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»Hui! Hui! Väterchen, halte dich gut, mein Liebling! Denke, daß wir in drei Stunden die Station erreichen müssen. Pfui, Brauner, wer wird stolpern, wo der Boden so fest und das Gras so weich ist! Strenge Deine Muskeln und Sehnen an, Närrchen, die gnädige Herrschaft will es, die gnädige Herrschaft zürnt mit dem armen Jämschtschik, Postillon. wenn wir vor Nacht die Stanzia nicht erreichen.«
Es war auf der Steppe – gegen Abend, – ein schwüler Abend, der auf die glühende Tageshitze des Juli-Anfangs gefolgt war. Der heiße Sommer lag schon auf der nogaischen Ödenei, die sich vom Dniepr bis zum Asowschen Meere hinzieht und den Zugang der Krim von der Landseite bildet. Zwei Straßen, wenn man die Bahn durch die trockene Wüste so nennen kann, laufen nach dem Eingangspunkte der Landenge von Perekop, die die taurische Halbinsel mit dem Festlande verbindet: westlich von Odessa und Cherson her in der Nähe des Meeres über Aleszki und Jekaterinoslaw sich anschließend, die Straße von Berislaw über Czaplynka.
Kennst Du die Steppe? – Nein, Du kennst sie nicht, Leser, diesen Anfang einer großen Zukunft, diese Hoffnung Rußlands im Süden! Die mächtigen, weiten Strecken, die sich von den Donaumündungen um den Pontus bis zu den Felsenwänden des Kaukasus hindehnen, auf der Karte wie in der Wirklichkeit nur unterbrochen durch die großen Ströme Don, Dniepr, Bug, Dniestr und wenige Städtenamen; auf den Karten nur bezeichnet durch die Namen: Kosakenlinie, nogaische Steppe, Steppe von Otschakow, Taurien. Unermeßliche Grasfelder unter der schattenlosen Glut der Sonne, die im Sommer breite Erdspalten in den braunen Boden reißt, über die im Winter der eisige Orkan braust. Weite, endlose Ebenen, aus denen sich nur die Mogilen, die geheimnisvollen Grabhügel vergangener Völkerschaften, erheben, – die nur das schilfbedeckte, tiefeingeschnittene Flußtal der großen Ströme oder der sumpfigen Limans unterbricht, oder die jähe Regenschlucht, vielleicht das seit Jahrhunderten ausgedörrte Bett eines Nebenstromes ... Das Land der Scythen, – das so lange unbekannte Gebiet, von dem einst die Ströme alter Barbarenhorden sich über das gesittete Europa ergossen, nach Süden bis zu den Mauern des goldnen Byzanz, nach Westen bis in die Fluren des sonnigen Italiens und Frankreichs, nach Norden hinauf bis zum heutigen Lechfelde, bis zu den Toren Merseburgs, bis zum Felde von Wahlstatt, wo der Sohn der heiligen Hedwig mit seinen Rittern fiel; das Land, von wo aus Pugatscheff den Thron der Zaren bedrohte!
Seit Peter der Große das erste russische Kriegsschiff aus dem Don ins Asowsche Meer gleiten ließ, seit Katharina ihren Gemahl am Pruth losgekauft mit ihrem Schmuck aus den Händen der Türken, seit ihre große Nachfolgerin und Namensschwester durch den Frieden Kainardschi (21. Juli 1774) die Krim und das Schwarze Meer eroberte, ist Unendliches schon geschehen für diese Länderstrecken. Dennoch ist es noch immer die Steppe, die sich hier ausdehnt, und alle jene Städte, Gärten und fruchtreichen Kolonien, die in den knapp hundert Jahren erschaffen wurden, sind eben nur Oasen in der grünen Wüste. Tagelang findet der Reisende, der sie auf der Britschka durchfliegt, nur die einsame Militär-Station, wo er die Pferde wechselt, die aus der Steppe meilenweit erst geholt werden, oder die Rasenhütte des Tabuntschik, Roßhändler, Herdenbesitzer. und selten die freundliche, weiße Kolonie des deutschen Mennoniten ... Sie ist schön in ihrem Frühlingsschmuck ... die Steppe, so weit das Auge trägt, ein bunter, duftiger Teppich von Blumen und Gräsern, von frischen Quellen bewässert, die der Winterschnee genährt hat. Aber es währt nur wenige Monate. Wenn der Sommer kommt, verdorren Blumen und Gräser – die Quellen vertrocknen – der Boden wird zur harten Rinde, von tausend Falten und Rissen durchzogen; die Herden der mächtigen Rinder, der wilden Rosse und geduldigen Schafe drängen sich zusammen und suchen das letzte trübe Schlammwasser der Cisterne; eine dumpfe staubige Hitze ruht auf dem braunen Erdreich, und die wunderbaren Bilder der Fata Morgana täuschen den verschmachtenden Reisenden.
Die Rosse, die der eingeborene Jämschtschik mit Schmeichelworten antrieb, waren vor einen ziemlich eleganten Pariser Reisewagen gespannt und zogen ihn rasch über die öde Fläche. Die Reisenden, die anfangs die Straße von Aleszki am Meere entlang gewählt, hatten dieselbe schon nach dem ersten Dritteil auf den Rat des Postmeisters verlassen, der sie versicherte, daß sie auf keiner Station weiter Pferde bekommen würden, da dieselben für die Regierung in Beschlag genommen, und sie versuchten daher, quer durch die Steppe reisend, die große Straße von Berislaw nach Perekop zu erreichen. In dem gegen die Hitze festverschlossenen Wagen saß ein russischer Offizier, den gebrochenen linken Arm in der Binde, und auch am Kopfe Spuren tragend von Verletzungen, entstanden durch Quetschungen oder einen erlittenen Fall, die gewiß nicht imstande waren, das hagere Gesicht mit der hoch-kahlen Stirn, dem aufgeworfenen Munde und dem grünlich-grauen Auge zu verschönern.
