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Bunte Bilder – bunte Gestalten – ein flüchtig Schattenspiel in Farben – Berg und Meer – Nord und Süd – Mann und Weib – Blut und Blumen – Liebe und Haß – Schütt'le das leichte Glas, Leser, das all die tausend wirren Gestalten enthält – die Zeit drängt – die Erzählung fliegt, und dennoch hätt' ich dir noch so gar vieles zu sagen, so gar vieles zu malen.
Einen Stoß an das Glas – welches Bild wird seine Lichtmosaik zuerst dir bringen? – Das Auge an die Lupe – hinein den Blick – was ist's, was du siehst? wohin hat der Zaubermantel der Phantasmagorie dich geführt?! – – –
Der vierte Tag – Dienstag, der 20. Juni – der so rasch im Sportring berühmt gewordenen Berliner Rennen nahte sich bereits dem Ende. Obschon der Hof bald nach den Festlichkeiten zur Feier der silbernen Hochzeit des Prinzen und der Prinzessin von Preußen, an der das ganze Land so patriotisch teilnahm, sich nach der Provinz Preußen begeben hatte, war doch noch immer viele hohe und vornehme Gesellschaft in der preußischen Königsstadt und namentlich das diplomatische Korps vollständig geblieben, da jeder Tag jetzt neue wichtige Botschaften und Verhandlungen brachte ... Ein leichtes Gewitter war gegen Abend heraufgezogen, der kurze, dünne Regenschauer hatte jedoch nur dazu gedient, den Staub des weiten Sandfeldes, auf dem die Bahn ausgestreckt ist, zu mildern, ohne die zahlreichen Sportsmen vom innern Turf zu vertreiben oder die farbenreichen Toiletten der Damen – denn die Berlinerinnen lieben das Bunte – zu verderben, – welche in großer Zahl und etwas pikanter Mischung die Tribünen rechts und links von der erhöhten Hofloge füllten, während das Publikum zu Vier-Groschen, das man bereits zum Volke zählt, seine Stehplätze auf den Flanken behauptete, unterstützt von den nie fehlenden fliegenden Marketenderinnen in Kümmel und Schinkenstullen ... Der Platz im Innern zeigte ein lebhaftes Treiben – sehr viele Offiziere, die mit großer Vorliebe an den Aufregungen der Bahn hängen, die Mitglieder des Rennvereins und des Jockeyklubs, viel Aristokratie aus den Provinzen, die Wollmarkt und Rennen hierher geführt, hohe Beamte, Attachees, pferdeverständige Bankiers, jene zahlreiche Sorte Berliner Flaneuers, teils Juden, teils Christen, die überall sind, ohne daß man weiß, wer sie sind, überall unverschämt und absprechend – des Morgens in irgend einem vornehmem Weinlokal, zur Kaffeezeit auf der Kranzlerschen Rampe, abends im Foyer des Opernhauses oder im Krollschen Garten, aber niemals an einem Mittagstisch.
Das Hürdenrennen um den von des Königs Majestät gesetzten Preis war eben im Gange; die vier Pferde, von den adligen Besitzern oder Offizieren geritten, hatten das letzte Hindernis dicht zusammen genommen, und es entwickelte sich nun ein interessanter Kampf. Selbst auf den Tribünen hatte sich alles erhoben und war in Bewegung, die Linien im Innern des Platzes drängten möglichst weit vor zum Ärger des Flanken-Publikums, das seine Rechte mit lauten Rufen verteidigte, und die Aufregung und Teilnahme hatte selbst Männer erfaßt, die sonst herzlich wenig um den Turf sich zu kümmern pflegen. »Sie werden galant sein und mich zwei Louisdor gewinnen lassen,« flüsterte es aus der ersten Reihe der Tribüne zu dem Herrn mit starker Nase und Backenbart, der an der Linnenwand der Tribüne auf die Bank gestiegen war und mit allerlei schwedisch-gymnastischen Körperverdrehungen, gleich einem Kegelschieber, dem Laufe der anstürmenden Pferde folgte; »ich wette auf die Blaukappe ... die Equipage an den Renntagen ist so teuer! «– » Avec plaisir, reizende Amanda! Was werd' ich nicht tun! – Wollen Sie zwei Friedrichsdors auf den »Shakespeare« halten, Herr von Walther?« – Der galante Verlust der Wette war so gesichert. – »In des Teufels Namen, stehen Sie doch ruhig, Herr Wolf! Sie werfen ja noch die Bank um. Ich wette nie!«
Ein lauter Jubel begrüßte die jetzt am Pfosten vorüberstürmenden Pferde – »Shakespeare« voran, »Caurire« als zweiter ... »Das macht mit den gestrigen Wetten vierhundertundzwanzig Friedrichsdor, Hoheit!« – »Ich weiß, ich weiß! – Wir haben morgen noch das Jagdrennen, – der Brin d'Amour siegt gewiß!« – »Heute abend, holder Engel, bringe ich's!« flüstert Herr Wolf und springt von der Bank, sich unter das Gedränge mischend, das wieder den Platz füllt und die dampfend zur Wage zurückkehrenden Pferde umgibt. »Wissen Sie, lieber Freund, wieviel ich eben hab' verloren auf die ›Caurire‹? – Zwanzig bare Louisdor! Aber 's schadet nischt – 's ist an eene vornehme Dame!« – Alles drängte durcheinander, die Freunde den Sieger begrüßend, andere mit den Besiegten jeden Satz der Pferde diskutierend. – »Sind Sie heut abend zu Hause, Herr Meyer?« – »Zu untertänigstem Befehl. Wieviel? – Es ist schwer, Geld aufzutreiben – die Köln-Mindener und Ludwigshafen-Bexbacher nehmen alles in Anspruch – 115 Prozent heute!« – Ein verächtliches Achselzucken. – »Das ist Ihre Sache – ich kann mich hier nicht mit Ihnen aufhalten; um neun Uhr schicke ich.«
