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Zweites Kapitel.
Nicht auf den Schlachtfeldern allein stirbt man den Tod fürs Vaterland!

Der Kaiser war seit mehreren Tagen leidend, die in Petersburg mit großer Heftigkeit herrschende Grippe hatte auch ihn ergriffen, und die Rastlosigkeit, mit der er seine Tätigkeit fortsetzte, die Aufregung, der er sich über die politischen Ereignisse innerlich hingab, und die geringe Schonung seiner Gesundheit hatten das Übel von Tag zu Tag gesteigert. Obschon bis jetzt noch keine Gefahr vorhanden war und sein Leibarzt Dr. Mandt dies auch anerkannte, hatte dieser doch um Erlaubnis gebeten, einen zweiten Arzt zuziehen zu dürfen und der Kaiser die Beratung seines gewöhnlichen Leibarztes auf Reisen, Dr. Karell, bewilligt. Am Tage vorher hatten beide Ärzte dem kaiserlichen Herrn ernste Vorstellungen gemacht und erklärt, daß, wenn er nicht eine größere Vorsicht eintreten lasse, sie für die Folgen nicht stehen könnten.

Trotz der Bitten der Ärzte und seiner Familie hatte der Kaiser sich geweigert, sein gewöhnliches Kabinett zu verlassen, das für seinen Zustand durch die Ecklage und die großen Fenster, auf die der Wind von zwei Seiten stieß, sehr unvorteilhaft war. Es herrschte in dem Zimmer kaum 10 bis 12 Grad Wärme, während draußen das Thermometer auf 20 bis 30 Grad unter Null zeigte ... Der Kaiser hatte eine schlaflose Nacht gehabt, nachdem er den ganzen Abend vorher mit dem Staatskanzler Grafen Nesselrode gearbeitet und nachher noch mehrere geheime Berichte und Depeschen durchgesehen. Er hatte sich am frühen Morgen ankleiden lassen und schon um 7 Uhr nach seinem alten Freunde und Vertrauten, dem Generaladjutanten Grafen Orloff, gesandt ... Der riesige Graf – er war einer der größten und stärksten Männer Rußlands und tötete im Jahre 1851, nach Stararia-Russia gesandt, um einen Aufstand in den Militär-Kolonien zu dämpfen, mit einem einzigen Faustschlag einen jungen Soldaten, der aus dem Gliede hervortrat – saß seinem kaiserlichen Herrn gegenüber an dem großen Arbeitstisch, der mit Papieren bedeckt war. Sein Antlitz war ernst und sorgenvoll, das des Kaisers blaß, nur von Zeit zu Zeit durch die Anstrengungen des Hustens oder die innere Aufregung mit fliegender Röte bedeckt ... »Einhundertdreiundzwanzigtausend Mann – es ist nicht möglich,« sagte der Monarch heftig. »Dolgorucki muß sich irren!« – Der Graf reichte ihm das Memoire, das er in der Hand hielt. »Der Feldzug an der Donau kostet uns 60 000 – Silistria allein den sechsten Teil. Die Almaschlacht zählt mit 8000, Balaclawa und Inkerman 9000, – in Sebastopol sind in drei Monaten 18 000 gefallen, mehr als ebensoviel sind Typhus und Cholera unterlegen.«