Die Dame war groß und schlank, das Haar cendré, der Teint und das Auge matt und dennoch voll Lüsternheit, das fest geformte Kinn Entschlossenheit ausdrückend ... Sie war voller Ungeduld und Ermattung. Bald brauchte sie heftig den Fächer, bald das Flacon, oder öffnete oder schloß das Glas der Wagentür, ohne auf ihren Nachbar viel Rücksicht zu nehmen ... »Lassen Sie das Fenster ruhen, Celeste,« sagte dieser endlich in französischer Sprache; »Sie verbessern das Übel der Hitze dadurch nicht und lassen unnütz den Staub herein.« – »Abscheulich!« rief die Dame; »nennen Sie das ein Land, worin man atmen kann, Graf? Was versprachen Sie mir alles in Bukarest? – den Himmel Italiens oder der Provence, Orangendüfte und die prachtvollsten Szenerien; und hier sitzen wir nun eingepfercht in einen Wagen, in einem Meer von Staub und erstickender Hitze, kein menschliches Wesen zu sehen als höchstens einmal des Tags einige Halbwilde und eine Baracke, die Sie ein Posthaus zu nennen belieben.« – »Warten Sie!« sagte der Russe gleichgültig. – »Warten! Geduld!« rief die Französin heftig; »das mögen Sie Ihren Leibeigenen empfehlen, nicht einer Dame. Warum ließen Sie mich denn nicht lieber in Bukarest, wo doch noch ein Schimmer von Zivilisation und Gesellschaft herrscht, statt mich solchen Fatiguen auszusetzen?« – »Sie sind unverständig, Celeste. Herr Bibesko, Ihr sogenannter Gemahl ...«
»Mein Herr,« unterbrach ihn heftig die Dame, »keine Beleidigung!« – »Nun, Ihr wirklicher Gemahl,« verbesserte sich spöttisch der Offizier, »sitzt im Gefängnis und wird für seine Korrespondenz mit den türkischen Ministern entweder erschossen oder wenigstens über den Pruth mitgenommen werden. Überdies wissen Sie sehr wohl, daß sein Vermögen hin, der Rest mit Ihrer freundlichen Hilfe verschwendet ist und daß Sie von seiner Familie nichts zu erwarten haben. Als ich nach meiner Verwundung beim Sturm auf Silistria – der Teufel gesegne es dem französischen Schurken! – in Ihr Haus nach Bukarest gebracht wurde und Sie die Güte hatten, sich meiner körperlichen Beschaffenheit und meiner Herzensfrage anzunehmen, wofür ich Ihnen dankbar die Hand küsse, waren die Verhältnisse zwar noch nicht zum Eklat gekommen; indes geschah es doch bald darauf, und ich glaube, ich war damals Ihre Hauptstütze.« – »Man hat es mir bitter zum Vorwurf gemacht.« –
»Bah! – ich weiß es, daß der größte Teil der Bojaren gerade nicht sehr russisch gesinnt ist, aber ich wiederhole Ihnen, von der Familie Ihres Gatten hätten Sie ohnehin wenig zu erwarten gehabt, und Sie hätten mit Ihren Eroberungen, an deren Erfolg ich keineswegs zweifeln will, von vorn beginnen müssen. Unter diesen Umständen konnte der Vorschlag, meine Begleiterin und Freundin zu sein, als ich zur Erholung von meinen Verletzungen einige Monate Ruhe oder wenigstens leichten Dienst in dem schönen Klima der taurischen Küste genießen sollte, Sie nur verschiedenen Verlegenheiten entreißen.« – »Ihr Auftrag war nicht der einzige, Graf, ich hatte die Wahl,« sagte die Dame mit jenem schamlosen Hochmut der Pariser demimonde, der aus solchen Verhältnissen ein gesellschaftliches Recht macht. – »Ich weiß das, schöne Celeste,« erwiderte der Russe halb galant, halb apathisch; »und daß Sie mir den Vorzug gaben, ist mir sehr schmeichelhaft. Aber Sie müssen sich doch auch in das Unvermeidliche fügen. Der Weg, den wir gezwungen sind zu machen, hat allerdings sein Unangenehmes und seine Beschwerden, namentlich für Damen. Aber sie sind unvermeidlich, um an unser Ziel zu gelangen, da der Seeweg für die Dampfboote gesperrt ist.« – »Warum haben Sie uns dann nicht wenigstens den Weg an der Küste fortsetzen lassen?« beharrte die Dame eigensinnig. »Ich hätte dort doch weniger vor der Hitze und dem Staub zu leiden gehabt, auch sollen die Stationen zahlreicher sein als in dieser Wüste.« – »Sie haben selbst in Kostogrysowo gehört, Celeste, daß auf der ganzen Tour keine Pferde mehr zu haben waren und daß auch die Reisenden, – gleichfalls eine Dame, – die eine Stunde vor uns abgefahren sind, vorgezogen hätten, die Hauptstraße zu erreichen. Noch einige Stunden und wir sind auf der Station und werden die Nacht dort zubringen.« – »Es dunkelt bereits,« sagte furchtsam die Dame; »sehen Sie dort drüben die düstre Wolke, die so rasch am Horizont gestiegen ist? Diese Gegend ist doch sicher?« – »Bah! – Es lebt des Gesindels genug hier, denn alle entlaufenen Leibeigenen flüchten in die Steppen und alle Verbrecher lassen sich hier nieder, weil niemand fragt, wer und woher? Aber selten finden sich hier Leute zusammen, um eine Gefahr besorgen zu lassen. Doch die Wolke da drüben ist seltsam – die Sonne muß noch hoch über dem Horizont stehen und dennoch ist kein Schein mehr zu sehen. – Tölpel! warum hält der Wagen, Ossip?«
Er hatte das Fenster geöffnet und fragte den auf dem Bock neben dem einen Postillon sitzenden Leibdiener ... »Dort hält ein Wagen, Erlaucht, die Telege, die uns vorangegangen, aber mehrere Reiter sind um sie her.« – »Vorwärts, Tölpel – die Leute haben vielleicht ein Unglück gehabt – je eher wir hinkommen, desto eher werden wir es erfahren.« – Der Wagen, aus dem man die etwa anderthalb Werst noch entfernte Gruppe am Rande der immer tiefer und näher sich senkenden Wolke bemerkt hatte, rasselte aufs neue über das dürre Erdreich – aber die Pferde schienen wild und unruhig und wurden es mit jedem Augenblicke mehr. Auch die Postillone schien eine bestimmte Besorgnis zu erfassen, sie riefen sich in tatarischem Idiom mehrfach zu und fuhren sichtbar nur mit Widerwillen weiter ... Um sich her schien sich jetzt die Steppe zu beleben. Die zierlichen Gestalten der Erdhasen huschten an ihnen vorüber oder suchten ihre Löcher. Zwei große Trappen mit erhobenen Flügeln und vorgestreckten Köpfen rannten scheu hinweg, und hoch aus der Luft tönte das scharfe Geschrei eines Adlers, der über ihnen weite Kreise zog und sich über die immer näher und näher kommende Wolke emporzuschwingen schien.