Zwei Herren gehen auf und ab in der Bahn, an den Tribünen entlang – beide offenbar keine Sportsmen, doch den gebildeten Klassen angehörend; der eine in Reiserock und Mütze ... »Ich wußte Sie wirklich an keinen Ort zu führen, lieber Doktor,« sagte der andere, »der Ihnen, da Sie zum ersten Male in Berlin sind, rascher und prägnanter ein Bild unseres Lebens und der Klassen, Sünden und Annehmlichkeiten der Berliner Gesellschaft gegeben hätte. Sie finden in der Tat hier alles, was auf diesen Namen Anspruch macht, und ein buntes pêle-mêle ist es in der Tat.« – »Bitte, bezeichnen Sie mir einige pikante oder hervorragende Persönlichkeiten.« – »Da sehen Sie unsern preußischen Premier; Sie kennen ihn bereits. Er unterhält sich eben mit dem Chef unserer Polizei.« – »Herr von Hinckeldey hat sich freilich schon einen europäischen Ruf erworben.« – »Ich fürchte, daß er an diesem und seiner Energie scheitern wird. Wer die Macht hat, für den ist es schwer, die richtige Grenze zu treffen.« – »Sie haben wenigstens in Preußen den Vorzug, daß zu Ihren Sicherheitsbeamten stets nur Personen von unbescholtenem Ruf und bewährter Treue gewählt werden.« – Der Preuße zeigte nach einem Herrn, der im feinen Reitfrack vorüberging, den weißen Bibi auf dem etwas kahlen Kopfe und einen großen Brillant im Chemisett ... »Wissen Sie, daß der Mann dort, der rechts und links grüßt, zehn Jahre in Spandau gesessen hat und einen der berüchtigtsten Gaunernamen der Residenz trägt?« – »Und er kommt hierher?« – »Warum nicht! Sie werden noch ganz andere Dinge auf unserer Runde erfahren. Der Mann ist reich und man antichambriert bei ihm unter den Linden. – Sehen Sie den kleinen Herrn dort? Er trägt einen vornehmen Namen, ist ein rastloser, tätiger Geist und hat vieles geleistet im Felde der politischen Intrige in den bösen Jahren. Man hätte ihn zum Diplomaten machen sollen, wenn er nicht ebensogut im Hause der Wucherer, als im Hotel der Minister bekannt wäre.« – »Der Herr, um den er eben einen Umweg macht?« – »Ein ehemaliger Schulkamerad von mir; vor ihm und seinem Bruder liegt viel Zukunft, obschon ihn die Gegenwart in eine schiefe Stellung gebracht hat. Die Majestät soll 1849 von ihm gesagt haben: »Der ... will wohl gar Minister werden!« – Und dennoch, Freund, wird er's einst sein, und ich wünsche es ihm, denn er ist vielleicht am meisten von der konservativen Partei mit Undank behandelt worden. Es sind viele in den Reihen unserer Kammeropposition, die im Jahre 1848 Männer von Treue und Aufopferung waren.« – »Sie haben zwei Stände in Ihrem Lande, deren Gesinnung sich unverbrüchlich bewährt hat: den Adel und das Heer.« – »Sie sprechen da eine schwere Beschuldigung aus, die ich auf meinem Vaterlande nicht haften lassen kann. Das ganze Land ist treu dem Throne und ehrlich konservativ – der Graf wie der Bauer, der Soldat wie der Bürger. Was schlecht und faul war und ist, das sind zwei Dinge: der Schachergeist des christlichen und orientalischen Judentums und der rabulistische Advokatengeist von Westen. Beide sind Früchte der gepriesenen Neuzeit.« – »Ihr Adel ...« – »Unser Adel – sehen Sie dahin auf jene zahlreiche Gesellschaft, markige, frische Gestalten und Gesichter – ich liebe die geborene Noblesse des Körpers! Unser Adel hat sich brav bewährt, und ich gönne ihm selbst seine stark wieder hervortretende Exklusivität. Aber der Schachergeist nagt leider auch an ihm, schmutziger Rost an gutem Stahl, die Spiritusspekulation und der Handel ruiniert mir den noblen Eindruck. Der Berliner Wechselwucher hat schon manchen berühmten Namen um die Ecke gebracht.« – »Es sind dies leider Korruptionen, die Sie überall finden – die Sucht, reich zu werden, die Börse, die sogenannte Geldaristokratie, sind Übel, die nicht allein demoralisieren, die auch materiell untergraben.« – »So möge man den kaufmännischen Geist, den sogenannten Segen des Handels nicht allzusehr poussieren! Ich wiederhole es Ihnen, ich bin kein Feind der Juden als Juden, und habe liebe, geschätzte Freunde unter ihnen, – aber ich hasse das spekulative, zersetzende Judentum, das alles unter die Herrschaft der Zahlen bringt.« – Der Arzt lächelte. »Sie werden eifrig in Ihrem Thema. Das sind Fragen, über die Staatsmänner und Zeitungen verhandeln mögen.« – »Entschuldigung für die Abschweifung, und dennoch wird sie Ihnen auch einigermaßen hiesige Verhältnisse charakterisieren, die Faktoren des jetzigen Berliner Lebens: den Hof, den Adel und das Militär, – das Geheimratstum, – die jüdische Geldherrschaft und zuletzt – das bürgerliche Philistertum.