornish,« sagte ich. »Aber warum sollten Sie nicht mit uns beten? Ihr aufopferungsvolles Verhalten, seit Sie wieder an Bord sind, sühnt die Vergangenheit reichlich. Von keinem Menschen kann man mehr als herzliche Reue verlangen. Wir alle bedürfen unserer gegenseitigen Fürbitte. Bleiben Sie bei uns, Maat!«

»Sir,« antwortete er, indem sein ganzes Gesicht vor Erregung zitterte, »es ist besser, daß ich wieder gehe, ein Mensch wie ich gehört nicht hierher, ich bin ein schlechter Kerl; Sie können nicht für einen Mordgesellen beten, der nichts dawider hatte, daß Sie alle den grauenvollsten Wassertod hier auf diesem Schiffe sterben sollten. Nein, ich will lieber gehen, ein Sünder wie ich, findet keine Gnade mehr vor Gott.«

Miß Robertson stand auf und faßte seine Hand. »Cornish,« redete sie ihn an, »Christus hat gesagt, daß mehr Freude im Himmel ist über einen Sünder, der bereut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Reue nicht zu bedürfen glauben. Wer bereut, dem wird vergeben, so steht es in der heiligen Schrift, und wenn Sie das aufrichtig tun, so wird auch Ihnen vergeben werden. Bleiben Sie bei uns; ich möchte gern, daß Sie mit für meinen toten Vater beten, der auch der Fürbitte bedarf, wie jeder Mensch, daß Sie mit uns vereint Hilfe und Schutz erflehen in unserer eigenen Not. Gott wird sein Wohlgefallen daran haben. Mr. Royle! Cornish wird bleiben.«

Nachdem sie so gesprochen hatte, setzte sie sich und nahm Cornish, der vor tiefer Bewegung ganz blaß geworden war, auf die eine Seite und den Steward auf die andere Seite neben sich.

Ich begann nun aus der Bibel das Kapitel zu lesen, welches Miß Robertson während meiner Abwesenheit aufgeschlagen hatte. Es war das elfte Kapitel im Ev. Johannis, welches von der Auferweckung des Lazarus handelt. Ich las es nur bis zum sechsunddreißigsten Verse, denn was dann folgte, paßte nicht mehr für unsere Lage, aber in dem Abschnitt waren Stellen vorgekommen, die mich tief ergriffen hatten, weil ich fühlte, wie sie der Trauernden zu Herzen gehen mußten. Insbesondere waren dies die Worte der Martha: ›Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird, in der Auferstehung am jüngsten Tage‹ und wie Jesus spricht: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.‹ Daß Miß Robertson gerade dieses Kapitel ausgewählt hatte, gab mir die Überzeugung, daß meine Worte von vorhin nicht ohne Eindruck auf sie geblieben waren.

Darauf schlug ich das Evangelium Matthäi auf und las aus dem achten Kapitel die Verse, in denen erzählt wird, wie Jesus mit seinen Jüngern in einem Schiffe war und sich ein solches Ungestüm im Meer erhob, daß sie riefen: ›Herr, hilf uns, wir verderben!‹ und wie der Herr darauf sagt: ›Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?‹ und Wind und Meer bedrohte, daß es ganz still wurde.

Nur Menschen, die sich in einem Sturm auf der See befinden, deren Leben in Gefahr schwebt und die vor Angst und Furcht schier vergehen, vermögen den Trost zu ermessen, der in dieser kurzen Darstellung der Macht des Herrn über die Elemente liegt.

Indem ich dies alles als eine Art Text nahm, kniete ich mit den andern zusammen nieder und betete für unsere Erhaltung, wie es mir mein damals schwer bekümmertes Herz eingab. Was ich sagte, kann ich jetzt nicht mehr wiedergeben, nur so viel weiß ich noch, daß stellenweise meine Stimme vor Rührung bebte, daß auch die andern tief ergriffen waren, und ich mein Gebet schloß mit der Bitte um Trost für das Herz des trauernden Mädchens und um Gnade für die Seele dessen, um den es weinte.

Darauf schüttelte ich Cornish und dem Steward herzlich die Hand. Der tränenvolle Blick, mit dem ersterer mich dabei ansah, war mir das beste Zeichen, welchen Eindruck unsere kurze, aber erhebende Andacht auf sein sonst so rauhes Gemüt gemacht hatte.

Mir tat das im Herzen wohl; ich klopfte ihm deshalb noch einmal freundlich auf die Schulter und sagte: »Nun, alter Kerl, verzehren Sie Ihr Mittagbrot und dann lösen Sie den Hochbootsmann ab, und du, Steward,« wandte ich mich an diesen, »sorgst, daß wir andern auch bald etwas zu essen bekommen.«

Als die beiden die Kajüte verlassen hatten, setzte ich mich zu Miß Robertson und begann, mit ihr von Cornish zu reden; doch sie kam bald auf unsere Andacht zurück und besonders auf die Worte, mit welchen ich das Gebet geschlossen hatte. Sie sprach mir ihren Dank aus und äußerte dabei, daß sie sich zwar ruhiger fühle, aber doch nicht über den schmerzlichen Gedanken hinwegkommen könne, daß sie geschlafen habe, als ihr Vater starb und ihm in seinen letzten Augenblicken nicht hätte beistehen können.

