Friedrich von Raumer
Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, Band 3
Friedrich von Raumer

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Neuntes Hauptstück.

Alle bisherigen Darstellungen haben bewiesen: daß das Papstthum um den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, theils durch die natürliche Entwickelung der Dinge, theils durch die große Persönlichkeit Innocenz des dritten, auf eine folgerechte und siegreiche Weise in alle Ereignisse eingriff. Und mit dem Papstthume war wiederum das ganze Kirchenthum so untrennbar verwachsen, daß die gesammte geistliche Seite in einem noch höhern und allgemeinern Sinne damals die Welt beherrschte und gestaltete. Allein je vollkommener, großartiger, folgerechter und allumfassender sich diese Seite ausbildete; desto mehr wurden andere, mehr oder minder wichtige und vortreffliche Richtungen zurückgedrängt, und desto näher kam die Gefahr: daß nach solch einem Erreichen des Gipfels, dem nothwendigen Gange menschlicher Angelegenheiten gemäß, das Sinken und Ausarten unvermeidlich folgen müsse. Ja es traten Einwendungen selbst gegen das Bestehende immer lauter und mannigfaltiger hervor, und wurden (ob sie gleich ebenfalls eine lebendige Theilnahme am Religiösen bewiesen) von der herrschenden Kirche als ketzerisch bezeichnet. Sie richteten sich hauptsächlich entweder gegen die Lehre, oder gegen 267 die KirchenverfassungBeide Richtungen und Ansichten waren indeß nicht unbedingt entgegengesetzt, sondern berührten sich in mehren Punkten.. Dort war die Rede vom Verhältnisse der Philosophie zur Theologie; hier vom Verhältnisse der geistlichen zur weltlichen Macht, und von den gegenwärtigen Formen der Kirche, im Gegensatze zu den einfachern der Vorzeit. Neben den philosophirenden Gottesgelehrten und denen, welche die kirchlichen Einrichtungen mehr aus staatsrechtlichem Gesichtspunkte betrachteten, zieht sich endlich, nicht minder bedeutend, die Reihe der Mystiker hin; und durch diese drei, sich bald berührenden, bald trennenden Richtungen wird alles umfaßt, was der als abgeschlossen sich hinstellenden, rechtgläubigen Kirche berichtigend zur Seite, oder feindlich gegenüber tritt.

Die Philosophirenden waren damals weit entfernt von der Meinung: daß die menschliche Vernunft zur Lösung aller philosophischen und theologischen Aufgaben hinreiche, und der Glaube an höhere Offenbarungen Gottes beschränkend oder thöricht sey. Im Gegentheile blieb die Offenbarung ihnen Grund-, Prüf- und Schluß-Stein ihrer Forschungen; und anstatt über dieselbe hinaus oder neben ihr vorbei zu gehn, wollten sie nur das als Gegenstand des Glaubens bereits Gegebene mit der Vernunft in Übereinstimmung bringen und zu einem Gegenstande des Wissens machen. Indem sie aber eine fast beispiellose Höhe in der logischen und dialektischen Gewandtheit erreichten, welche ihnen als Hauptmittel für jenen Zweck erschien; minderte sich oft zu sehr der beherrschte Stoff, es verschwand der unleugbar vorhandene Tiefsinn in leeren, bloß spitzfindigen Beiwerken, und die gänzliche Vernachlässigung aller künstlerischen Form bestraft sich durch die jetzige Vernachlässigung ihrer zahlreichen WerkeWenn es der Raum erlaubte und der Zweck es verlangte, würde zwischen dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert ein schärferer Unterschied gemacht, oder die allmähliche Entwickelung nachgewiesen werden..

268 Das Bemühen, den Umfang der Erkenntniß zu erweitern, und die gleichzeitige Verehrung vor der regelnd zur Seite stehenden Offenbarung, verleitete mitunter zu den wunderlichsten Fragen und Untersuchungen: allein die letzten haben ja auch in solchen Zeiten nicht gefehlt, wo die menschliche Vernunft sich mit allgenügsamem Selbstvertrauen gesetzgebend an die Spitze stellte; und die Tyrannei, welche noch während des Mittelalters im Namen des Aristoteles, und später im Namen so vieler andern geübt wurde, war nicht geringer, als die Tyrannei der Kirche. – So viel sich nämlich auch gegen die Fesseln sagen läßt, welche die Dogmatik den Forschern anlegte, so folgte hieraus doch: daß Gott und sein Verhältniß zum Menschen damals der Mittelpunkt aller Untersuchungen blieb, mithin die Philosophie ihre erhabenste Richtung nie ganz verlieren, sich nie in schmeichlerisches Wortgeklingel über unwürdige Gegenstände auflösen konnte.

Den philosophirenden Gottesgelehrten stellten sich die kirchlich Rechtgläubigen in der Überzeugung entgegen: daß es unnöthig, ja gefährlich sey, gewiß und unwandelbar Feststehendes aus Übermuth des Verstandes nochmals in Zweifel zu ziehnPlurimi insipientium dicentes fatentur: antiquorum statuta moderni destruere possunt, quoniam uti nos et illi homines fuerunt. O quam detestanda praesumtio! quam abominanda dictio! quam exsecranda blasphemia!  Farfense chr. 651.: weil dadurch gar leicht aller Glaube verflüchtigt, alle Hoffnung geraubt werde und statt der wahren Freiheit, welche im Gehorsam gegen das Gesetz bestehe, sich bloße Willkür unheilbringend einfinde.