« – »Sie vergessen Ihre Presse, zu der Sie ja selbst gehören und die immer eine Macht ist.« – Der Berliner lächelte ... »In Berlin nicht. Wissen Sie, woraus unsere Presse besteht? Aus einem kleinen Häufchen anständiger und gesinnungsvoller Männer, aus einigen wenigen Talenten, aus einem Schwarm politischer Apostaten und aus einer ziemlichen Anzahl unfähiger Judenjungen, die in andern Geschäften nicht vorwärts kamen. Bewährte Republikaner redigieren konservative Organe, von Eitelkeit geplagte Krämer fabrizieren Leitartikel, Frauen und Narren machen die Kritik, ehemalige Bänkelsänger und durchgefallene Referendarien die Politik und naseweise Jungen die Korrespondenzen. Es gibt verteufelt wenige, zu denen man mit Anstand sagen kann: Herr Kollege! und die Kollegenschaft der Anständigen ist so jämmerlich, daß sie noch niemals den geringsten Gemeingeist gezeigt hat, selbst der polizeilichen Zuchtrute des Herrn von Hinckeldey gegenüber.«
Sie waren beide stehen geblieben im Gespräch und schauten dem Abritt der Jockeys zum neuen Rennen zu, als zwischen ihre Köpfe sich der eines hochbeinigen, störrischen Gaules steckte. Vergebens zerrte der jugendliche Sonntagsreiter, in einen jener duftigen Gummiröcke gehüllt, die das Grauen der Damennerven sind, an den Zügeln, um der Rosinante eine andere Richtung zu geben; der Gaul wollte nicht, und eine Gruppe lachender, junger Offiziere und Sportsmen bildete sich um den Unglücklichen ... »Verehrungswürdiger James,« sagte der Journalist spöttisch, »verschiedene Tiere aus dem alten Testament waren auch störrischer Natur, also ärgern Sie sich im neuen nicht; für den Aufkauf der Billets zum Auspfeifen meines letzten Stückes will ich Ihnen zu Gefallen Ihrem altertümlichen Fuchs eins aufziehen, daß er wie ein Hirsch ins Feld hineinrasen soll.« – Und zum Gelächter der Tribünen galoppierte auch wirklich gleich darauf der unglückliche Orientale über die Bahn, während alles hinter ihm drein johlte: »Pietsch kommt! Pietsch kommt!« – »Ein Sprößling jener Aristokratie, die Sie vorhin so sehr anfeindeten?« fragte lachend der Arzt. – »Ein Kandidat des künftigen Berliner Löwentums. Der Vater ein verständiger Geschäftsmann, der junge Narr ein Affe, der noch nicht begreift, daß es ein herbes Übel ist, jemand – das größte aber, sich selbst lächerlich zu machen ...« – »Wer ist der Herr dort, der mit der Gruppe von Offizieren spricht und Sie vorhin grüßte?« »Ah – das Embonpoint? Seine Familie ist vor kurzem geadelt worden und zeugte Künstler, Bankiers, Diplomaten und Bummler. Der Herr da ist der stereotype Flaneur aller öffentlichen Orte, eine gutmütige Haut und seit seiner verunglückten theatralischen Karriere in Dessau von der Familie als amüsanter Müßiggänger unterhalten. Da drüben sitzt seine Schwester, die Adelung ohne »von«: ein trüber Kummer, der sich vielleicht durch eine vornehme Heirat redressieren läßt.«
Ein großer Herr mit kahler Stirn grüßte im Vorbeigehen ... »Sie haben meinen Artikel noch immer nicht gebracht, Doktor?« – »Es ist unmöglich, auch nur zwei Worte zu lesen. Ich besitze doch keine Dechiffrier-Anstalt! – Ein schmutziger Geizhals,« sagte er im Weitergehen, »obschon einer der ersten Spiritusbrenner, und einst der Vorstand einer ganzen Provinz. Jetzt hat er das Verdienst, jedesmal mit seinen Reden die Bänke der Kammer zu leeren. – Doch sehen Sie da die beiden Herren – sie sind in der Tat aus dem Herrenhause und beide die Träger erster Namen Preußens, der eine der Nachkomme eines berühmten Generals, der andere der Sohn eines energischen Ministers. In diesen beiden Gestalten liegt wahre Aristokratie und Noblesse.« – »Die dunklen, runden Augen des zweiten haben einen ergreifend melancholischen Ausdruck.« – »Sie meinen den, der eben mit dem Polizeipräsidenten eine Verbeugung wechselt – vom Scheitel bis zur Sohle ein Edelmann! Der Offizier, mit dem er spricht, machte in Paris Aufsehen durch seine Reiterkünste. Es fließt edles Blut in seinen Adern, und er ist einer unserer bekanntesten Kavaliere. Die Künstlerinnen wissen davon zu erzählen. Ah! – da – sehen Sie die stolze Figur dort, die Donna Diana unserer Bühne? Ihr Bett soll einen förmlichen Pavillon abgeben, größer als das der Königin von England, das ein besonderer Kurier im Schlosse von Brühl einrichtete.« – »Sie haben eine böse Zunge.« – »Man lernt dergleichen in Berlin; es gilt, sich zu wehren. Der Angreifer hat den Sieg. Die Glocke hat uns von der Bahn gejagt, lassen Sie uns im Vorübergehen die Schönheiten der Tribünen mustern.« – »Die Damen da dicht an der Königlichen Loge?