»Es ist schrecklich – aber unsere Gegner haben fast ebensoviel verloren. Welches furchtbare Resultat und wofür?« – Der General schwieg ... »Ich muß der Sache klar ins Auge sehen,« fuhr der Kaiser fort, »ich habe gestern bis 11 Uhr mit Nesselrode gearbeitet, um nochmals alle unsere Aussichten zu prüfen.« – »Euer Majestät reiben sich auf mit dieser rastlosen Tätigkeit bei Ihrem Unwohlsein. Ihr Leben ist das schätzbarste Gut Rußlands.« – »Wer weiß – wer weiß – alter Freund! Wir beide sind Soldaten und wissen, wie leicht jede Lücke sich schließt. Hätte nur Kleinmichel mich nicht mit den Straßen im Stich gelassen, die Sache stände anders. Wer hätte von Österreich das gedacht!« – »Ich habe Eure Majestät stets gewarnt, sich nicht von Meyendorf täuschen zu lassen. Er über Wien – Nesselrode über London. Er war Nesselrode nicht gewachsen und verließ sich blind auf seine Verwandtschaft.« – »Ich weiß, daß du die deutsche Partei nicht liebst,« sagte kopfschüttelnd der Kaiser; »Meyendorf trifft keine Schuld, du selbst hast bei diesen undankbaren Österreichern nichts ausgerichtet. Was geschehen ist, läßt sich nicht ändern.« – »Eure Majestät erinnern sich, daß ich im Jahre 49 gegen die Hilfe ohne Bedingungen war. Großmut in der Politik ist immer ein Fehler, und das möglichste zu fordern nie ein Schade!«

Der Monarch lächelte bitter ... »Das ist das Prinzip, nach dem du bei dem Vertrag von Adrianopel 1829 gehandelt. Und was nützen uns jetzt diese Zugeständnisse? Hab' ich nicht auf den undankbaren Allianzetraktat vom 2. Dezember, den Österreich mit Frankreich und England geschlossen, mich bereit erklärt, all jene alten Rechte zu opfern? Ich will dir sagen, Alexei Feodorowitsch, wie es ist. Man will in Wien den Frieden nicht, man glaubt die Gelegenheit günstig, die Donau zu gewinnen, und schämt sich nicht, dafür die Liberalen Deutschlands in Bewegung zu setzen.« – »Sire, Ihr Schwager hält fest! Er ist ein Ehrenmann auf dem Thron.« – »Ich weiß es und vertraue auf ihn. Österreichs Intriguen am Bundestag scheitern an Preußens Festigkeit, und die französischen Noten werden ihre Abfertigung finden. Rußland ist in der Schuld Preußens und möge es nie vergessen, wenn die Zeit kommt, wo die anderen Mächte sich für seine Neutralität zu rächen suchen!«

Der General schwieg – es war offenbar, daß er erwartete, der Kaiser solle ihn um einen Gegenstand befragen, und dieser zauderte ganz gegen seine Gewohnheit damit. Er legte wiederholt die Hand auf den Tisch und ballte sie, gleich als bemühe er sich, einen Entschluß zu fassen. Endlich, wie erzürnt über sich selbst, heftete er seine Augen fest auf den Grafen und sagte mit leiser, kaum hörbarer Stimme: »Ich habe dein Billett von gestern abend erhalten. Der Agent ist zurückgekehrt?« – »Ja, Sire!« – »Und er bringt die Antwort auf unsere Vorschläge?«

Der General nickte stumm ... »Heraus damit, Mann – man hat in Paris abgelehnt – man fordert größere Vorteile? – Heraus damit, Orloff,« fuhr er heftig fort, als der Graf trübe das Haupt schüttelte. – »Du kennst mich und weißt, daß ich alles ertragen kann.« – »Euer Majestät sind noch so angegriffen und aufgeregt ...« – »Gehörst auch du zu denen, die unter dem Vorwande, mich zu schonen, Glied um Glied martern können? Nicht den Diplomaten verlange ich, sondern den Freund und seine Wahrheit. Sprich denn« – er lächelte seltsam – »Vielleicht hab' ich wenig Zeit mehr, sie zu hören.« – »Sie wissen, Sire, daß mein Bote ein zuverlässiger und gewandter Mann ist. Er hat mit – dem Kaiser selbst verhandelt.« – »Nun, und?« – »Er hat eine vollständige Zurückweisung erfahren.«