Mit beiden Ansichten waren die Mystiker unzufrieden. Sie rügten an den Philosophirenden die Vernachlässigung der Sittenlehre und die übertriebenen Künsteleien der Schule, welche den Verstand, ungeachtet der gänzlichen Inhaltslosigkeit vieler Streitfragen, zur größten Eitelkeit verführten und ihm alle Kraft raubten, auf das Gemüth einzuwirkenHier wäre eigentlich eine doppelte Richtung der Mystik zu unterscheiden: a) die, welche sich an die Lehre und die Symbole der Kirche anschließt, wie z. B. bei Bonaventura und mehren Bettelmönchen; b) die, welche ihr feindlich entgegentritt; und hier lassen sich wiederum die Katharer, die mehr praktischen Waldenser, die mehr spekulirenden Begharden u. a. m. unterscheiden. Endlich gehören auch diejenigen hieher, welche ohne alle positive Religion dem Mysticismus nachhingen und in Pantheismus hinein geriethen. Doch versuchte man andererseits von hier uns auch manche Kirchenlehre, z. B. die Brotverwandlung, zu erklären.. 269 Sie waren mit den kirchlich strengen Gottesgelehrten uneinig: weil deren unbedingte Verehrung des geschichtlich Entstandenen, ihnen sehr verschieden von der Verehrung des Urchristlichen erschien; weil deren Thätigkeit für die gegebene, bloß äußerliche Kirche, so wenig der Wahrheit und Religion nütze, als die Klopffechterei der Schule.

Und mit den Mystikern waren gutentheils diejenigen einverstanden, welche, minder zum Übersinnlichen gewandt, vorzugsweise die Verfassung der Kirche und ihr Verhältniß zum Staat im Auge behielten. Sie behaupteten: aus der falschen Stellung beider entstehe aller Hader und Krieg, und erst wenn die Kirchenverfassung von dem Überflüssigen und Schädlichen gereinigt sey, könne das Christenthum in seinem ursprünglichen Glanze, Frieden stiftend wieder hervortreten.

So zeigen sich mithin überall verschiedene Standpunkte, verschiedene Zwecke: doch lag das wahre Übel nicht hierin, sondern in dem Umstande, daß man diese Erscheinungen keineswegs für fördernd und wechselseitig entwickelnd hielt, sondern sich verpflichtet glaubte, alle Richtungen, um der einen übermächtigen willen, zu vernichten. Die lange Reihe der hieraus entstandenen unleugbaren Mißgriffe und Frevel kann uns, bei einem Überblicke aus der größern Ferne, dennoch die Überzeugung nicht rauben: ohne diejenigen, welche die Kirchenverfassung reinigen wollten, wäre sie noch schneller ausgeartet; ohne die Mystiker hätte sich die Religion in das trockenste Floskelwesen der Schule aufgelöset; 270 ohne die Bestrebungen der Philosophirenden dürfte die kirchliche Theologie in noch größere Widersprüche mit dem Verstande gerathen seyn; ohne die allgemeine rechtgläubige Kirche endlich, nach ihrer belehrenden, ordnenden und verwaltenden Richtung, hätte sich damals die ganze Christenheit aufgelöset; – und gar leicht wären dann die Philosophirenden in eitlem Bestreben, die Mystiker in abergläubigem Dünkel, und die an der Verfassung Künstelnden durch unhaltbare Gleichmacherei oder weltliche Übermacht zu Grunde gegangen. – Alle diese Parteien hätten aber darum heilsam neben und auf einander wirken können, weil sie nicht (wie manche Parteien der neuesten Zeiten) unbedingt Entgegengesetztes und Widersprechendes bezweckten. Vielmehr hielten alle, wie gesagt, die Religion für das höchste Gut des Menschen und sahen im Evangelium die höchste, das Leben regelnde, und in seinem unergründlichen und unauslöschlichen Widerstreite erst versöhnende Offenbarung; alle waren weit davon entfernt, die Lehren der Juden, Heiden, Muhamedaner und Christen gleich zu stellen, oder gar eine natürliche Religion, die für jeden Menschen dieselbe sey und zwischen den Ansichten, Einsichten und Hoffnungen der Menschen gar keinen Unterschied setze und erlaube, über die geoffenbarte Religion zu erheben. Der Pantheismus, welcher künstlich alles auf einen für menschliche Betrachtungsweise unhaltbaren, für die Sittlichkeit verderblichen Punkt hinausschraubt, blieb ihnen so fremdDaß einzelne zu solchen Ansichten kamen, beweiset nichts gegen unsere allgemeine Behauptung. denn man behandelte sie als schlechthin verkehrt, ja unsinnig. Indeß haben manche spekulative Theologen, z. B. Thomas von Aquino, das Verdienst, den Pantheismus bekämpft zu haben; was ihnen noch weit besser gelungen seyn würde, wenn sie sich an die Schrift enger angeschlossen und nicht unternommen hätten, das kirchliche System in allen Theilen, Zusätzen und Auswüchsen zu erklären und mit der Spekulation in Übereinstimmung zu bringen., als die entgegengesetzte Empfindelei, wonach der Mensch sich den zurückgesetzten Thieren gegenüber, seiner anmaaßlich 271 höhern Stellung schämen müßte. Die Christen freuten sich damals ohne falsche Demuth ihres verklärteren Glaubens, ihrer höhern Offenbarung; und das Tadelnswerthe lag nicht in diesem Glauben und in dieser Freude, sondern darin: daß man das Christenthum einerseits gewaltsam ausbreiten, und andererseits für immer in eine ungenügende, ächte Entwikelung hemmende, Form einzwängen wollte.