« – »Es sind die einzigen Plätze, die sich die hohe Aristokratie und Repräsentation der Westmächte zu bewahren vermocht hat. Und dennoch werden auch diese bereits blockiert. Sehen Sie die vierschrötige Gastwirtin dort, die sich gar zu gern in die zweite Reihe drängen möchte? Sie wusch einst für einen gutmütigen Rentier, und seit ihr würdiger Gemahl in patriotischen Konzerten machte, fiel sie während der Badesaison auf allen Wegen den höchsten Damen durch ihr Knicksen zur Last, bis beide endlich, um sie los zu werden, ihren Zweck erreicht haben.« – »Und jene dort mit dem blassen orientalischen Gesicht?« – »Wahrhaftig, diesmal nur in der zweiten Reihe? – die Mama mit der ganzen Familie von sieben hoffnungsvollen Sprößlingen ist zu spät gekommen. Eine Familie, auf Wucher dressiert, aber im höchsten Ansehen.« – »Ich muß Ihnen gestehen, ich begreife die Möglichkeit einer so gemischten Gesellschaft nicht.« – »Ich auch nicht, mein Lieber, aber wie gesagt, das Geld gewinnt bei uns alle Tage mehr Boden. Reines Blut ist wahrhaftig bald nur noch in den Vierfüßlern von Rasse zu finden. Sehen Sie – da kommt die Karriere an, Graf Reichenbachs ›Despair‹ voran.«
Die Aufregung im Turf war groß, denn der Sieg blieb lange unentschieden. Despair, Brandenburg und des Fürsten Sulkowski Renner »Exhibition« rangen wacker Kopf an Kopf ... »Zum Henker! der Pole hat wahrhaftig gesiegt!« – Das Gedränge hatte sie hinter zwei Personen gebracht, deren Äußeres einen scharfen Kontrast bot. Der eine, breit und aufgeschwemmt mit einem nichtssagenden, gedunsenen, fast bleifarbenen Gesicht, aus dem allein die runden Augen Schlauheit und Bosheit leuchteten, zeigte in allen Bewegungen großes Phlegma und Sicherheit; der andere, von ziemlicher Größe, schlanker Statur und einem gewissen aristokratischen Aussehen, wies jene unruhige Bewegung und Rastlosigkeit, die auf den Sanguiniker oder ein schlechtes Gewissen schließen läßt ... Die Hinterstehenden hörten unwillkürlich einige Worte des Gesprächs. – »Was sagte Ihnen der Franzose?« fragte der Dicke. – »Nichts als das Losungswort und die Bestellung auf heute abend 11 Uhr in den Tiergarten.« – »Dann können wir das gelbe Tuch einstecken, es hat seine Dienste getan. Wird Ihr Mann auch sicher kommen?« – »Um 10 Uhr mit der Bahn von Potsdam. Sie wissen, der eine wenigstens begleitet den König und –«
Die beiden Männer wandten sich zum Fortgehen, und das Auge des Dicken begegnete dabei dem finstern, festen Blick des Journalisten. Er zuckte sichtlich zusammen, und sein fahles Licht wurde fast noch wachsbleicher, während er seinen Gefährten fortzog ... »Eine fatale Visage!« – »Und ein Schurke im Innern durch und durch. Ich war einst töricht und unvorsichtig genug, ihn zu benutzen und, durch seine Eigenschaften als vortrefflicher Gesellschafter bestochen, viel mit ihm umzugehen. Er lohnte mir zahllose persönliche Wohltaten mit einer öffentlichen Verleumdung.« – »Und was taten Sie?« – »Was konnte ich tun? Ich ohrfeigte ihn, als ich ihm das erstemal wieder begegnete, auf offener Straße, und damit war die Sache abgetan. Er ist jedoch einer der gefährlichsten Menschen Berlins, und ich möchte wohl wissen, zu welcher Nichtswürdigkeit er seinen Begleiter dort verlocken will – denn er selbst als Winkeladvokat ist schlau genug, sich stets zu sichern. Am 19. März saß er bei der Fahrt der Polen neben dem Fanfaron Mieroslawski.« – »Wer ist der andere?« – »Ich glaube, ein ehemaliger Polizei-Offiziant, ein Herr von Hassenpflug oder dergleichen, ich kenne ihn nur vom Sehen.« – »Man bricht auf; ich dächte, auch wir suchten unsern Wagen. Aber – sehen Sie doch! Was geht da vor? – Welche Unverschämtheit!«
Es hatte sich dicht neben ihnen eines jener kleinen Dramen entsponnen, wie sie, oft so hohnneckend einschneiden in glänzende Szenen und glänzendes Leben ... Eine noch junge, elegant gekleidete Frau, sichtlich den höchsten Ständen der Gesellschaft angehörend, war mit ihrem Gatten die Stufen der Tribüne hinuntergestiegen, und dieser hatte sie einen Augenblick allein gelassen und sich entfernt, um seine Equipage zu suchen ... Die Dame war groß und schlank, aber von blassem, leidendem Aussehen. Wer ihr damals unter das verhüllende Capuchon und den Schleier geschaut hätte, wie jenes dicke, von Branntwein und Völlerei gerötete Weibstück es einst getan, das jetzt bei dem fliegenden, von einem Hunde gezogenen Marketenderkarren stand und kein Auge von der blassen Dame wendete, der hätte leicht darin die Gräfin Marie wiedererkannt, die wir im ersten Bande unseres Buches mit dem heimlich Geliebten zu der Wiege ihres armen, verstoßenen Kindes begleiteten ... Eines Jahres Gram und Schmerzen vermögen im glänzenden Sommer des Lebens die Züge noch nicht so zu verändern, daß sie nicht wiederzuerkennen wären – das ist den Herbststürmen aufbehalten!