Die Hand des Monarchen ballte sich krampfhaft ... »Weiter ... die Details!« – »Sire! es sind ebensoviel Beleidigungen; ersparen Sie einem treuen Diener den Schmerz, sie zu wiederholen.« – »Nichts da – ich muß alles wissen, jedes Wort, jede Silbe!« Die Stimme klang ungeduldig. – »Die Instruktion ist an Bourquenai Französischer Gesandter in Wien. bereits abgegangen, sich jetzt mit unserm Zugeständnis der Auslegung nicht mehr zu begnügen ... es sei zu spät.« – »Was verlangt man?« – »Sire, der Kaiser Napoleon kann Euer Majestät nicht vergeben, daß Sie so lange mit seiner Anerkennung gezögert ... er haßt Sie!« – »Ich weiß es und wußte es längst,« rief der Kaiser. – »Euer Majestät verletzten vielfach seinen Ehrgeiz ... er will jetzt der erste und wichtigste Mann in Europa heißen, und das kann er nicht, solange Eure Majestät da sind.« »Will er mich vielleicht töten lassen?« fragte der Kaiser spöttisch. – »Das nicht, Sire! denn das Leben des Monarchen gehört Gott. Aber er will Rußlands Schande für den Frieden ... er verlangt ...«

»Sprich!« – Die Augen des Herrn waren mit unwiderstehlicher Majestät auf den Grafen gerichtet, der finster die seinen niedergeschlagen hielt. – »Sire, dieser Mann stellt eine Alternative, die Moskau und Paris vergessen machen soll und von Rußland nicht angenommen werden kann, solange noch ein Tropfen russisches Blut in uns lebt. Er verlangt die Übergabe Sebastopols und der Südflotte an seine Armee oder –« Das Auge blieb fest auf ihm haften ... – »oder Ihre Thronentsagung. Er könne und wolle sich nur mit einem andern Regenten Rußlands verständigen, weil Eure Majestät wohl wüßten, daß Sie ihn persönlich beleidigt hätten, – die Hand der Großfürstin –«