Ungeachtet dieses letzten Bemühens, gehen seit den ersten Jahrhunderten des Christenthums neben der rechtgläubigen Kirche, abweichende Sekten her, welche zwar im Abendlande weniger heraustraten, als im Morgenlande, aber doch schon im neunten, zehnten und elften Jahrhunderte nicht ganz fehlenIm Jahre 1016 wurden Chorherrn von Orleans als Ketzer verbrannt.  Dachery spicil. I, 406.. Lebhaftere Bewegungen zeigten sich im zwölften Jahrhunderte. Ihr Ursprung läßt sich zum Theil ebenfalls bis in den Orient verfolgen; zum Theil gingen sie aus den gesammten Verhältnissen und der Persönlichkeit einzelner in mehren Gegenden selbständig hervor. – So bestritt im Anfange des zwölften Jahrhunderts Peter von Bruis die Wirksamkeit der Kindertaufe, die Heiligkeit und Nothwendigkeit der Kirchen und Altäre, die Verehrung des Kreuzes als eines Marterwerkzeuges Christi, die Brotverwandlung, die Wirksamkeit der Almosen und Gebete für die Todten, u. s. w.Petrus Venerab. contra Petrobrus. 1034.  Alberic. 315.  Füßlin I, 200.  Hist. littér de France XIII, 91.. An seine Bestrebungen reihten sich die eines ehemaligen Mönches Heinrich an; und noch lebhafter wirkten Arnold von Brescia nach einer, Petrus Waldus nach der zweiten Richtung. Davon verschieden wuchsen, hauptsächlich in Italien, die Katharer hervor; Albigenser endlich breiteten sich in Südfrankreich aus, und erregten den ersten umfassendern Widerstand gegen die katholische Kirche.

Die KatharerNach dem griechischen Worte καϑαροι, die Reinen, so genannt., welche mit den morgenländischen 272 Sekten der Manichäer und Paulicianer in Verbindung standen, zerfielen in mehre Abtheilungen, von denen die erste nur einen Schöpfer annahm, die andere hingegen zwei Urwesen, ein gutes und ein bösesEcbertus de Catharis.  Bonacursus vita Haeretic.  Reinerus contra Waldenses.  Moneta contra Catharos etc.  Murat. antiq. Ital. V, 94. Füßlin I, 92, 151–181.. Nach der letzten Ansicht gab es keine Erlösung vom Bösen, sondern das Gute war und blieb ewig davon geschieden; nach der ersten, konnten die Abgefallenen gereinigt werden und zum ursprünglich Guten zurückkehren. Alle kamen darin überein: daß die sichtbare Welt von dem bösen Urwesen, oder dem abgefallenen Teufel geschaffen seyVielleicht schrieben aber auch nur die unbedingten Dualisten die sichtbare Schöpfung dem bösen Wesen zu; wogegen die andern annehmen mochten, Gott habe die materia prima geschaffen, welche durch den Teufel verfälscht und verdorben sey. Hienach konnten sie auch einige Schriften des alten Testaments für gut und ächt halten.. In die geistige Schöpfung des guten Gottes kam das Böse, indem sich der Sohn des bösen Gottes in den Himmel einschlich, Engelsgestalt annahm und die Reinen verführte. Dieser Grundansicht zufolge lehrten sie: der Gott des alten Testamentes sey böse, veränderlich, grausam, lügenhaft, mörderisch; mithin dem Gotte des neuen Testamentes entgegengesetzt. Sie behaupteten, nur bei ihnen finde man die wahren Geistlichen, und hatten nach ihrer Verfassung vier Abstufungen kirchlicher Ämter: den Bischof, den sogenannten ältern Sohn, den jüngern Sohn und den Helfer. Jener erste sollte bloß von freiwilligen Gaben leben. – Die Katharer selbst theilten sich in Vollkommene oder Gläubige, und in Lernende; von jenen gab es vielleicht nur 3000, von diesen eine unzählbare Menge. Die letzten trennten sich im Äußerlichen wenig von der katholischen Kirche und der allgemeinen Lebensweise, und durften ihre Ansichten durch künstliche Antworten den Forschern verbergen; jene dagegen kleideten sich schwarz, entsagten dem Ehestande, enthielten sich des 273 Schwörens, unterwarfen sich vielen andern sehr strengen Vorschriften, und kannten wahrscheinlich allein gewisse geheime Lehren. Zu diesen gehörten vielleicht die Sätze: die Materie ist ewig und alles Schaffen nur ein Einwirken auf gegebenen Stoff; der Schöpfer und das Geschöpf sind gleichzeitig und keines älter, als das andere. Aus Vermischung der Geschöpfe des bösen und guten Gottes entsprangen die Riesen. Der Beischlaf hieß ihnen die verbotene FruchtBonacursus vita Haereticorum., und jede Ehe galt für sündlich, und für gleich sündlich zwischen Fremden, wie zwischen Blutsverwandten. Sie fasteten so streng, daß es ihnen als eine Todsünde erschien, Fleisch, Eier und Käse in verbotenen Zeiten zu essen. Überhaupt rühre das Fleisch vom bösen Schöpfer her und entstehe durch sträfliche Vermischung des Männlichen und Weiblichen; daher werde auch keine Auferstehung des Fleisches statt finden. – Ketzer oder Verbrecher am Leben zu strafen sey um so verdammlicher, da es in der wahren Kirche weder Gute noch Böse gebe; doch sey die Reinigung von den Banden des Fleisches geboten.