Plötzlich ließ das Weib die Karre stehen und sprang auf die Dame zu, mit der schmutzigen, schwieligen Hand die seidene Robe derselben erfassend und festhaltend, gleich als solle die Beute ihr unter keiner Bedingung entwischen ... »Donnerwetter! – der Deibel soll mir holen, oder det is ja des gnädige Madamken von de Jöhre, des Marieken, det ick gepeppelt habe. Se werden mir doch noch kennen, de Müllendorfern aus de Luisenstraße?« – Die Blässe der Dame ging ins Leichenhafte über, als ihr Blick auf das Weib fiel, und ein Schaudern überlief ihre Glieder bei der Berührung. Dennoch hatte sie Mut und Fassung genug zu dem leisen Versuch, ihr Kleid loszumachen: »Ich kenne Sie nicht, Frau.« – Das Weib, dem man ansah, daß sie während des Nachmittags ihrem eigenen Verkaufsartikel reichlich zugesprochen hatte, bekam jetzt ein ganz rotes Gesicht, stemmte den Arm in die Seite und schrie, ohne die Dame loszulassen: »Wat – Sie kennen mir nich, mir, de Müllendorfern, die Ihren Bankert sieben Monate lang gepeppelt? Na, det sollte mir fehlen! Meenen Sie, ick hätte keene Oogen nich? Eenen eenzigen Blick – und ob Sie zehn Schleiers hätten, ick kenne meine Leute wieder.« – Die Geängstigte stammelte: »Was wollen Sie von mir? – Gehen Sie!« – »Aha!« schluchzte das Weib, die in ihrem Rausch jetzt anfing, die Gekränkte zu spielen; »sehen Sie, nu kommt all die Erinnerung. Det arme Wurm, ick hatt ihn so lieb un hätt ihn niemals nich von mir jejeben, wenn mir nich der Neid angeschwärzt bei die Polizei von wejen die Jöhre mit die Masern, Sie wissen's schon, da im Korbe, und der Kummissarius mich die Kinder verboten hätte. Aber ich habe noch eene Rechnung für Extra-Milch und Medizin – die Zeiten sind schlecht – drei Daler und zehn – nee, zwanzig Jroschens – Ihr Amant war mir wegjeblieben und ick halte mir an Sie!«
Die Dame war mehr tot als lebendig, fliegende Röte und Blässe wechselten mit Gedankenschnelle auf ihrem schönen Gesicht, während ihr Auge ängstlich in der Ferne suchte ... »Um Gottes willen, Frau – ich habe kein Geld bei mir – Sie sollen mehr als das haben, nur machen Sie jetzt kein Aufsehen.« – »Nee, ick kenne die Vornehmen! daruf läßt sich die Müllendorfern nich fangen.« – »Heute abend – 10 Uhr, am Potsdamer Tore links – ich komme bestimmt.«
In diesem Augenblick drängte sich der Journalist durch einige Neugierige, die sich bereits um die Szene sammelten, deren Schauplatz zum Glück etwas abseits und durch einen Vorsprung vom Menschenstrom gesondert war ... »Gnädige Gräfin, ich bitte, meinen Schutz zu genehmigen.« – »Befreien Sie mich von dieser Frau, mein Herr, um Gottes willen, beruhigen, befriedigen Sie sie, oder ich bin verloren! Mein Gemahl kommt ...« Der Journalist winkte dem Freunde ... »Geben Sie schnell dieser Frau soviel Geld, wie sie verlangt, lieber Koch.« – Er bot der Dame den Arm und führte sie dem herbeikommenden Grafen entgegen.