Wiederum, noch einen starken halben Werst von jener Gruppe entfernt, hielt der Wagen. Schon seit einigen Augenblicken hatte ein leises eigentümliches Summen und Schwirren in der Luft begonnen. Die Räder schienen über weiches knirschendes Gras zu gehen, das halb verdorrte Gestrüpp der weiten Steppe schien sich, obschon kein Lufthauch zu spüren war, zu regen und lebendig zu werden ... »Was gibts?« – »Erlaucht,« sagte der nächste Jämschtschik, »möge der heilige Iwan dich segnen – aber es sind die Heuschrecken!« – » Morbleu! was geh'n die Heuschrecken uns an? – vorwärts!«
Nur einer, der diese furchtbare Landplage noch nie in der Nähe gesehen, konnte so sprechen, und noch ehe die Equipage jene Gruppe erreicht hatte, wurde der Oberst inne, daß er sich hier in ein Übel gestürzt, das keine Macht und nur Geduld zu beseitigen vermochte ... Nicht Tausende, sondern Millionen und Abermillionen dieser widrigen seltsamen Insekten füllten den Boden und schwirrten zum Teil durch die Luft. Dennoch bildeten diese Massen offenbar nur die Flanke des fliegenden Stromes; denn wie die Reisenden jetzt deutlich merkten, bestand die große Wolke, die nun massiv an ihrer Seite hing, die Strahlen der sinkenden Sonne gänzlich verbarg und zu Anfang von ihnen für eine Wetterwolke gehalten worden war, nur aus Myriaden ziehender Heuschrecken ... Sie waren jetzt dicht an der früher bemerkten Gruppe, und die Jämschtschiks hielten zum dritten Male an, diesmal offenbar mit dem Willen, nicht weiter zu fahren. Die Pferde schnoben und schlugen um sich her und waren kaum zu bändigen. Der Oberst, um nicht genötigt zu sein, die Scheiben länger geöffnet zu halten, öffnete auf der dem Anzuge entgegengesetzten Seite die Tür für einen Augenblick und sprang heraus. Sein Fuß zertrat mit jedem Schritt Hunderte des Gewürms, und er stand sofort bis an die Knöchel in dem widerlichen Strom.
Vor ihm hielt eine halboffene, aber durch einen ausgespannten Leinenschirm vor den Sonnenstrahlen geschützte und möglichst bequem eingerichtete Telege, in der zwei Damen saßen, die eine jung, zart und schön, offenbar den vornehmen Ständen angehörend, die andere anscheinend die Zofe, beide eifrig beschäftigt, sich von dem Gewürm möglichst frei zu halten, das, teils durch die Luft fliegend, teils an den Rädern emporkriechend, Wagen, Kleider, ja Hände und Gesicht der Reisenden bedeckte. Zur Seite des Wagens, dessen Bespannung verschwunden war, stand ein kräftiger Mann in der Halblivree eines Jägers, ohne auf sich zu achten, bemüht, die junge Dame von der lästigen Plage zu schützen, die sie übrigens mit großer Fassung ertrug ... Um die Telege hielten auf ihren kleinen, mit Feldgepäck belasteten Pferden ruhig fünf Kosaken, deren Kleidung und Ausrüstung zeigte, daß sie nicht zu den regulären Truppen, sondern zu den freien Kontingenten gehörten, die die nomadisierenden oder Steppenvölkerschaften stellten. Vier waren noch jung, der fünfte jedoch ein Greis von riesiger Figur, das braune asiatische Gesicht von Narben und Furchen durchzogen und mit nur einem, aber wie ein Feuerstrahl unter den buschigen, weißen Brauen funkelnden Auge – das zweite war durch eine quer über das ganze Gesicht laufende Wunde verletzt und geschlossen. Langes weißes Haar und ein ebensolcher Bart faßten sein durch die große Narbe wirklich furchterregendes Antlitz ein. Bei einer Bewegung des Greises, die seinen grauen Militär-Mantel öffnete, sah der Graf, daß er unter diesem eine alte mit drei oder vier Orden und Medaillen dekorierte Uniform trug. Alle Kosaken rauchten aus kurzen Pfeifen einen eben nicht sehr duftigen Tabak, der jedoch den Vorteil hatte, das fliegende Gewürm wenigstens von ihrem Gesicht abzuhalten; um das andere kümmerten sie sich wenig.