Ferner äußerten die Katharer, der Kirchenlehre widersprechend: David war ein Ehebrecher und Mörder; den Elias nahm der Teufel auf einem Wagen hinweg; die Wunder Mosis geschahen durch böse Geister; Christus hatte keinen wahren Leib, litt und starb nicht; Maria war kein Weib, sondern ein geschlechtsloser Engel; der heilige Geist ist ein erschaffenes Wesen; Papst Silvester, welcher die Kirche weltlich machte, ist der Widerchrist, und die Kirchenväter sind verdammliche Menschen.

Sie nahmen nur vier Sakramente an: die Auflegung der Hände, die Segnung des Brotes, die Beichte und die Weihe. Die Auflegung der Hände, so lautet ihre Lehre, ist die geistige Taufe des heiligen Geistes, ohne welche keine Todsünde erlassen und keinem der Geist gegeben wirdEs gab scheinbare und wirkliche Widersprüche in den hier aufgezählten Lehren; auch ist wohl oft zusammengeworfen, was verschiedene Parteien behaupteten.. 274 Sie geschieht nicht mit Wasser, sondern in einem dunkelen Zimmer, wo ringsum Lichter brennen, um die Feuertaufe anzuzeigen. Niemand wird ohne sie selig. War indessen der zu Taufende ohne Reue in einer Todsünde befangen, so bleibt das Sakrament unwirksam. Wenigstens zwei sollen jedesmal die Hände auflegen, im Nothfall auch Laien und Weiber. – Das Brot muß täglich mit den Worten neu gesegnet werden: die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sey mit uns allen! Eine Brotverwandlung findet nicht statt: denn wenn Christi Körper auch größer gewesen wäre, als die Alpen, so müßte er doch längst verzehrt seynHistor. Albig.. Noch weiter gehend, behauptete eine Unterabtheilung der Katharer: man könne überhaupt das Brot, als etwas vom Teufel Erschaffenes, gar nicht einsegnen. In Hinsicht der Beichte lehrten sie: daß der ewige Ruhm und Glanz Gottes durch keine Sünde verringert, und dem Nichtbeichtenden die Strafe keineswegs erhöht werde. Eben so wenig gebe es ein Fegefeuer; sondern Gott erlasse, um des Auflegens der Hände willen, alle Strafe und Schuld.

Man sagte den Katharern nach: sie erlaubten auch den Beischlaf mit der eigenen Mutter, wenn der Sohn ihr achtzehn Pfennige gäbe: sechs nämlich für die Zeugung, sechs für die Geburt und sechs fürs Säugen; denn hiedurch wäre das frühere Verhältniß ganz aufgelösetReinerus 272. Höchst wahrscheinlich sind dies Übertreibungen.. Ferner, frügen sie die auf dem Todtenbette Liegenden: ob sie Märtyrer, oder Bekenner werden wollten? Wenn jenes, so erdrossele man sie mit einem Tuche; wenn dieses, so lasse man sie todt hungern und dürstenBisweilen brachten sie sich wohl um, damit sie nicht in die Hände der Inquisition fielen; oder jene Todesart galt zugleich als Aufnahme in die Genossenschaft.. Mit diesen Beschuldigungen im 275 Widerspruche wird über ihre Sitten im allgemeinen berichtet: sie sind bescheiden, ohne äußere Pracht, keusch, fleißig, besuchen keine Tanzböden und Wirthshäuser, hüten sich vor Zorn und Possen, streben nicht nach Reichthum, suchen aber Verbindungen mit Vornehmen und Großen, in der Hoffnung dieselben zu bekehren. Sie meiden den Kaufmannsstand um des damit verbundenen Lügens und Trügens willen, und üben die Wissenschaft nur um etwanige Gegner zu widerlegen.

Die Hauptkirchen der Katharer waren in Italien (zu Verona, Vicenza, Spoleto, Florenz, Sensano u. s. w.); doch gab es auch Gemeinden in Frankreich und in Konstantinopel. Noch bestimmter weiset die Meinung, ihre Stammkirchen lägen in Bulgarien, nach dem Morgenlande hin, und steht in Verbindung mit Gerüchten, daß in gewissen Zeiten dort ihr allgemeiner Oberer gelebt habe; vielleicht ist diese Äußerung aber nur sinnbildlich zu verstehn.