Dieser war eine große, hagere Gestalt, schon über die Mitte des Lebens hinaus – ein kaltes, graues Auge – ein hochmütiges, etwas abgespanntes Gesicht ... »Was hatten Sie da, meine Liebe? Ich sah Sie von Leuten umringt und beeilte mich – dieser Herr ...« – »Dieser Herr,« sagte die Gräfin mit gewaltsamer Fassung, »hat mich aus einer großen Verlegenheit befreit, in die Sie mich durch ihr Alleinlassen gebracht. Eine unverschämte Bettlerin belästigte und insultierte mich.« – Der Graf verbeugte sich mit süßlich-kaltem Lächeln gegen den Zurückgetretenen und griff nach seiner Börse ... »Ich bin Ihnen sehr verbunden – Sie haben für meine Gemahlin eine Auslage gemacht – darf ich bitten –«
Die Gräfin legte errötend rasch die Hand auf den Arm ihres Gemahls, und der Schriftsteller, dem bereits eine spitzige Antwort auf der Zunge saß, hörte, wie sie ihm das Wort: »die Karte!« zuflüsterte. – »– um Ihren Namen?« beendete der vornehme Herr seine Rede ... Jener nahm schweigend die Karte aus dem Portefeuille und übergab sie mit einer kalten Verbeugung ... »Ah! Herr Walther, es freut mich, bei der Gelegenheit Sie kennen zu lernen, habe von dem Namen viel gehört; gehören ja gewissermaßen zu uns. Ich hoffe, Sie bei mir zu sehen. Leben Sie wohl indes, mein Lieber.«
Die Gräfin saß bereits in der glänzenden Equipage – ein flehender, dankvoller Blick der schönen Frau traf ihn, während ihr Gemahl einstieg, und deutete dann rasch nach der Gegend, wo sie jenes drohende Weib verlassen hatte. Der Journalist verstand. Seine Augen senkten sich zusagend. Eine wiederholte Verbeugung, und dahin rollte der Wagen ... Als der Journalist zurückkam zu der Gruppe, die sich um den Marketenderkarren gebildet, sah er voll Verdruß und Besorgnis, daß der Winkelkonsulent mit dem bleigrauen Gesicht mit dem Weibsbild eine Unterhaltung pflog. Sein Hinzutritt scheuchte ihn zwar weg, aber er bemerkte wohl, wie er fortfuhr, sie aus der Ferne zu beobachten ... »Seine Schurkenseele,« sagte er verstimmt, »wittert ein Geheimnis, durch dessen Kenntnis er eine Familie bedrohen und im Trüben fischen zu können hofft. Es muß hintertrieben werden.« – »Ich stelle mich gern zu ihrer Disposition. Die arme Frau tat mir in der Seele leid.« – »Gut, so nehme ich Ihre Güte für einen Weg zu Fuß in Anspruch, statt daß wir fahren. Ich kenne zufällig einiges aus dem Leben jener vornehmen Dame, und das gibt mir ein trauriges Licht zu der erlebten Szene.« – »Darf ich das einige wissen?« – »Warum nicht? Sie sind ja fremd hier und vergraben morgen schon die kurze Mitteilung in die weiten Steppen Rußlands. Die Dame ist die Tochter einer unserer ältesten Familien. Ihr Vater war ein vielgenannter Staatsmann, aber die Lenkung der öffentlichen Angelegenheiten ließ ihm wenig Zeit, sich um sein einziges Kind zu kümmern. Aus Stolz und Koketterie wurde in der Jugend manche Partie ausgeschlagen, vielleicht war man auch auf der Suche nach etwas Besserem als einer Konvenienz-Heirat. Darüber kam sie an die Dreißig; das Herz scheint seine Rechte dann gefordert zu haben; man flüstert von einer heimlichen Liebe mit einem Abenteurer – einem fremden Offizier – der sich einige Zeit hier aufhielt und auf irgend eine Weise Karriere zu machen suchte, nachdem er vergeblich den Liberalismus und die Revolution zur Leitersprosse benutzt hatte. Seiner ehrgeizigen Spekulation scheint jetzt eine Chance sich zu bieten – man nennt seinen Namen als Zugabe zum orientalischen Feldzug. Ich weiß nicht, wie die tendre liaison zum Abbruch gekommen, sondern nur, daß die Gräfin im letzten Winter von ihrem Vater genötigt wurde, ihren jetzigen Gatten, den Typus steifer, hohler Form und geistlosen Hochmuts und ihr an Jahren weit überlegen, zu heiraten. Vier Wochen darauf starb ihr Vater, das neue Ehepaar aber ist erst vor zwei bis drei Wochen von seiner Reise zurückgekehrt.« – »Aber das Verhältnis zu jenem Weibe, das doch den untersten Volksklassen angehört?« – »Das, lieber Freund, kann ich vielleicht fürchten, mag ich aber nicht wissen, ehe mir die Kenntnis nicht von anderer Seite aufgedrängt wird. Glauben Sie mir, man lernt in Berlin manche trübe Blicke in das Leben der Familien tun, die allen Schimmer und allen Glanz zum Moder machen und zeigen, wie selten das »Hemd des Glücklichen« zu finden ist. Es ist so viel Schein, so viel Trug und Elend in der großen Stadt, die sich dort vor uns hinstreckt, daß dem scharfen Beobachter bange wird ums Herz, wenn er ein solches hat.«
Sie waren während dieses Gespräches – immer in einiger Entfernung hinter dem Marketenderkarren jenes Weibes hergehend und sie beobachtend – über den Berg gekommen, auf dessen Höhe nach Westen das prächtige eiserne Denkmal der unerschütterten heiligen Allianz steht, zu dem am 5. August 1848 die Bauern von Tempelhof her, Choräle singend, mit ihren schwarz-weißen Fahnen zogen, während aus der Metropole bereits sich der lange Zug Berliner Gewerke, fliegender Buchhändler, demokratischer Tribunalsräte und Abgeordneten, der versammelten Lindenklubs und aller sonstige Zubehör mit den bekannten Harlekinszeichen der Berliner Revolution wälzte, um am Fuße des Denkmals preußischer Ehre vom Reformator und Preßmatador Held die Huldigung an den Reichsverweser abgeben zu lassen. Längst schon hatten sie den Mann, dessen Zusammentreffen mit dem Weibe der Journalist eben vermeiden wollte, mit seinem Gefährten in einem Torwagen an sich vorüberkommen sehen, und jener glaubte die Gefahr vollends zu beseitigen, indem er am Fuß des Berges, wo der Weg sich rechts und links abzweigt, der Frau nochmals ein Geldgeschenk unter der Bedingung machte, daß sie zu einem der anderen Tore ihren Weg nehmen sollte. Die Vorsicht erwies sich nicht als unnütz, denn die Freunde bemerkten später in einem der zur Seite der Straße liegenden Lokale das spionierende Auge des Konsulenten.