»Still – kein Wort mehr!« – er winkte gebietend mit der Hand, stützte die mächtige Stirn auf die Linke und versank in kurzes Nachdenken ... »Der Aufruf der Reichswehr,« sagte nach einer Pause der General, »wird uns noch eine halbe Million Soldaten geben. Eure Majestät werden zwei Drittel Ihrer Armee im Süden konzentrieren können. Preußen und Kronstadt sichern Petersburg – Sebastopol wird sich halten, bis unsere Okkupationsarmee genügend stark ist, um alle Feinde zu vernichten.« – Der Kaiser lächelte matt. – »Du weißt es besser, Orloff! Wir haben zehn Jahre zu früh unser Werk begonnen – aber ich wollte es noch selbst tun. Ich glaubte, Rußland vor jenem Fluche, der spekulativen Zivilisation, noch schützen zu können, und unterliege ihm. Eine Eisenbahn nach dem Süden, und Europa hätte bereits eine andere Gestalt! Der Traum der Wiederherstellung der christlichen Macht am Bosporus ist zu Ende ... ich glaubte, das Testament meines Ahnen durch erhabene Absichten adeln zu können, aber ich bin an den Mitteln gescheitert.« – »Wir werden einen ehrenvollen Frieden erzwingen.« – »Höre mich an! Wir haben drei Schlachten verloren, weil unsere Kräfte den Gegnern nicht gewachsen waren. Das war unser Fehler und unser Unglück beim Beginn, und es ist nicht wieder gut zu machen. Die Feinde haben das Meer als ihre Straße, – die unsere braucht die vierfache Zeit, sie werden uns also immer voraus sein im Ersatz ihrer Lücken und Hilfsmittel. Hier liegt der Vertrag dieses nur durch seine Schmach mächtigen Englands mit Sardinien –: es kauft 15 000 frische Soldaten, wie es einst die Deutschen für die Urwälder Amerikas gekauft hat. Einem Palmerston ist das erlaubt. Ich aber durfte den Plan der revolutionären Propaganda, den der ungarische General mir brachte, nicht annehmen, denn ich hätte mit dem Geist meines ganzen Lebens gebrochen. Kampf gegen die Revolution, solange die Hand den Degen halten kann!« – »Sebastopol wird den Feind ermüden!« – »Es wird und muß fallen. Totleben und meine braven Soldaten haben das Unglaubliche geleistet, aber alle menschliche Kraft hat ihre Grenzen. Dolgorucki hat dir zwar die amtlichen Rapporte vorgelegt – dies geheime Memoire, das mir der Großfürst Nikolaus gesandt, den ich selbst zum Ingenieur gebildet, gibt mir das wohlgeprüfte Urteil bewährter Männer – Totlebens selber. Sebastopol ist mit der Sappe verteidigt worden und wird durch die Sappe fallen. Die Feinde kannten seinen schwachen Punkt nicht, weil weder Raglan noch Canrobert Ingenieure und Feldherrn sind, und deshalb hat es sich gehalten. Sobald der Angriff auf die Schiffervorstadt und die Korniloffski-Bastion konzentriert wird, ist das Schicksal der Festung entschieden.« – »Die Engländer haben diesen Posten und sie sind weder geschickt noch kräftig genug, um sie dort fürchten zu müssen. Die übersandten Pläne des Barons Osten-Sacken für das System vorspringender Konter-Approchen und Feldschanzen sind vortrefflich.« – »Sie können die Verteidigung erleichtern, aber nicht den Fall hindern. Der Korniloff-Hügel beherrscht die Südseite und die Reede.« – »Euer Majestät sagen selbst, daß der Feind falsch operiert.« – »Aber er wird seinen Fehler verbessern. General Niel ist bereits in den letzten Tagen des Januar im Lager angekommen, und er ist der beste Ingenieur, den die Franzosen haben. Dieser Bericht der Spione hier meldet, daß er bereits vorgeschlagen hat, die Angriffsfronte zu ändern.« – »So muß man die Entscheidung auf einen Wurf setzen. Lassen Sie Mentschikoff nochmals mit seiner Gesamtmacht angreifen, von der ganzen Garnison unterstützt. Mögen sie sterben, sie alle für Rußland, wenn sie nur den Feind mit vernichten.«

Der Kaiser war aufgestanden – er ging jetzt um den Tisch und legte dem riesigen alten Krieger die Hand auf die Schulter. – »Das kannst du raten, Freund! ich habe andere Pflichten. Hundertachtundzwanzigtausend Mann tapferer Soldaten stehen in und um Sebastopol; sie mögen für ihr Vaterland sterben, aber sie dürfen nicht leichtsinnig geopfert werden und Rußlands Existenz am Pontus mit ihnen. Österreich und dem Halbmond müssen wir dort auf alle Chancen gewachsen bleiben, und hier können wir keine Truppen mehr entbehren, denn Frankreich agitiert unaufhörlich in Stockholm, und Finnland ist jeder Invasion offen.« – »Aber was beschließen dann Euer Majestät?« – »Ich will den Frieden möglich machen!« –

Der Graf sah den Zaren starr, offenbar ohne Verständnis an ... »Wollen Euer Majestät sich näher erklären?« – »Später – wir wollen ausführlich beraten – ich weiß ja jetzt deine Antwort von Paris.« – »Gönnen Sie sich Ruhe, Sire – Sie bedürfen derselben. Ich beurlaube mich.« –