Weit weniger sonderbar und dennoch viel umfassender waren die Lehren der Waldenser. Petrus Waldus ein wohlhabender, verständiger, obwohl ungelehrter Mann in Lyon, wurde dadurch, daß im Jahre 1173 einer seiner Freunde plötzlich neben ihm todt niedersankDiese, an Luther erinnernde Darstellung, ist die gewöhnliche. Das Chron. canon. Laudun. in Bouquet XIII, 680, weicht etwas davon ab und läßt eine Erzählung vom Leben des heiligen Alexis die Hauptanregung geben. Wahrscheinlich war Petrus vor all diesen Ereignissen ein fleißiger Leser der Bibel., tief ergriffen und zum Lesen von Übersetzungen der heiligen Schrift aufgeregt. Welcher Weg, fragte er einen Geistlichen, ist der sicherste und beste, um die Seligkeit zu erwerben? Gehe hin, antwortete dieser, verkaufe was du hast, und gieb es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel habenMatthaeus XIX, 21.. Dieser Weisung folgend, welche mit seiner neu gewonnenen Überzeugung zusammentraf, änderte Petrus ohne Rücksicht 276 auf Tadel und Spott, seinen Lebenswandel, vertheilte alle seine Güter zu frommen Zwecken, und bat, als er des folgenden Tages aus der Kirche kam, einen alten Bekannten um ein Almosen. Sobald seine Frau dies bemerkte, eilte sie mit Geschrei und heißen Thränen herbei und sprach: o Mann! wie kannst du andere um Hülfe ansprechen? Ist es nicht besser, daß ich meine Sünden tilge durch Almosen, die ich dir gebe, als daß ein Fremder es thue? Sie brachte ihre Klage bis vor den ErzbischofSo nach jenem chron. Canon. Laudun. zu 1173., und alle Gegenwärtige weinten vor Wehmuth über den umgewandelten Mann und das theilnehmende Weib. Der Erzbischof befahl, Petrus solle nur von seinem Weibe Speise nehmen, und verbot zu gleicher Zeit, daß er, als ein ungelehrter Laie, seine Überzeugung durch Predigten ausbreite. Weil sich aber Petrus hiezu in seinem Gewissen für verpflichtet hielt, so kam die Berufung bis an die Päpste Alexander III und Lucius II. Beide bestätigten den Befehl des Erzbischofes, und sprachen sogar den Bann über die Ungehorsamen; allein dies diente nur zur Zerstreuung und größeren Verbreitung der Waldenser. Doch blieb das südliche Frankreich Hauptschauplatz ihrer WirksamkeitSie waren selbst in Deutschland verbreitet, wie viele deutsche Wörter bei Reinerus beweisen. – Concil. XIII, 371., wo sie später mit Katharern und andern, hie und da unter sich verschiedenen Sekten, am Anfange des dreizehnten Jahrhunderts, gewöhnlich mit unter dem allgemeinen Namen der Albigenser begriffen werdenErmengard und Ebrardus contra Waldenses vermischen die Lehren der Katharer und Waldenser, mehr als sich gebührt. Weit genauer unterscheidet Reimerus. Plichdorf contra Waldenses ist schon eine spätere Quelle. Vergleiche noch Moneta und Bernardus contra Waldenses.  Vitae Pontif. 447.  Belg. chron. magn. 219.  Innoc. epist. XIII, 94.  Perrin hist. des Albigeois 252. Füßlin I, 326, 495. Schröckh XXIX, 570. Wir haben uns bemüht, in unserer Darstellung das Wesentlichste und Wahrhafteste nach jenen Quellen, ohne Einmischung späterer Ansichten, zusammenzustellen..

277 Der Lebenswandel der eigentlichen Waldenser wird selbst von ihren Gegnern gerühmt; wie großen Anstoß sie aber dennoch in jener Zeit geben mußten, zeigt folgende Zusammenstellung des Wesentlichsten ihrer LehreIn manchen Stücken treffen allerdings die Lehren der Reformatoren im sechszehnten Jahrhundert mit denen der Waldenser überein, in anderen wiederum nicht: so tadelt Ermengard c. 16, daß diese die guten Werke dem Glauben voranstellten.:

»Die römische Kirche ist nicht die Kirche Christi, sondern seit dem Papste Silvester angesteckt vom Bösen; der Papst ist nicht der Stellvertreter Christi, sondern Haupt aller Irrthümer; die Prälaten sind nicht die Säulen und Stützen der Kirche, sondern vergleichbar den Pharisäern und Schriftgelehrten. Mit Unrecht besitzen sie irdische Güter und erheben Zehnten, statt den Aposteln gleich zu arbeiten; mit Unrecht stellt sich einer über den andern, da in der wahren Kirche alle gleich sind; mit Unrecht zwingt man uns, die Geistesarmen, unserm Glauben zu entsagen, und verhindert die heilsame Darlegung unserer Lehre. Steht nicht geschrieben: wer das Gute weiß, und es nicht thut, der sündigt doppelt? Freute sich Moses nicht, daß mehre weissagten? Wünschte er nicht, daß das ganze Volk es vermöchte? Christus ließ den, welcher die Teufel weder in seinem Namen austrieb, noch den Aposteln folgte, deshalb nicht verfolgen, sondern sagte: wer nicht wider euch ist, der ist für euch. Die Apostel gingen, obgleich die weltliche Obrigkeit und die Priester ihnen das Predigen untersagten, dem Befehle ihres Herrn gemäß, in alle Welt und lehrten alle Völker: – und so haben nach ihnen viele Laien und Unwissende den Gedrückten, Bedürftigen und Schwachen mit Erfolg das Wort verkündet; während ihr, nicht ohne Nebenabsicht, nur zu den Klugen dieser Welt sprecht. – Der geistliche Stand hat durch Sittenlosigkeit und Habsucht 278 alle Achtung verloren; und dennoch meint ihr, an Äußerlichkeiten euch haltend, ein lasterhafter Priester könne gebührend die heiligen Werke seines Amtes verrichten, keineswegs aber ein tugendhafter Laie. Der Wahrheit nach ist aber ein frommer Laie weit eher ein Priester, und kann das Abendmahl und die Lossprechung weit eher ertheilen, als ein sündiger GeistlicherReinerus c. 4-6.  Lucas Tudensis adv. Albigenses.