Dennoch sollte die Bosheit durch die unglückliche Begünstigung des Zufalls ihr Ziel erreichen. – Es war schlechtes Wetter geworden bei der Rückkehr von der Rennbahn, und der Abend finster und abwechselnd regnerisch. Es war gegen 10 Uhr, als unter dem Schutz ihrer Schirme in der Nähe des Potsdamer Tores zwei Männer umherstrichen, auf die Ankunft des Bahnzugs wartend ... »Sie wollen also bestimmt nicht bei der Zusammenkunft zugegen sein?« fragte der größere, elegantere der beiden Männer, der im Licht der städtischen Gaslaterne leicht jenen Gefährten des Winkelkonsulenten von der Rennbahn wiedererkennen ließ. – »Warum auch, lieber Freund?« entgegnete der andere. »Sie wissen, ich verstehe wenig Französisch, und die Gegenwart eines Dritten könnte überhaupt nur genieren. Wir haben es ja ausgemacht, daß ich ganz aus dem Spiele bleibe und Sie nur mit meinem guten Rat und meiner Gesetzeskenntnis unterstütze. Ich will weder wissen, was der Inhalt dessen ist, was Sie von der dritten Person erhalten, noch, was Sie damit tun. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Privatgeheimnisse, mit Ausnahme der Beichte und des Arztes, von keinem Gesetz geschützt werden.« – »Sie sind sehr vorsichtig!« sagte der erste bitter. – »Vorsicht ist die Mutter der Sicherheit; seine Lage ist ziemlich prekär und ich habe Familie; Sie aber stehen so gut wie frei da, und es wäre Torheit, wenn Sie den Vorteil und die Gelegenheit nicht benutzen wollten. Über einfältige Skrupel sind Männer, wie wir, doch wohl hinaus. Da tönt das Signal, der Zug kommt eben an, – ich wünsche ein gutes Geschäft und Sie wissen, wo Sie mich bis um 11 Uhr treffen. Nur keine Unvorsichtigkeit vor den Leuten.«
Er ließ den Gefährten, ohne seine Antwort zu erwarten, allein und ging die Straße an der Mauer entlang. Dann aber wandte er sich rasch links nach dem Tiergarten. Er war kaum einige Schritte gegangen, als er vor sich her ein Frauenzimmer gehen sah, das manchmal, wie halbtrunken, einzelne Worte vor sich hinmurmelte. Ein Etwas in der Gestalt schien ihm nicht unbekannt; der Schein der nächsten Straßenlaterne, der auf das rote, gemeine Gesicht fiel, belehrte ihn, daß er das Weib vor sich hatte, das am Nachmittag auf der Rennbahn die Dame attackiert – im Augenblick sah er den Zweck des Ganges und sein schlechtes Herz jubelte über den glücklichen Zufall. Er mäßigte seine Schritte, ging auf die andere Seite des Weges und behielt sie scharf, aber vorsichtig im Auge. So gelang es ihm, an dem Kreuzweg der Bellevue-Allee zeitig genug eine Frauengestalt zu sehen, die dort, tief verhüllt, zu warten schien und, noch ehe das Weib diese erblickte, unbemerkt in den dunklen Gang zur Rechten zu gelangen, wohin er mit teuflischer Schlauheit berechnete, daß sie ihren Weg nehmen würde ... Als nach einer Viertelstunde die beiden Frauen sich trennten, wobei in der Hand der ehemaligen Haltefrau schwer eine Rolle von Talern blieb, folgte der Lauscher ebenso gewandt und schlau der arglosen Dame, die mit einem Dank zu Gott für die glücklich abgewandte Gefahr mutig ihren einsamen Weg durch die dunkelsten Gänge zum Tore wählte. Die schlimmere, drohendere Gefahr schlich hinter ihr – die Schlange, die aus dem Geheimnis ihres freudenlosen Lebens einen Quell der perfidesten Erpressungen machen wollte. Der graue Winkelkonsulent rieb sich die Hände. – »Die Politik entläuft mir nicht,« sagte er abgebrochen vor sich hin, »sie sind heute sicher vor mir, hier ist ein besserer und leichterer Gewinn. Aufgepaßt also!« – Kein schützendes Auge, das diesmal über der armen Frau gewacht hätte, – keine schirmende Hand, die den lauernden Schurken zu Boden geschlagen hätte! – Wenige Minuten darauf sah er sie in eines der glänzenden aristokratischen Hotels der Wilhelmstadt eintreten. – –
Der Zug von Potsdam war eingetroffen, Droschken und Fußgänger drängten sich durch das Tor. An der ersten der halb verkommenen Bildsäulen zur Linken des Leipziger Platzes lehnte der Gefährte, des Konsulenten wartend. Nach wenigen Augenblicken schon kam ein Mann, in den Mantel gehüllt, aus dem Strom der Fremden und wandte sich nach der Stelle, wo jener stand. Der Ankommende war ein alter Mann, etwa siebenzig, wie sein weißes Haar zeigte, von großer magerer Statur, das Gesicht faltenreich, spitzig und schlau. Am Briefkasten beim Tore hielt er einen Augenblick still, sah sich rasch um und steckte dann schnell zwei Briefe hinein. Die Adresse des einen lautete an einen britischen Namen in einem der Hauptstationsorte der Bahn nach dem Rhein, und es lag offenbar eine Absicht zugrunde, daß der Fremde, der von Potsdam kam, den Brief in Berlin zur Post gab. Der zweite Brief war nach Helgoland adressiert. Gleich darauf schaute der Alte sich nach dem Harrenden um, und als er ihn bemerkt, trat er zu ihm. »Guten Abend, Leutnant! Sie sehen, ich bin prompt.