Ich entgegnete ihr darauf, ich sei der festen Überzeugung, daß der Tod ihn im Schlafe überrascht habe; ein solcher Frieden, wie auf seinem Gesicht läge, könne nur ein Zeichen sein, daß er ganz ohne Todeskampf hinübergeschlummert wäre. Ich fügte hinzu, daß ich im stillen immer Sorge gehabt hätte, er würde die Reise nicht überstehen; er wäre schon zu alt und gebrechlich gewesen für die Leiden, die er hatte erdulden müssen. So traurig sein Tod auch wäre, so müsse sie doch bedenken, daß selbst unter den günstigsten Umständen seine Tage nicht mehr lange gewährt hätten und sein Tod nur um kurze Zeit beschleunigt worden sei.

Allmählich gelang es mir, ihre Gedanken abzulenken, indem ich die Rede auf unsere gefährliche Lage brachte. Ich hielt es für das beste, ihr die Wahrheit zu sagen, denn ich dachte wohl nicht mit Unrecht, daß die Kenntnis der eigenen Unsicherheit in gewisser Weise ihren Schmerz um den Tod des Vaters mildern würde.

Sie fragte, ob sich der Sturm nicht lege.

»Er nimmt wenigstens nicht zu,« antwortete ich, »und das ist ein gutes Zeichen. Aber eine Gefahr droht uns und diese ruft mich wieder auf Deck: Der Wind kann sich plötzlich legen und dann verstärkt von einer andern Seite wieder aufspringen. Das wäre das Schlimmste, was uns treffen könnte, denn gegen eine sogenannte ›krause See‹ würde das schwerbeladene Schiff wohl vergeblich kämpfen.«

»Darf ich mit Ihnen auf Deck gehen?« fragte sie schüchtern.

»Von Herzen gern würde ich Ihnen dazu meinen Arm bieten, aber merken Sie nicht,« sagte ich, »zu welcher Höhe sich der Stern des Schiffes hebt und in welche Tiefe wir fortwährend niederstürzen? Sie würden sich nicht aufrecht halten können!«

»Aber ich möchte so gern mit,« bat sie in einem Ton, dem ich nicht zu widerstehen vermochte.

»Nun gut, dann muß ich Sie aber erst sturmfest machen,« erwiderte ich heiter.

Ich nahm hierauf meinen Überzieher, der dem Kapitän gehört hatte, knöpfte sie darin ein und band ihr dann eine Pelzmütze über den Kopf. Ich selbst schlüpfte in mein Ölzeug.

»So, nun kommen Sie,« sagte ich, sie fest an der Hand fassend und die Treppe hinaufführend. Auf der Hälfte derselben traf uns aber ein so furchtbarer Windstoß, daß ich meine ganze Kraft zusammennehmen mußte, uns beide auf den Beinen zu erhalten. »Bitte, verzichten Sie darauf, weiterzugehen,« bat ich; »Sie sehen ja, das ist kein Wetter für Sie.«

Sie aber klammerte sich an meinen Arm und erwiderte: »Wohin Sie gehen, werde ich auch gehen.«

Ihren Mut bewundernd und gerührt von ihren Worten, die mich so glücklich machten, wie ein Kuß von ihren Lippen es getan hätte, führte ich sie mit großer Mühe über das Deck nach der Windseite und ließ sie auf einer Taurolle, dicht unter dem Geländer, Platz nehmen.

Die See ging nicht höher als zuvor, doch erschien sie mir nach meiner kurzen Abwesenheit ganz furchtbar. Man wird sich erinnern, daß der ›Grosvenor‹ nicht nur ein kleines Schiff war, sondern auch einen sehr großen Tiefgang hatte. Da Wogen von fünfzehn, ja ohne Übertreibung auch von zwanzig Fuß Höhe das Schiff trafen, so befand es sich oft zwischen zwei ungeheuren Wassermauern, zu denen man erschreckt aufsah.

Dabei war der ›Grosvenor‹ entschieden überlastet und obendrein ein Neuschottland-Weichholzschiff, womit ich sagen will, daß wir bei dem furchtbaren Niederschießen des Schiffes jeden Augenblick darauf gefaßt sein mußten, daß das Ende einer, zur äußeren Schiffsbekleidung gehörenden Planke heraussprang, und das Schiff leck wurde.

Nachdem ich Miß Robertson möglichst geschützt untergebracht hatte, peilte ich wieder einmal die Pumpe. Ich fand nur wenig über sechs Zoll Wasser, woraus ich zu meiner Beruhigung ersah, daß das Schiff noch vollkommen fest war.

Ich begab mich zu Forward und teilte ihm die gute Nachricht mit. Er nickte, schien mir aber doch sorgenvoller, als ich dachte. Als ich wieder zu Miß Robertson zurückkehrte, sah auch sie sehr erschrocken aus; sie hatte die gekappten Masten bemerkt. Nachdem ich sie über diesen Umstand beruhigt hatte, nahm ich mein Teleskop auf den Rücken und stieg in das Besantakelwerk; da sah ich, wie sie mit fest ineinander verschlungenen Händen dasaß und mir mit dem Ausdruck größten Entsetzens nachblickte.

Festgeklemmt in eine Wante, suchte ich den ganzen Horizont sorgsam ab, bemerkte aber nichts, als die öde See mit ihren schäumenden Wogen; keine Spur eines Schiffes war auf der ganzen weiten, tobenden Fläche zu entdecken.

Das bekümmerte mich sehr, denn obgleich uns kein Schiff bei solchem Sturm Hilfe zu bringen vermochte, weil es selbst gleich uns hätte beigedreht liegen müssen, so wäre mir doch sein bloßer Anblick in unserer Nähe ein großer Trost gewesen; wir würden wenigstens die Beruhigung gehabt haben, zu wissen, daß uns Hilfe erreichbar war und wir, sobald der Sturm sich legte, aus unserer schlimmen Lage erlöst werden konnten.


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