Der Kaiser winkte ihm freundlich; er hatte ihm den Rücken gekehrt und stand vor dem Regal, das seine Handbibliothek enthielt. »Ich werde dich rufen lassen, wenn es Zeit ist!« – Der General entfernte sich – unter der Tür rief ihn der Kaiser nochmals zurück. – »Welcher von den Flügeladjutanten ist an der Reihe für die Depeschen?« – »Oberst Tettenborn, Sire.« – »Laß ihn bereit sein, nach Baktschiserai abzugehen ... Ich halte es für das beste, wenn Mentschikoff auf seine Enthebung anträgt; er ist ohnehin leidend, und es würde unserm alten Freunde doch gar zu wehe tun, wenn gerade er, der den Kampf so tapfer begonnen, unterliegen sollte.«

Der Graf wagte nicht, etwas zu sagen; er verbeugte sich nochmals beklommen und verließ das Gemach ... Der Kaiser ging einige Male, die Hände ineinander verschlungen, auf und nieder – ein heftiger Hustenanfall nötigte ihn, stehen zu bleiben. Dann trat er wieder zu dem Bücherschrank und nahm ein Buch heraus, mit dem er sich an den Tisch setzte. Es war das Werk des berühmten englischen Arztes Stockes über die Brust- und Lungenaffektionen ... Der Kaiser las länger als eine halbe Stunde aufmerksam darin – seine mächtige Stirn hatte sich finster zusammengezogen; zuweilen perlte ein großer Schweißtropfen darauf.

Das Rasseln der Gewehre der ablösenden Schildwachen draußen vor dem Palast unter seinen Fenstern weckte ihn aus den tiefen Gedanken, mit denen er über dem Buche saß. Sein Auge traf auf die Madonna von Murillo und von ihr auf das einfache Kruzifix von Ebenholz mit dem bleichen weißen Christusbilde, das darunter hing; seine Hände falteten sich, sein Haupt sank auf sie nieder – Der Kaiser betete ... Als er sich erhob, ruhte sein Blick wenige Momente ruhig und traurig auf dem Bildnis der Kaiserin und seiner Lieblingstochter, der verstorbenen Großfürstin Alexandra, das er selbst nach dem schönen Porträt von Brüllow in der Kapelle von Zarskoje-Sselo kopiert, denn der mächtige Herrscher beschäftigte sich oft in den wenigen Erholungsstunden, die er sich gönnte, mit der schönen Kunst der Farben. Dann, den Kopf erhebend, sprach er fest sein Lieblingswort aus: »und jetzt – im Dienst!« Seine Hand drückte auf die Feder der kleinen Glocke – der diensttuende Kammerherr trat ein.

»Wollen Sie so gut sein, lieber Baron,« sagte der Kaiser freundlich, »und Befehl geben, daß mein Schlitten vorfährt?« – »Euer Majestät wollen ausfahren?« stammelte dieser erschrocken. – »Warum nicht? – Die Garde-Reserven der Regimenter für Lithauen sind zur Revision in die Reitbahn kommandiert; ich bin nicht gewohnt, auf mich warten zu lassen. Tun Sie also nach meinem Wunsch!«

Der Kammerherr entfernte sich – wenige Minuten darauf kehrte er zurück, um anzuzeigen, daß der Befehl erteilt worden. Der Kaiser hatte bereits den Helm aufgesetzt und den Mantel umgenommen. – »Majestät,« sagte der treue Diener, »im Vorzimmer warten der Geheime Rat Mandt und Staatsrat Karell. Sie bitten, vorgelassen zu werden.« – Er hatte die Augenblicke benutzt, die beiden harrenden Ärzte von der Absicht des Kaisers in Kenntnis zu setzen. – »Ich weiß, ich weiß!« sagte dieser ungeduldig, »aber ich habe jetzt keine Zeit, später – am Abend oder morgen!« – Er ging an den Kammerherren vorbei durch die Reihe der Vorzimmer nach der großen Treppe zu. Im zweiten fand er die beiden Leibärzte ... »Entschuldigen Sie, meine Herren,« sagte der Kaiser halb scherzend im Vorübergehen, »aber ich bin in großer Eile. Nachher stehe ich Ihnen mit Puls und Atem zu Diensten.« – Sein erster Leibarzt, Dr. Mandt, ein geborener Preuße, dem er stets großes Wohlwollen und Vertrauen bewiesen, trat ihm jedoch kühn in den Weg. – »Eure Majestät wissen vielleicht nicht, daß draußen eine Kälte von mehr als 23 Grad herrscht. Wenn Eure Majestät meine Bitten auch nicht beachten, so flehe ich Sie wenigstens an, das Urteil meines Kollegen Dr. Karell anzuhören. Es ist meine Pflicht, darauf zu dringen.« –