»So wie eure Kirchenverfassung, erscheint auch eure Lehre mangelhaft und überall mit Irrthümern vermischt. Die Kindertaufe ist unwirksam, die Teufelsbannung thöricht und die Firmelung mit Unrecht bloß in den Händen des Bischofs. Nicht durch den Austheilenden erfolgt die Brotverwandlung, sondern im Munde des würdig Empfangenden. Die Messe ward um des Gewinnes willen eingeführt, und euer angeblich geistlicher Gesang gleicht einem Höllengeschrei, eure Glocken und Orgelei erinnern an die Posaunen des TeufelsHistor. Albigens. c. 2.  Vieles ist aus der Widerlegung der katholischen Lehren in Perrins Histoire des Albigeois entnommen. In Martene thes. V, 1703-1793 ist aber manches den Waldensern nachgesagt, was sie wohl nicht lehrten, z. B. omne illud est bonum, quod fit bona intentione.. Harte und öffentliche Bußübungen, besonders der Weiber, erscheinen unchristlich. Die Priesterehe ist erlaubt, nicht aber der Beischlaf ohne den Zweck des Kinderzeugens. Auf übertriebene Hindernisse der geistlichen und leiblichen Verwandtschaft soll niemand Rücksicht nehmen. Nach dem Tode kommen die Seelen in den Himmel, oder in die Hölle; wogegen das Fegefeuer nur eine eigennützige, durch die Schrift nirgends bestätigte Erfindung ist. Der wahre Glaube und die wahre Reue genügen zur Seligkeit, und Christus lud den reuigen Verbrecher keineswegs ins Fegefeuer, sondern ins Paradies. – Almosen, Fasten, Todtenmessen und Gebete helfen den Verstorbenen nichts; vielmehr macht die Meinung, daß andere viel für unsere Seligkeit thun und wirken können, nur träge und gleichgültig; und mit 279 Vernachlässigung aller innern Heiligung geht ihr zu Grunde in abergläubigen Satzungen. Eben so dient die falsche Lehre von der Erbsünde nur dazu, eure eigenen Sünden einer unabwendbaren Nothwendigkeit zuzuschieben. – Kein Ort ist heiliger zum Gottesdienst, als der andere, und ein frommes Gebet unter freiem Himmel, in seiner Wohnung, oder selbst in Ställen dargebracht, ist Gott so wohlgefällig, als in Kirchen gesprochen: denn die wahre Kirche besteht nicht in der Menge von zusammengebrachten Steinen, sondern in der Gemeinschaft der Heiligen. Eure Fasten, welche nicht zur Abtödtung des Fleisches, sondern dazu vorgeschrieben sind, damit die Reichen einen Vorwand haben, an diesen Tagen etwas Besseres und Seltneres zu essen, sind unnütz und überflüssig, und eben so eure neu erfundenen Festtage und Aufzüge. Verehrung von Bildnissen und Gemälden führt zum Götzendienst; Sündenerlaß, Weihungen, Weihwasser und ähnliche Gebräuche haben keine Bedeutung. Euer Bann ist unchristlich, und kann allein heilsam werden, sofern er die mit Unrecht Geängstigten zur wahren Erkenntniß treibt. – Gott ist das wahre Licht; anderes Licht in den Kirchen nützt bloß dazu, daß sich die Geistlichen nicht an die Füße stoßen. Eure Heiligenwunder, Legenden und Reliquien sind mehr lächerlich, als erbaulich. Ihr wollt die Heiligen durch eure Anrufung ehren, und doch setzt dies voraus: entweder, daß ihr Wille und ihre Ansicht nicht mit dem Willen und der Ansicht Gottes übereinstimmt; oder daß Gott härter und grausamer ist, als sie. Ihr bringt ihnen Gaben, baut ihnen Altäre, lobet und preiset sie, in der Meinung, sie seyen dadurch zu bestechen; so wie ihr wohl, um des Beichtgeldes willen, selbst verstockte Sünder lossprecht!«

»Was sich nicht aus der Bibel beweisen läßt, ist fabelhaft, und die Übersetzung derselben so würdig, als das lateinische Wort. Christi Lehre reicht zur Seligkeit hin ohne Kirchengesetze und Überlieferungen, welche nur Überlieferungen der Pharisäer sind. – Daran also erkennet die Werke 280 des Widerchrists: er giebt nicht bloß Gott die Ehre, sondern auch den Geschöpfen; führt allen Gottesdienst um der Habsucht willen auf äußere Gebräuche zurück; herrscht nicht durch den heiligen Geist, sondern ruft die weltliche Macht gegen die Glieder Christi auf, und verbirgt seine Tücken auf erbärmliche Weise hinter dem, was diese oder jene Jungfrau oder alte Frau Beseligendes und nicht zu Bezweifelndes gesagt haben soll! Die göttliche Offenbarung hat nichts zu thun mit solchem Aberglauben; in den Mönchsregeln und Mönchskutten steckt nicht die wahre Heiligkeit, und die Gemeinschaft der Mönche ist nicht die Gemeinschaft der Heiligen.«

