Johann Kaspar Riesbeck
Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder - Band 1
Johann Kaspar Riesbeck

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Erster Brief.

Stutgard den 3ten April 1780.

Hier, Lieber, hab' ich mich zum erstenmal in Deutschland gelagert, um nach meiner Gemächlichkeit in die verschiedenen Theile des Schwabenlandes Ausfälle zu machen und die nötigen Kundschaften einzuziehn.

Ich hab es mir zur Regel gemacht, mir für jeden bestimmten Theil Germaniens einen gewissen Mittelpunkt zu wälen, darinn einige Zeit zu verweilen, und die Gegend umher mit Muße zu überschauen. Ich will Deutschland bis auf einen gewissen Grad im eigentlichsten Verstand studieren.

Wer wollte aber dieses Studium bis in das sehr grosse Detail der sehr kleinen Staaten des deutschen Reiches, der unzähligen Grafschaften, Baronien, Republikchen u. dgl. treiben? Diesen erweiset man wahrhaftig schon zu viel Ehre, wenn man nur sagt, daß sie existiren.

Du weißt, daß ich mich eine Zeit lang in Straßburg aufhielt, um das Deutsche, welches ich schon zu Paris lesen konnte, ein wenig sprechen zu lernen, und mich vorläufig mit dem Land, das ich bereisen wollte, in Karten und Büchern bekannt zu machen. Ich fand zu diesem Zweck mehr Hilfsmittel, als ich erwartete. Wahrhaftig, es ist die Schuld der deutschen Geographen und Statistiker nicht, daß man ihr Land ausser demselben so wenig kennt.

Wenn du mir also ein wenig Beobachtungsgeist zutraust, so kannst du in meinen Briefen etwas mehr erwarten, als du in den Reisebeschreibungen einiger unserer Landsleute und einiger Engländer von Deutschland gesehen hast. Gemeiniglich sind dies Leute, die nur die großen Höfe besuchen. Da fahren sie die Heerstrassen her, fahren in ihren wohlverschlossenen Wagen, als wenn sie, wie Freund YorikYorik – Held des Romans »Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien«von Lawrence Sterne, 1768, dem Tod entfliehen wollten, brüten in dem Gewölke ihrer Ausdünstungen GrillenGrille – Grille: sonderbarer Einfall, Laune (Grillenfänger) aus, die sie uns dann für ächte Produkte des Landes geben, welches sie mit Extrapost durchreist haben, und haschen allenfalls am Stadtthor, am Gasthof, bey ihrem Wechsler, bey einem Mädchen von gutem Willen, im Opernhaus, oder bey HofeHof – der Begriff wird durchweg als Synonym für das Regierungssystem eines Staates gebraucht. So spricht man auch vom römischen Hof, wenn der Papst mit der Vatikanmannschaft gemeint ist. ein Anekdötchen, woraus sie uns den Karakter und Geist eines Volks gar geschikt herauszuklauben wissen. Gar oft verstehn sie kein Wörtchen von der Sprache des Volks, das sie uns schildern, und lernen einen kleinen Theil der Einwohner einer Hauptstadt, mit dem sie auf Geratewohl in Bekanntschaft kommen, durch eine fremde Sprache, und eben dadurch auch in einem fremden und falschen Lichte kennen. Ein Reichsgraf oder Baron, wenn er nicht in Frankreich gebildet worden, muß Grimassen machen, wenn er mit einem Marquis französisch spricht. Jede Sprache paßt nur auf die Sitten und eigenthümliche Art ihres Landes.

Man muß sich in alle Klassen des Volks mischen, das man will kennen lernen. Selten thun das die Herren, die uns ihre Reisen beschreiben; selten können sie es thun. Gemeiniglich bleiben sie in dem engen Zirkel von Leuten, in den sie von ihrem Interesse, ihrer Laune, ihrem Vergnügen, ihrem Stand u. s. w. gezogen werden, und sehen dann alles nur einseitig an. Kurz, man muß ein studierender Reisender von Profeßion seyn, um in das Eigenthümliche eines ganzen Volks einzudringen.

Deutschland genau kennen zu lernen, ist ungleich schwerer als irgend ein anderes europäisches Land. Hier ist es nicht wie in Frankreich und den meisten andern Ländern, wo man in den Hauptstädten, so zu sagen die Nation in einer Nuß beysammen hat. Hier ist keine Stadt, die dem ganzen Volk einen Ton giebt. Sie ist in fast unzälige, größere und kleinere Horden zertheilt, die durch Regierungsform, ReligionReligion – man beachte bitte, daß im gesamten Text das Wort Religion als Synonym für Kirche steht. Zwischen beiden besteht aber ein großer Unterschied, welcher von den Kirchenvertretern immer geleugnet wird. und andere Dinge unendlich weit von einander unterschieden sind, und kein anderes Band unter sich haben als die gemeinschaftliche Sprache.

Uebrigens kennst du meine Art zu reisen. Kann ich nicht auf den öffentlichen, ordinärenordinär – alltäglich, gewöhnlich Fuhren, die mir der Gesellschaft wegen (und sollte sie auch nur aus Juden, KapuzinernKapuziner – ein in der Bevölkerung verachteter Bettelorden und alten Weibern bestehn) ausserordentlich lieb sind, zu Wasser oder Lande fortkommen, so bin ich meistens zu Fuße, die Ritte auf meinem Steckenpferd abgerechnet.

Auch weißt du wol, daß ich Weltbürger genug bin, um auch außer meinem Vaterlande Gutes und Schönes zu finden, und mich eben nicht höchlich darob zu ärgern, wenn nicht alles wie bey uns ist. Im wesentlichen ist es doch so. Der Unterschied beruht blos auf gewissen Beziehungen und Modifikationen.

Rechne also alle Woche wenigstens auf Einen Brief, worinn du irgend ein deutsches Volk, oder eine deutsche Landschaft wirst kennen lernen. – Auf einen Pak RadoterienRadoterie – leeres Geschwätz, die du mit unter wirst verschluken müssen, wird es dir nicht ankommen. Ich denke, dein Magen ist durch unsere neuesten Brochüren schon daran gewöhnt worden, und ich werde sie dir auch in kleinen Dosen eingeben. Lebe wohl.


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