Der Kaiser war stehen geblieben. Ein Hustenanfall erschütterte heftig den kräftigen Körperbau trotz aller Anstrengungen, die er machte, ihn zu unterdrücken. Zwei scharf begrenzte rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangenknochen – er sah die beiden Ärzte ernst, aber nicht mißbilligend an ... »So reden Sie!« – »Sire!« sagte Dr. Karell mit fester Stimme, »kein Militärarzt in der ganzen Armee würde einem Soldaten, der so krank wie Eure Majestät ist, erlauben, einen Fuß aus dem Hospital zu setzen, weil er sicher ist, daß der Patient es nur kränker wieder betreten wird.« – »Ich kann dem Urteil des Dr. Karell nur beistimmen,« fügte Mandt hinzu, »und wiederhole als Arzt die Forderung, als Untertan die ehrfurchtsvolle Bitte, daß Majestät in Ihr Zimmer zurückkehren.«

Das Schweigen des Kaisers war nur kurz – seine Stimme ruhig und den unbeugsamen Entschluß verkündend, der keine Widerrede mehr duldet, als er sagte: »Ich danke Ihnen, meine Herren; Sie haben Ihre Pflicht getan; lassen Sie mich nun auch meine tun.« Damit ging er an den sich ehrerbietig Verbeugenden hastig vorüber. Sie sahen sich erstaunt und schmerzlich betroffen an. – – – Der Kaiser blieb zwei Stunden, nur in seinen Mantel gehüllt – er besaß nicht einmal einen Pelz – in dem kalten Exerzierhause, und war trotzdem bei seinem Fortgehen ganz in Schweiß gebadet, denn er war sehr angegriffen, hatte stark gehustet und fortwährend ausgeworfen. Dennoch fuhr er, als er das Exerzierhaus verlassen, noch zu dem kranken Kriegsminister, Fürsten Dolgorucki, ermahnte diesen, nicht zu früh auszugehen, und kehrte dann erst in das Winterpalais zurück.

Die Kälte auf den Straßen war schneidend.