»Daher kommt euer Götzendienst, daß ihr von Gnade, Wahrheit, Kirche, Anrufung, Fürbitte u. s. w. nur irrige Begriffe habt; und wir trennen uns von euch, damit wir in unserm Glauben das Wesentliche erhalten mögen: nämlich, die innere Erkenntniß Gottes, die feste Hoffnung auf Christus, die Wiedergeburt durch Glaube, Hoffnung und Liebe, die wahre Gemeinschaft der Erwählten, die wahre Reue, die wahre Ausdauer und das ewige Leben. Alle Vergebung der Sünden ruht in Gott durch Jesum Christum für diejenigen, welche haben Glauben, Hoffnung und Liebe.– Nachahmen möget ihr die Heiligen, nicht anrufen, nicht Christum vernachlässigen, unsern einzigen genügenden Mittler, unsern Herrn, der sich für uns opferte, den allein Heiligen, Unbefleckten, Reinen, Erstgebornen des Vaters. Ihr zerstreut und schwächt die Liebe, welche nur auf ihn gerichtet seyn soll, und zieht abgeleitete, unreine Gewässer jenem reinen Urquelle vor. Sobald man, nach unserer Weise, im wahren Christenthume den Mittelpunkt aller Bestrebungen, Ansichten und Hoffnungen gefunden hat, so ergeben sich die Regeln für das einzelne des Lebenswandels von selbstPerrin 252.: liebet die Welt nicht, fliehet Müssiggang und böse Gesellschaft, haltet Frieden, rächet euch nicht, traget in Geduld, 281 seyd mitleidig, bekämpfet böse Begierden und kreuziget euer Fleisch, höret die Stimme des Gewissens und reinigt euern Geist von allem Bösen.«

Das bis jetzt Dargelegte kann für die damals verbreitete Ansicht der abweichend Lehrenden, insbesondere der Waldenser, gelten; einzelne gingen aber in verschiedenen Richtungen noch weiter. So sagt Guyot von Provins, zur Zeit Innocenz des Dritten Mönch in ClugnyNotices et extraits V, 284.: »was der Polarstern für die Seefahrer ist, sollte der Papst für die Christen seyn; alle Augen richten sich auf ihn, und er sollte alle leiten. Man schmückt sein Haupt mit einer Krone von Pfauenfedern, gleichsam um ihn zu erinnern, er müsse seine Augen immerdar nach allen Theilen der Welt offen halten: besser aber wäre es, er hielte sie offen gen Himmel und bäte Gott, ihn zu erleuchten und zu unterrichten. Weil der Papst statt dessen nichts sieht und sich keinem Übel entgegenstellt, müssen wir zu Grunde gehn. Rom hat stets die Religion erniedrigt und die Kirche ausgesogen; niemand widersteht dort dem Gelde, dorther kommen alle Laster. Warum vereinigen sich die Fürsten nicht, diesen Übeln Einhalt zu thun? Warum ziehen sie nicht gegen Rom, wie sie itzt gegen Konstantinopel ziehen? Dies wäre das einzige Mittel, um die Habsucht, den Stolz, den Betrug und die Treulosigkeit zu zerstören, welche daselbst ihren Sitz aufgeschlagen haben.«

Andere kamen, nach der Trennung von der Kirche, zu einer kühnern Mystik. So behauptete Amalrich aus Chartres ums Jahr 1209Vitae Pontif. 481.  Trivet zu 1215.  Histor. Landgr. Thur. Eccard. 397.  Brucker III, 688.: »Alles ist Eins, und Gott ist Alles; er ist das Wesen aller Geschöpfe. Alle Dinge ruhen eigentlich in ihm unveränderlich und bilden ein Untheilbares. So wie man das Licht nicht an sich, sondern an den Gegenständen sieht, so wird Gott weder von Menschen noch von 282 Engeln an sich angeschaut, sondern nur in der Schöpfung. Hätten die Menschen nicht gesündigt, so hätten sie sich ohne Geschlechtstrennung fortgepflanzt, wie die Engel. Auch wird nach der Auferstehung nur ein Geschlecht vorhanden seyn« u. s. w. »Das Reich des Vaters, so lauteten vielleicht spätere Zusätze, habe so lange gedauert, als die mosaische Gesetzgebung; mit der Herrschaft Christi sey diese zu Grunde gegangen, und nunmehr werde die Gesetzgebung des Geistes einbrechen. Dann sey weder Taufe, noch Abendmahl, noch irgend eine äußere Handlung mehr erforderlich; sondern jeder könne durch die Gnade des Geistes vermittelst innerer Heiligung selig werden. Gott sey nur gut, nicht gerecht; alles, was sonst Sünde sey, verliere diese Eigenschaft, wenn die That aus der Liebe hervorgeheAlberic. 452.  Doch ließe sich das alles wohl nicht folgerecht an Amalrichs Lehre anreihen, sondern Verschiedenartiges wurde vermischt.