Das alles hatte der Graf mit einem Blicke aufgefaßt; denn die zwar keineswegs wirkliche Gefahr mit sich führende, ja halb lächerliche, aber um so widrigere Lage erlaubte kein langes Besinnen. Indem er an die Telege trat, sagte er höflich: »Ich bin Oberst Graf Wassilkowitsch und ein Reisender durch die Steppe gleich Ihnen. Sie scheinen sich jedoch in einer noch schlimmeren Lage als wir zu befinden, und ich erlaube mir die Frage, inwiefern ich Ihnen nützlich sein kann?«
Ehe noch die Dame antworten konnte, nahm der Jäger das Wort: »Unsern Dank, gnädiger Herr! – die Gräfin Wanda Zerbona ist meiner Fürsorge anvertraut und auf dem Wege nach der Krim, um von Kertsch aus ihre Verwandtin, die Fürstin Tscheftzawada, im Kaukasus zu erreichen. Die Halunken von Postillons haben, als die Heuschrecken nahten, die Stränge abgeschnitten und sind auf- und davongeritten.« – »Wie kommen diese Kosaken hierher?« – »Die braven Leute sind uns begegnet und auf unsere Bitten und das Versprechen einer Belohnung bei uns geblieben. Wir befinden uns bereits fast eine Stunde in dieser unangenehmen Lage.«
Der Oberst wandte sich an den alten Kosaken ... »Wer bist du?« – »Iwan, der Steppenteufel, Batuschka!« – » Skotina! Woher kommst du? Ob du Soldat bist?« – »Zweiundfünfzig Jahre war ich's, Väterchen, teils für den Zar, teils auf eigene Hand. Der Zar ist mir gnädig gewesen, ich bin der Ataman meines Stammes.« Er wies auf die Dekoration auf seiner Brust ... »Bist du hier zu Hause? – Sprich rasch!«
Der alte Kosak lachte, wenn das Grinsen dieses verwitterten Gesichts ein Lächeln zu nennen war ... »Die heilige Mutter von Kasan beschütze dich. Ich bin kein Tatar, sondern ein ehrlicher Kosak vom Don. Das sind meine Enkel und zwei habe ich fortgeschickt, die spitzbübischen Jämschtschiks für diese armen Leute zurückzuholen. Wir hörten, daß der Zar im Süden Soldaten brauche, und da sind wir.«
Der Offizier sah, daß er von dieser Seite keine Auskunft erhalten könne; er wurde aber in den weiteren Nachforschungen von seiner Begleiterin unterbrochen, die mit weiblichem Takt und Teilnahme ihm zurief, die fremde Dame in ihren Wagen bringen zu lassen, der mehr Schutz gegen die Belästigung gewährte, als die offene Telege. Das geschah augenblicklich durch die Diener des Grafen ... »Wie weit sind wir hier noch von der großen Straße entfernt, oder ist irgend ein Ort in der Nähe, wo wir Schutz vor diesem abscheulichen Gewürm finden können?« – »Die Straße ist noch fünfzehn Werste entfernt, Erlaucht,« sagte der älteste Postillon, »und die Stanzia (Station) noch weiter. Aber auf der Hälfte des Weges zur Rechten ab liegt eine Kolonie der Frommen.« – »Wahrscheinlich Mennoniten,« erläuterte Bogislaw. – »Zum Henker! Mögen sie sein, wer sie wollen, wir müssen sie zu erreichen suchen. Wir müssen den Strom dieser Armee von Heuschrecken durchbrechen, denn umzukehren würde nunmehr nichts nützen. Bringt rasch die wertvollsten Sachen aus der Telege nach meinem Wagen, und dann müssen zwei von euch den Mann hier und das Mädchen zu sich auf die Pferde nehmen, denn im Wagen ist kein Platz.« – »Unser Gepäck ist vorausgesandt, wir sind fertig.« – »Desto besser – die Sache wird unerträglich. Zehn Rubel jedem von euch Trinkgeld, wenn ihr uns glücklich durch diese Wolke von Gewürm bringt.«
Er sprang in den Wagen zurück ... Der Jäger hatte die sich sträubende Zofe beruhigt und, den Plan des Grafen verbessernd, zu Ossip auf den Kutschbock gehoben, während der Jämschtschik, der diesen Platz bisher eingenommen, sich auf das linke Pferd des hintern Dreigespanns schwang und Bogislaw selbst das rechte Seitenpferd bestieg ... »Vorwärts, Kamerad,« rief er dem alten Kosaken zu, – es bleibt bei der Belohnung. Brich uns die Bahn.«
Der Alte pfiff seinen Enkeln. Fest aneinander jagten die fünf Reiter in die dunkle Wolke von Gewürm hinein, die Jämschtschiks gaben ihren Pferden den Kantschu und zwangen die sich bäumenden und schnaubenden Tiere, im Galopp den Reitern zu folgen. Einige Minuten lang vernahm man nichts als das Schnauben der Tiere und das weiche, zermalmende Knirschen der Räder, denn selbst der ermunternde Zuruf der Männer war verstummt, da jedes Öffnen des Mundes diesen sofort mit den eklen Geschöpfen gefüllt hätte. Ringsum war die Luft von ihnen verdichtet, der Boden mehrere Zoll hoch bedeckt – jedes Gestrüpp, jeder Halm, auf den sie niederfielen, war im Nu verzehrt und auf ihrem Wege durchs Land die öde Steppe noch öder geworden.