*

Es war am Vormittag des 2. März – in den Vorgemächern des kaiserlichen Kabinetts waren die obersten Palastdiener, die Minister, die Generale und hohen Hofchargen zahlreich versammelt; und dennoch herrschte eine fast lautlose Stille, nur zuweilen von einer leisen Frage an die langsam und traurig ab- und zugehenden Kammerdiener unterbrochen. In den Augen ernster Staatsmänner, schlachtengewohnter Krieger hingen Tränen, finster und sorgenschwer falteten sich die Stirnen, die Augen befragten sich stumm und angstvoll – gespannt lauschte das Ohr auf jeden Laut aus dem Krankenzimmer ... In allen Kirchen der großen Kaiserstadt lag das Volk auf den Knieen mit seinen Geistlichen vereint im Gebet um das Leben des Zaren ... Seit dem Abend des unglücklichen 22. Februar, an dem er noch darauf bestanden, den Gebeten der ersten Fastenwoche beizuwohnen, hatte der Kaiser sein Arbeitszimmer nicht mehr verlassen. Dort erteilte er, auf dem Sofa liegend, und nur mit dem Mantel zugedeckt, am andern Tage dem Obersten und Flügeladjutanten von Tettenborn noch Audienz und fertigte ihn mit Instruktionen nach Baktschiserai ab. Am Abend ließ er den Großfürsten-Thronfolger zu sich kommen und schloß sich mit ihm ein. Als nach zwei Stunden der Erbe Rußlands das Kabinett seines Vaters verließ, bemerkte man, daß er auffallend bleich und erregt aussah. Von diesem Augenblick an übernahm der Großfürst alle Regierungsgeschäfte ... Vom 24. bis 27. Februar steigerten sich nur langsam die Erscheinungen der Krankheit – erst in der Nacht zum 1. März verschlimmerten sie sich reißend, und am Abend dieses Tages gaben die Ärzte die Hoffnung auf. Auf ihren Wunsch baten die Kaiserin und der Thronfolger den Kranken, das heilige Abendmahl zu nehmen. Die Kaiserin hatte die ganze Nacht am Lager ihres Gemahls mit seinem Leibarzt zugebracht. Es war 3 Uhr morgens, als dieser dem Kaiser eröffnete, daß seine Lunge in starke Mitleidenschaft getreten und eine Lähmung derselben zu befürchten sei. Der Herr von Millionen von Menschenleben verstand, daß der Größere seine Zeit beschlossen habe. Kein Muskel in dem ehernen Antlitz zuckte, als er sich mit der Frage an seinen Arzt wandte: »So muß ich sterben?« Dreimal setzte der treue Diener an, das verhängnisvolle »Ja« auszusprechen, – die Stimme versagte ihm, erst beim dritten Male kam es über seine Lippen.

Der Kaiser faltete ruhig die Hände – sein großes Auge wandte sich zur Decke – das Ohr des Arztes allein vernahm das leise Wort, das er flüsterte – es hieß: »Rußland!« – Mit freundlichem Blick wandte sich der dem Tode geweihte Herrscher dann zu dem Verkündiger der furchtbaren Botschaft und sagte, ihm die Hand reichend: »Ich danke Ihnen. Woher haben Sie den Mut gehabt, mir dies zu sagen?« – Dr. Mandt erwiderte, daß er nur ein Versprechen erfüllt habe, das er Majestät früher gegeben, und daß er es für seine Pflicht gehalten habe, es zu sagen, weil er wisse, daß Majestät die Wahrheit hören und ertragen könne.

Der Kaiser nickte. Dann verlangte er das heilige Abendmahl und empfing es ruhig und gefaßt – sein starker Geist hatte mit dem Himmel seinen Frieden geschlossen, wie er ihn jetzt mit der Erde schloß. Er nahm Abschied von der Kaiserin, den kaiserlichen Kindern und Kindeskindern, segnete und küßte jeden einzelnen, mit fester Stimme dabei den Segen sprechend und ihnen Grüße auftragend für die beiden entfernten Söhne auf den Schlachtfeldern von Sebastopol. Die Familie mußte sich dann entfernen; er behielt nur die Kaiserin und den Thronfolger bei sich.

Das geschah um 4 Uhr morgens ... Gegen 6 Uhr bat er die Kaiserin, sich etwas zur Ruhe zu legen. Ihre Antwort war: »Laß mich bei dir; ich möchte mit dir heimgehen, wenn es möglich wäre!« – Der Kaiser sagte darauf: »Nein, du mußt noch hienieden bleiben; sorge für deine Gesundheit, damit du der Mittelpunkt der ganzen Familie sein kannst. Gehe nur, ich werde dich rufen lassen, wenn der Augenblick herannaht.« – Jedes Wort bei diesem erhabenen Tode war einfach und erhaben, wie der Sterbende selbst.