« – »Bringen Sie Nachrichten?« – »Einige. Lassen Sie uns hier zur Seite gehen nach der Verbindungsbahn, wir sind dort ungestört. Haben Sie die Verhandlung angeknüpft?« – »Es ist geschehen und alles geordnet; man rechnet auf meine regelmäßigen Mitteilungen. Ich habe mir, wie Sie mir angewiesen, ausdrücklich bedungen, daß man nicht forscht, wie und woher.« – »Und die Bezahlung?« – »Die Frage wird heute noch geordnet werden und gewiß zu Ihrer Zufriedenheit. Was bringen Sie für Berichte?« – »Die Kabinetsordre zur Realisierung der Hälfte der Anleihe ist am 17. unterzeichnet worden. Am selben Tage war Graf Münster von Petersburg in Gumbinnen und hatte eine zweistündige Audienz. Der russische General Grünwald hat ein Handschreiben überbracht.« – »Haben Sie nichts über den Inhalt erfahren?« – »Noch nicht. Der Kabinettsrat hat unsern Mann mitgenommen und zu schreiben an mich habe ich ihm verboten. Der andere hat mir heute morgen jedoch die Abschrift eines früheren Briefes aus Petersburg gebracht, der wichtige Details über die wahren Verluste an der Donau, die Stärke der russischen Truppen beim Rückgang über den Pruth und die gegenwärtigen Aufstellungen und disponiblen Mittel in den südlichen Gouvernements in sehr genauen Zahlen enthält. Der Brief ist etwas wert.« – »Geben Sie her – mein Wort! Ich werde daraus zu machen versuchen, was möglich ist, und Sie sollen redlich die Hälfte erhalten.« –
Mit einem habsüchtigen Zögern reichte ihm der Alte einige Papiere ... »Wollen Sie mich vielleicht selbst mit der Person zusammenbringen?« – »Das geht vorläufig unter keinen Umständen, denn ich selbst spreche sie zum ersten Male,« entgegnete der andere entschieden. »Die Einleitung hat mich viel Mühe gekostet, da man selbst von jener Seite mit großem Mißtrauen verfährt; Sie müssen sich also vorläufig auf meine Ehre verlassen. Ich bekümmere mich nicht um Ihre ursprünglichen Auftraggeber und ihre kleinen Nebengeschäfte, aber was ich in die Hand genommen, will ich auch selbst durchführen. Sie hatten das Vertrauen zu mir, mich zum Mitwisser zu machen, haben Sie es also auch ferner. Unser Vorteil geht Hand in Hand.« – »Meinetwegen denn – wir werden ja sehen, ob man sich honorig zeigt, und haben die Fortsetzung und das Abbrechen der Verbindung ja in Händen. Geben Sie sich nur keine Blöße und nennen Sie keine Namen. Noch eins, wenn man's noch nicht weiß. Der Minister-Präsident wird übermorgen nach Bromberg entgegenreisen. Der Telegraph hat ihn zitiert.« – »Meine Ansicht ist, wir geben möglichst wenig Nachrichten über hiesige Vorgänge.« – »Mir recht! Nun adieu, Kamerad, denn ich muß jetzt zur Stadt und mein altes Quartier aufsuchen. Machen Sie gute Geschäfte – wir treffen uns also bestimmt morgen früh um neun, ehe ich zurückfahre?« – »Bestimmt! Gute Nacht, Leutnant!« –
Die beiden trennten sich – der Alte ging, nachdem er seinen Gefährten hatte aus dem Tor gehen sehen, die Straße entlang und wandte sich links, der andere richtete seinen Weg nach dem Tiergarten ... Viele Gedanken schienen ihn zu bestürmen – Zweifel – vielleicht Gewissensbisse. Er blieb wiederholt stehen und murmelte einzelne Worte vor sich hin – – – mehrmals auch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. – Zeigten sich ihm ahnungsvoll die verdienten Schrecken der Zukunft? – sandten giftgeschwängerte Dünste der Sümpfe des glühenden Guyana, die furchtbaren, öden Sandküsten des Aequators ihre warnenden Schatten in seine Seele? ... »Es ist nichts,« sagte er leise; »was geht mich Rußland an? mag es seine Geheimnisse selbst wahren! – Es ist nicht mein Vaterland – ich bin kein Verräter an diesem – es gibt kein Gesetz – ein bloßer Handel wie jeder andere!« – Er schien entschlossen und wandte sich nach den dunklen Laubgängen ... Auf einer der Steinbänke saß ein Mann, in einen Paletot mit hohem Kragen gehüllt ... » Bon soir, Monsieur!!« – » Quelle heure de la nuit?« – » Les comédies ont finies et le spectacle commence.« » Ah, le mot! – Je vous attends déjà une demi-heure.« Guten Abend, Herr. – Welche Nachtzeit? – Die Theater sind aus, und der Lärm beginnt. – O, das Stichwort! ich warte schon eine halbe Stunde auf Sie.
Der Rubikon war überschritten.