Wenn die Glut des Sommers kommt und die Sonnenstrahlen heiße und giftige Dämpfe entwickelnd auf die sumpfigen Gegenden fallen, dann erheben sich aus den endlosen Morästen der Dobrudscha die Myriaden jener häßlichen Insekten und nehmen, gleich Gewitterwolken vom Winde getrieben, ihren Weg nach dem Süden oder über das schwarze Meer hinüber nach Bessarabien und der Krim und ziehen oft weit hinein in die Steppen des südlichen Rußlands. Millionen und Abermillionen dieser Geschöpfe verschlingt das Meer, – doch was ist das in der Menge? – wo sie niederfallen, da sind sie dichter wie die Tropfen des Regens, verwüstender wie der gewaltige Orkan, und nur selten vermag der Mensch mit all seinem Witz seine Ernte gegen sie zu schützen ... Die Glieder der Pferde, die Räder, der ganze Bau des Wagens, die Körper der Reiter waren mit den Insekten bedeckt, die selbst die Stoffe der Kleider auffraßen. Das Mädchen und der Diener des Obersten hatten ihre Köpfe, so gut es ging, in Tücher verhüllt und ließen alsdann den kriechenden Strom über sich ergehen. Selbst die in der durch Glasscheiben geschlossenen Kutsche Sitzenden litten außer der drückenden widrigen Atmosphäre von dem Gewürm, denn hunderte waren bei dem Öffnen eingedrungen und krochen durch alle Ritzen herein, so daß sie fortwährend in einem Kampf bleiben mußten. Die Französin war fast ohnmächtig, nur Gräfin Wanda unterwarf sich ruhig und tätig dem überkommenen Mißgeschick.
Der Zug hatte sich geradezu in den Strom der Heuschrecken geworfen, um ihn an seiner schmalen Seite zu durchbrechen. Die Eingeborenen wußten, daß er auch hier wohl eine Viertelmeile breit, aber gewiß das Doppelte und Dreifache lang sein konnte. Man war bereits ziemlich weit gekommen, als ein Augenblick wirklicher Gefahr zu drohen schien. Der Zug der Heuschrecken veränderte aus einer noch unbekannten Ursache plötzlich seine Richtung und erhob sich; das Tageslicht, ohnehin schon geschwächt durch den sinkenden Abend, schien auf Minuten lang gänzlich verfinstert, denn die Luft umher war buchstäblich gefüllt, mit schwirrenden, fliegenden Insekten, die Pferde, die anfangs schnaubend und wild sich in dem Schwarm gebärdet, standen nunmehr zitternd und ruhig, und selbst die Männer der Steppe hatten jetzt, so gut es ging, ihren Kopf verhüllt und überließen sich gleichgültig dem Kommenden. Selbst das Atmen wurde immer schwieriger – die französische Dame im Innern des Wagens war leichenblaß vor Furcht und Erschöpfung ... »O, dieses verwünschte Land, – Wasser, Wasser! – ich ersticke!« –
Zum Glück dauerte dieser Zustand nur wenige Minuten; dann wurde es lichter, das Gewirr in der Luft hörte auf, und Menschen und Tiere vermochten freier zu atmen. Das erste Geschäft, das alle vornahmen, gleichgültig gegen alle sonstigen Beobachtungen, war natürlich, sich von den Überresten des widrigen Abenteuers zu reinigen, und die Nüstern und Ohren der Pferde von einzelnen zurückgebliebenen Insekten zu befreien, die, nachdem ihre Angst überstanden, durch das kleinere Übel scheu und unbändig gemacht werden konnten; man konnte jetzt auch, um frische Luft zu schöpfen, die Fenster niederlassen. Die Postillone saßen auf und waren bereit, aufs neue davonzufahren, doch zögerten sie noch einige Augenblicke, da sie unschlüssig schienen, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten ... Die Aussicht war nämlich, obschon der furchtbare Schwarm sich nach und nach verlor, noch immer gesperrt. Eine graubraune Wolkenwand schien den ganzen Horizont zu bedecken und die Sonnenhitze des Mittags aufs neue mit sich zu bringen. Die Reisenden befanden sich eingeschlossen wie in einem Tale, ohne selbst die Richtung der Himmelsgegenden beurteilen zu können.
»Diese Tiere scheinen widrigen, brandigen Geruch zurückzulassen,« sagte die junge Gräfin; »es ist noch immer so schwül und drückend. Bedienen Sie sich meines Flacons, Madame!« – Der Oberst, ohne sich um die Frauen viel zu kümmern, lehnte aus dem Fenster ... »Was soll das Zaudern? Vorwärts, Tölpel! – Was soll's!« – – »Väterchen,« sagte der Kosak mit jener, den gemeinen Russen so eigentümlichen Manier, einer direkten Antwort auszuweichen, – »die Heiligen haben dich und die Frauen zu keiner guten Stunde hierher geführt!« »Herr Graf,« fiel der entschlossene Jäger ein, – »die Augenblicke sind kostbar – darum ohne viel Umschweife: die mit dem Lande vertrauten Leute meinen, es drohe uns eine größere Gefahr als die vergangene; denn die Steppe stehe in Brand!«
Die beiden Damen hatten zum Glück die russisch gesprochene Meldung nicht verstanden, doch sahen sie an der Blässe, die unwillkürlich des Obersten Gesicht überzog, daß eine große Gefahr im Anzuge sein mußte, und die verwöhnte Pariser Lorette, die entführte Bojarendame, faßte laut aufschreiend seinen Arm ... »Mein Himmel! Graf, was gibt es? was spricht der Mann? ich will es wissen!« – Der Oberst machte sich ungestüm frei ... »Zum Henker, Madame! das ist kein Augenblick für Narrheiten! Unser Leben steht auf dem Spiele. – Bogislaw,« wandte er sich an seinen Jäger – »woraus schließt Ihr das?«
Der Jäger wies auf die Wolkenwand ringsum, die immer dichter emporstieg, und in der einzelne hellweiße Wolken emporzukräuseln schienen. Ruhig hielt der alte Kosak an der Seite des Wagens, während seine Enkel beschäftigt waren, den Postillonen im Bändigen der fünf Pferde zu helfen. – »Atmen der Herr Graf nur die Luft! die Sinne werden Sie bereits überzeugen.« – In der Tat wurde der brandige Geruch immer schärfer, die Schwüle immer drückender. – »Wie ist das Feuer entstanden, woher kommt es?« – »Gott weiß es! – Die Kolonisten oder Hirten haben es wahrscheinlich zum Schutz vor den Heuschrecken angezündet. Ich muß gestehen, daß ich selbst ratlos bin, da ich nicht einmal die Richtung des Himmels anzugeben vermag. Euer Erlaucht würden am besten tun, diesem alten Manne zu vertrauen.«
Der Oberst wandte sich zu diesem: »Du siehst, daß ich Stabsoffizier bin und daß es deine Pflicht ist, mir zu gehorchen. Wo ist die Gefahr für uns?« – Der Alte deutete ringsum im Kreise ... »Überall? – Sollen wir umkehren?« – Der Kosak schüttelte mit dem Kopfe. – »Es nützt nichts, Väterchen! Unter den Heuschrecken würdest du desto schneller verbrennen.« – »Weißt du einen Ausweg – kannst du uns führen, uns retten? denn ich hoffe, du wirst uns nicht verlassen.« – »Nein, Väterchen, Iwan wird bei dir ausharren. Du bist ein vornehmer Herr, aber du verstehst nichts von der Steppe. Willst du mir die Anordnungen überlassen?« – »Es sei! Hundert Rubel für dich und jeden der Deinen, wenn du uns rettest.«
Der Alte hielt sich, nachdem er auf diese Weise das Recht zu befehlen erlangt hatte, mit einer Erwiderung nicht auf, sondern wandte sich sofort an seine Enkel: »Wanka, jag' dem Feuer entgegen und sieh, welche Richtung es nimmt. Alexei Petrowitsch, fort, nach Mittag zu und schau, ob dort ein Ausweg. Olis, mein Liebling, wende dich gegen Abend. Möge der heilige Iwan über euch sein, ihr hört unser Pulver. Fort!« Die drei jungen Kosaken sprengten nach verschiedenen Richtungen in die Wolkenwand hinein.