Die Kaiserin verließ still weinend das Gemach – als sie die Schwelle überschritten, mußten ihre Kammerfrauen sie forttragen ... Der sterbende Herrscher ließ dann die Grafen Orloff und Adlerberg, den Minister des kaiserlichen Hauses, und den Kriegsminister Fürsten Dolgorucki eintreten – diese drei Männer aus seiner Jugend, die ein ganzes Menschenleben neben treuen Untertanen ihm treue Freunde gewesen waren ... Der Kaiser dankte ihnen für diese Treue und nahm Abschied von ihnen. Sein Auge begegnete ruhig und fest dem unruhigen und vorwurfsvollen Blick Orloffs. Später ließ er seine spezielle Dienerschaft kommen, segnete sie und nahm Abschied von ihr. Der ersten Kammerfrau der Kaiserin, von Rohrbeck, dankte er besonders für die treue Pflege seiner Gemahlin und trug ihr einen Gruß auf an sein liebes Peterhof ... Schon schwer atmend, befahl er darauf selbst, seinen nahen Tod nach Moskau, Warschau und Berlin zu telegraphieren, und traf mehrere Anordnungen für sein Begräbnis, das er möglichst einfach wünschte. Dann – es war gegen zehn Uhr – wandte er sich mit der Frage an den Arzt, wie lange der Prozeß der Auflösung zu dauern pflege ... Weinend antwortete ihm Dr. Mandt: »Zwei Stunden.« – Jetzt trat eine schreckliche Stille ein, die Sprache hatte den Kranken verlassen – er betete still, sich oft bekreuzend, nachdem er die Hand seiner inzwischen wieder eingetretenen Gemahlin in die des Ober-Presbyters Bojanow, seines Beichtvaters, gelegt hatte.

Diese Zeit der Stille war erhaben, furchtbar. Die Hand der Gattin trocknete zitternd von Zeit zu Zeit mit ihrem Tuch die Perlen des Todesschweißes von der bleichen Stirn des Sterbenden ... Bald nach 11 Uhr wurde der Thronfolger abgerufen und entfernte sich leise. Als er zurückkehrte, hielt er zwei Briefe in der Hand – die der eben eingetroffene Sohn des Fürsten Mentschikoff nebst den Depeschen über den Reiterangriff Chruleffs auf Eupatoria überbracht hatte ... Der Blick des durch das Geräusch aufmerksam gemachten Kaisers traf den Thronerben, der sich über ihn beugte und flüsterte: »Briefe von meinen Brüdern aus Sebastopol – willst du sie lesen?« – Der Kaiser winkte verneinend – er hatte die Sprache wiedergefunden und sagte laut: »es würde mich wieder auf die Erde zurückführen! Grüße meine tapfern Soldaten von Sebastopol und danke ihnen in meinem Namen!« – Einige Minuten sprach er mit ebenso kräftiger Stimme:

» Dites à Fritz, de rester toujours le même pour la Russie, et de ne pas oublier les paroles de Papa!« Sagt Fritz, er solle Rußland immer der gleiche bleiben und Papas Worte nicht vergessen! Es war sein letzter Gruß an die Erde – sein Testament für Rußland! ... Der letzte Todeskampf begann – lange noch ruhte sein brechendes Auge auf den beiden Großfürsten, den jüngeren Gliedern der Familie und der Kaiserin, deren Hand er in der seinen behielt und wiederholt drückte. Alle Anwesenden lagen auf den Knien – das leise Murmeln der Sterbegebete von den Lippen des Priesters drang allein durch das Gemach ... Sie beteten für ihn – er betete mit ihnen, daß Gott der Herr sein unsterblich Teil barmherzig empfangen möge. – –

Um 12 Uhr 10 Minuten verkündete Dr. Mandt, daß der Herrscher von Rußland verschieden sei ... Nach dem Urteil der Ärzte ist selten ein Mensch so leicht und schmerzlos gestorben wie Kaiser Nikolaus.

*

Von Berlin brachte der Telegraph – zum ersten Male sühnend jene unheilschwangere drängende Eile der Neuzeit – des Königlichen Freundes und Bruders frommes Trosteswort der heiligen Offenbarung: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach!«


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