Während der Alte mit dem seltsamen, übrigens historischen Namen dem Jäger, den er rasch als den tätigsten und geeignetsten der ganzen Gesellschaft erkannt hatte, einige Instruktionen gab, denen zufolge Bogislaw von Zeit zu Zeit ein Pistol in die Luft schoß, suchte der Graf die Damen zu beruhigen, denen die Natur der Gefahr längst nicht mehr verborgen war. Celeste war außer sich; auch der Oberst wollte schon mehrere Male sich ihrem hysterischen Ansinnen fügen, die Rosse, die nur mit Mühe am Zügel gehalten werden konnten, laufen zu lassen; doch gab ihm ein Blick auf die ruhige Haltung des Kosaken die Überzeugung, daß man der Erfahrung und dem Instinkt des greisen Kosaken der Steppe am besten vertraue ... Die Hitze war fortwährend gestiegen, die umgebenden Rauchwolken begannen bereits eine rötliche Farbe anzunehmen. Durch den Wolkennebel hatten sie häufig dunkle Gestalten in vollem Lauf vorüberhuschen sehen – die Wölfe, die wilden Hunde und anderes Getier der Steppe – aus der Luft herab hörten sie das ängstliche, kreischende Geschrei großer Schwärme wilder Enten und anderer Wasservögel, die, von der Glut aufgescheucht, hoch über dem Brand weg zu ihren sumpfigen Nestern eilten ... Kosak Wanka war der erste, der im vollen Karriere seines kleinen, zottigen Pferdes, dem Mähne und Hufhaar verbrannt waren, zurückkam ... »Fort, Djeduschka, Großväterchen. – das Feuer ist hinter mir – kaum drei Werste entfernt – und nimmt die Richtung hierher.« – »Haltet die Pferde bereit, Lieblinge! Schließ die Fenster deiner Karosse, Väterchen. – Auf!« Aus dem Nebel zur Rechten jagte Alexi Petrowitsch ... »Hierher! hierher! Es ist eine Lücke in der Wand von Rauch und der Boden nur von Heuschrecken verwüstet.« – »Schießt eure Pistolen zusammen los, daß Olis uns hört. Der heilige Andreas schütze den Jungen! Feuer! – Und nun vorwärts!«
Die Pferde wurden zur Seite gerissen, und im Galopp jagte die Kutsche, von den Reitern umgeben, in die Rauchwand – von Zeit zu Zeit feuerte der wackere Jäger noch einen Schuß ab ... Der Wagen war etwa zweihundert Schritt vorgedrungen, als die Dunst- und Wolkenwand sich lichtete. Es zeigte sich, daß ein leiser Luftzug die Dampfwolken vor sich her trieb, und die klare, helle Glut schlug zu ihrer Linken in die Höhe und knisterte über die weite Ebene ... Die Rosse jagten wie toll über die Fläche und rissen den Wagen in wilden Sprüngen über die Risse und Unebenheiten des Bodens. Züngelnd liefen die Flammen darüber hin, wenn auch der Luftstrom sie in bestimmter Richtung vorwärts trieb, und an vielen Stellen jagten geradezu die Pferde durch die bereits emporschlagende Lohe.
Celeste lag ohnmächtig im Wagen, die Gräfin atmete schwer, das Gesicht an das Wagenfenster gepreßt, dessen Scheiben in der Glut bereits zersprungen waren, während der Graf mit finsterer Entschlossenheit die schreckliche Szene beobachtete ... Plötzlich sperrte ein breiter Erdspalt die Fahrt, und die Postillone hielten still. Der vordere sprang sogleich aus dem Sattel und begann die Stränge seiner beiden Pferde zu lösen ... »Was tust du, Kanaille?« – »Wo der Tod uns vor Augen, hast du uns nichts zu befehlen, Väterchen. Die Pferde hindern nur den Wagen, die Heiligen werden uns durchhelfen, wenn wir allein sind!« – »Hundesohn!« – Eine Pistolenkugel pfiff dicht am Ohr des ungehorsamen Wichtes vorüber ... »Gnade, Exzellenz, ich bin dein gehorsamer Knecht!« – »Den ersten, der uns zu verlassen wagt,« schrie der Oberst durch das geöffnete Fenster, »schieße ich nieder! Iwan, wo bist du?« – »Hier, Erlaucht,« entgegnete der alte Kosak, »ich untersuchte die Erdspalte. Schießen! Schießen! Vorwärts!«
Wiederum donnerte der Wagen davon, rechts und links von ihnen schlugen am Gestrüpp die Flammen bereits in die Höhe – die Fesseln, die Mähnen, die Schweife der Rosse waren abgesengt, kaum noch vermochten die Menschen zu atmen ... »Heilige Mutter Gottes, vergib mir Sünderin!« jammerte Celeste in der Angst des Todes. »Das ist die Strafe dafür, daß ich die arme Nini um ihr Eigentum bestohlen, das mir der Russe gab. Nun muß ich mit diesem Manne elend verderben!« ... Gräfin Wanda hatte die Hände gefaltet, sie betete still – vor ihrer Seele stand in dieser letzten Stunde das Bild des jungen Tschetschenzen-Offiziers, des Imams Sohn, der einst mit ihr die ähnliche Stunde der Todesnot geteilt ...
Heilige Mutter von Kasan! – das war ein Schuß aus der Ferne, ein Signal, das nicht von den Männern um die dahin fliegende Equipage kam! – »Kuli! Kuli! Olis – hierher!« donnerte die Stimme des alten Atamans. Ein zweiter Schuß. Dann brach aus der Rauchwand vor ihnen ein Reitertrupp, fünf Männer zu Pferde: zwei junge russische Offiziere und ein älterer Mann in braunem, langschößigem Rock, die weiße, weite Halsbinde trotz der Hitze sorgfältig um den Hals geknüpft, einen dreieckigen Hut von altmodischer Façon auf dem, mit langem, schlichtem Haar umgebenen Kopf. Mit ihnen zwei Kosaken ... »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Hierher!« schrie der Oberst – im nächsten Augenblick waren die beiden Offiziere am Wagen. – – Ein gellender Schrei erscholl aus diesem: »Da ist er! Da ist er! Vergebung, Fürst, einer Sterbenden! Ich ließ sie im Elend!« – » Schorte wos mi! Fürst Iwan Oczakoff, Sie in dieser Höllenglut?« – »Oberst Wassilkowitsch, so wahr ich lebe! Wir wagten uns in die Gefahr, um eine Dame zu retten.« – »Sie ist hier, doch sprechen Sie rasch, gibt es einen Ausweg in dieser Höllenglut, die uns lebendig röstet?« – »Für den Wagen schwerlich. Hesekia, wissen Sie Hilfe?«
Der Mennonit wandte sich zu ihm ... »Es muß ein Tabun hier in der Nähe sein, ich kenne den Tabuntschik, obschon er ein finsterer, menschenscheuer Greis ist. Aber es ist unmöglich, mich in diesem Rauch zu orientieren, und es gibt hier überall gefährliche Erdspalten!« – »Halt!« schrie der Kosak – »still, Väterchen, so lieb Euch Euer Leben ist, ich höre einen Ton – ein Signal!« – Die Jämschtschiks hatten auf einer vom Feuer noch nicht erfaßten Stelle die Pferde angehalten. Alle lauschten gespannt, einige Augenblicke lang war nichts zu hören wie das Knistern und Zischen der Flammen, die fast ringsum emporschlugen – dann klang es leise und immer lauter, wie der Ton einer metallnen Glocke – bald war eine Täuschung unmöglich ... »Das ist die Glocke des Tabuns für die Herden,« sagte ruhig der Mennonit, – »Gott vergebe es mir, daß ich dem Manne kaum diese Menschenfreundlichkeit zugetraut habe. Der Herr ist mit uns – wir dürfen nur dem Schall der Glocke folgen, doch rate ich Dir, Freund Offizier, die beiden Gespanne zu trennen. Diese Frauen werden sicherer fahren mit der Troika.«
Der Rat war bei der rissigen Beschaffenheit des Bodens zu gut, um nicht befolgt zu werden. Im Nu waren die Stränge der beiden Vorderpferde vom Jäger Bogislaw und den Kosaken abgeschnitten, und der erstere befahl dem Jämschtschik, voran zu reiten nach dem Schall der Glocke, um zugleich den Zustand des Weges zu prüfen. Die Todesgefahr war so groß, daß der junge Postillon, kaum die Möglichkeit der Rettung vor sich sehend, aber von dem drohenden Pistol des Obersten befreit, wie blind und toll davon jagte. Hinter ihm her flog, von den Reitern umgeben, der Wagen durch Rauch und Flammen ... »Links! links, Freund! so lieb dir dein Leben ist!« schrie der junge Mennonit, während schon näher und näher der Schall der Glocke erklang und sie bereits den Zuruf einer menschlichen Stimme zu hören vermochten.
Es war zu spät – ein wilder, furchtbarer Schrei des Entsetzens – und vor ihren Augen verschwanden im Nebel und Rauch, kaum zehn oder fünfzehn Schritte vor ihnen, die Gestalten des Jämschtschiks und seiner zwei Pferde, wie von der Erde verschlungen ... »Links! links! Gott sei Seele und Leib gnädig!« – Der Mennonit hatte sich mit seinem Pferde quer vor das Gespann geworfen. Bogislaw riß mit Aufbietung all seiner Kraft das rechte Sattelpferd, das er bestiegen, zurück und drängte das Gespann nach links – so flogen sie davon, dem Rufen und Lärmen entgegen, ohne daß einer von dem schrecklichen Schicksal des jungen Postillons Kunde nehmen konnte. Wenige Augenblicke darauf war das Läuten vor ihnen – »Paßt auf, Brüder,« rief der Mennonit, »der Graben kommt – hopp!«
Er setzte mit seinem Pferde hinüber, Iwan folgte – dann der Jämschtschik mit dem Dreigespann – ein Ruck, Angstgekreisch – der Wagen stürzte um, war aber glücklich über den rettenden Graben, den die Hirten zur Sicherung ihres Tabuns gegen das Feuer aufgeworfen. Die Voransprengenden hatten jenseits von ihm noch den jungen Kosaken Olis gesehen, wie er eifrig eine kleine Kuhglocke schwang, neben ihm eine hohe Greisengestalt in wildem Kostüm, teilnahmlos die Arme übereinander geschlagen. Im nächsten Augenblick waren alle – mit Ausnahme des seltsamen Greises – um den umgefallenen Wagen beschäftigt. Der Oberst war der erste, der durch die geöffnete Tür sich herausschwang, sein kranker Arm schmerzte ihn durch den Stoß heftig und schien aufs neue beschädigt. Er rief nach seinem Leibdiener und befahl, sogleich aus dem geretteten Gepäck ein Arzneibesteck zu suchen, während die Dame herausgehoben, in der Nähe eines gegen die Hitze verdeckten Brunnens niedergesetzt und von den beiden jüngeren Offizieren mit Wasser benetzt wurde. Gräfin Wanda, die erst bei dem Todesruf des Jämschtschiks die während der ganzen furchtbaren Szene bewahrte Fassung verloren hatte, erholte sich zuerst von ihrer Ohnmacht und leistete nun der Französin Hilfe, die bald die Augen aufschlug. Ihr erster Blick fiel auf den jungen Fürsten, dem sie auf dem Balle des Generalkonsuls von Meusebach vorgestellt worden und der sie mit sichtlichem Interesse betrachtete ... Eine dunkle Röte – bei der Erinnerung an Worte, die sie in ihrer Todesangst ausgestoßen – überzog das Gesicht der ehemaligen Lorette. Unfern von ihnen war inzwischen ein noch seltsamerer Auftritt vor sich gegangen ... Der Tabuntschik hatte sich von der zahlreichen, so plötzlich auf sein Gebiet eingedrungenen Gesellschaft zurückgezogen, und stand in der Nähe seiner Erdhütte, deren Dach nach beiden Seiten hin in den Rasen selbst auslief: eine hagere, aber kräftige Gestalt, fast nur Sehnen und Muskeln, deren von einem weißen, krausen Bart umgebenes Antlitz von der Glut der Sonne und den eisigen Wettern des Winters lederfarben geworden war. Ein dunkles, unruhiges Auge lag unter den buschigen Brauen; die linke Wange zeigte eine tiefe, querüber laufende Narbe. Wie alt der Mann sei, ließ sich bei seiner ungebeugten, kräftigen Haltung nicht erkennen, dennoch mußte sein Alter hoch und über die Jahre des greisen Kosaken reichen. Er war ganz in gegerbtes Fohlenleder gekleidet; eine eng anschließende Jacke mit eingeschnittenen Öffnungen für Augen, Ohren und Mund hing ihm über den Nacken; Beinkleider, an denen die Haarseite nach außerhalb gekehrt war, mit starken Sporen, bildeten seine Tracht; in dem breiten Gürtel, auf den er die Hand stützte, steckten ein kurzes Beil und verschiedene Zangen, Werkzeuge und Büchsen, die er in seinem Beruf als Besitzer großer Roßherden brauchte; die Hand hielt die derbe, kantschuartig geflochtene Peitsche.
Der alte Kosak, der um die Geretteten genug Personen beschäftigt sah, hatte sich von ihnen gewandt und näherte sich dem einsam stehenden Tabuntschik ... »Die Heiligen mögen dich segnen, Väterchen. Wir sind gekommen, bei dir Hilfe und ein Nachtlager zu suchen, du wirst uns nicht von dir weisen.« – »Ich lade niemand zu mir,« sagte finster der Roßhirt, »doch weigere ich auch niemand mein Brot und Salz. Du bist mein Gast – weshalb starrst du mich so an, alter Mann?« Das Tageslicht war zwar dem Erlöschen nahe, aber seine letzten Strahlen brachen eben noch scharf durch die sich teilenden Rauchnebel und fielen auf das Antlitz des greisen Roßhirten ... Der Ataman sprang auf ihn zu und faßte seinen Arm: »Dies Gesicht kenne ich, und wenn es Methusalems Alter hätte – schau die Narbe auf meinem Gesicht an, Kaisermörder, und erinnere dich an die Nacht des 23. März!«
Seine Rechte faßte nach dem Pistol in seinem Gürtel. Das Antlitz des alten Tabuntschik war fast schwarz geworden, seine tiefliegenden Augen schienen Blitze zu schießen. – »Der Teufel in deine Seele! Du bist verrückt.« – »So wahr die Heiligen an meinem Sterbelager stehen und die finstern Geister verscheuchen mögen – ich kenne dich, Fürst Michael! und Gott der Herr hat dem armen Kosaken der Steppe das Leben erhalten, um noch an der Pforte des Grabes seinen Todfeind zu finden!«
Der Tabuntschik lächelte verächtlich ... »Lege den Finger auf deine Wange, und du wirst das Zeichen finden, mit dem der Degen des Zaren dich gebrandmarkt. Du mußt sterben von meiner Hand!« – Er zog den Hahn des Pistols – doch die Hand des Roßhirten drückte es zur Seite: »Ich weiß nicht, wer du bist und welchen Anspruch du an mich hast,« sagte er finster. »Aber bedenke, daß du mein Gast bist und ich dein Wirt, und Fluch auf den Russen, der die heilige Sitte der Väter verletzt. Wenn die erste Stunde eines neuen Tages da ist, wirst du, ein Greis wie ich, mich über der Grenze dieses Tabuns finden, bereit, dir Rede zu stehen.«
Er wandte sich unerschüttert von ihm und verschwand in die Hütte. Der alte Kosak blieb in tiefem Sinnen, auf seinen Säbel gestützt, zurück.