Die Albigenser, welche sich im südlichen Frankreich in der Gegend von Albi ausbreiteten, und bereits auf mehren Kirchenversammlungen in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts1163 Kirchenversammlung in Tours, 1176 in Albi. Concil. XIII, 303. Man streitet, ob der Name Albigenser von der letzten Kirchenversammlung, oder davon entstanden sey, daß die Ketzereien sich in diesen Gegenden verbreiteten. Beides kommt zuletzt auf Eins hinaus. Hist. d. Langued. III, Note XIII.  Guil. Nang. zu 1209 und 1210.  Vincent. Specul. XXIX, 107.  Rigord. 50.  Math. Paris 203.  Briton. Phil. 102.  Pagi zu 1181, c. 9. verurtheilt wurden, sollen ebenfalls (wie wenigstens ihre Gegner behaupten) über die oben dargelegten Grundsätze der Katharer und Waldenser hinaus, im einzelnen, schroffern und thörichtern Ansichten nachgehangen haben. »Der in Bethlehem geborne, sichtbar lebende und gekreuzigte Christus war ein böser, von einer unkeuschen Mutter geborner Christus und Magdalene seine Beischläferinn: der gute Christus hingegen hat weder gegessen, noch getrunken, noch irdisches Fleisch angenommen; er ist nie auf 283 Erden gewesen, ausgenommen geistig (spiritualiter), im Körper des Apostel Paulus.« Andere sagten (ungewiß, in welchem mißverstandenen, oder vielleicht mystischen Sinne): Gott habe zwei Weiber und mit beiden Kinder gezeugt. – Den meisten hieß die römische Kirche eine Räuberhöhle, die Synagoge des Teufels, die große Hure der Offenbarung JohannisVitae Pontif. 571..

Was hievon aber auch wahr, was übertrieben und erlogen seyn mag, immer fehlt es nicht ganz an erwiesenen Beispielen, daß neben dem redlichen Bestreben, die Lehre Christi in ihrer ursprünglichen Einfachheit und Reinheit darzustellen, bisweilen übertriebenes Vertrauen auf eigene Weisheit und regellose Willkür herging. So verwarf Tanchelin in den Niederlanden, die Verfassung und mehre Hauptlehren der KircheMiraei op. diplom. III, S. 567, Urk. 9.  Pagi zu 1126, c. 4.  Dies geschah also an 60 Jahre früher.. Wenn Christus Gott sey, weil er den heiligen Geist besessen, so halte er selbst sich nicht für schlechter. Gleich einem Könige, hatte er Leibwächter und eine Art von Hofstaat. Das Volk theilte sich in sein von ihm geweihtes Badewasser, als sey es heilsam für Leib und Seele. Einst brachte er das Bild der heiligen Jungfrau in die Versammlung seiner Anhänger, verlobte sich hierauf in feierlichen Worten mit ihr und fügte hinzu: »Geliebteste, ich habe mich mit der heiligen Jungfrau verlobt; gebet nun die Kosten zur Hochzeit. Hier sind zwei Gefäße, eins für die Frauen und eins für die Männer; ich werde sehen, welch Geschlecht mir und meiner Braut am meisten zugethan ist.« Hierauf drängten sich alle zur Gabe, die Weiber warfen Halsbänder und Ohrringe hinein, und er gewann große Summen. – In derselben Zeit und Gegend stiftete ein Schmied Manasse eine Gilde, wo zwölf Männer die zwölf Apostel vorstellten, ein Mädchen aber die heilige Jungfrau, bei welcher jene, angeblich zur Erhöhung der Gemeinschaft und Brüderschaft, nach der Reihe schliefen.

284 Abgesehen aber von solchen, an sich verwerflichen Auswüchsen, fehlte es der katholischen Kirche nicht an Gründen, welche sie den oben entwickelten gemäßigtern Ansichten gegenüberstellteEs ist in die folgende Gegenrede nichts aufgenommen, was nicht in den damaligen Schriften gegen die Ketzer, obgleich zerstreut, enthalten ist.. »Durch so viele Jahrhunderte hindurch hat sich die rechtgläubige Kirche selbständig, gleichartig und siegreich erhalten, während alle Abweichenden in sich zerfallen und untergegangen sind. Wie kann also eine neu entspringende Partei behaupten: die wahre Kirche entstehe erst mit ihr, und das Christenthum der ganzen Christenheit sey bisher kein Christenthum gewesen? Der Stand der Geistlichen ist in der Schrift begründet, und wer ihn aufzulösen trachtet, wird dadurch nicht dem Laien eine höhere Weihe ertheilen, sondern zu allgemeiner Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Unglauben führen. Mit der Armuth der Kirche (welche man nur preiset, um ihre Güter zu rauben und den Geistlichen nicht zu geben, was ihnen gebührt) würde keineswegs deren Heiligkeit, sondern nur ihre Noth wachsen; auch ist nicht abzusehn, warum allein die Laien nach Macht und Reichthum trachten dürfen; da die Kirche auf Erden ebenfalls der Macht und des Ansehens bedarf, und ein rechter und preiswürdiger Gebrauch irdischer Güter sich bei ihr noch eher, als bei den Laien voraussetzen läßt. – Eben so einseitig und verkehrt erscheint es: bürgerliche Abstufungen und Unterordnungen für größere weltliche Staaten als heilsam anzunehmen, die Verhältnisse von Kaiser, König, Herzog, Graf u. s. w. natürlich und nothwendig zu finden; und dennoch die kirchlichen, des Papstes, Erzbischofs, Bischofs u. s. w. als thöricht und entbehrlich anzufeinden. So wie auf Erden der Geist des Körpers bedarf, um lebendig einzuwirken, so die Religion der Kirche; eine gänzliche Trennung beider ist ein zum Verderben der Christenheit ausgesonnenes Hirngespinst. Und welcher Zügel 285 bliebe für die so oft im Argen befangene weltliche Macht übrig, wenn die Kirche niedergestürzt wäre? Wahrlich, statt des leichten Joches müßte ein eisernes, statt der väterlichen Strafe eine Geißelung mit Skorpionen eintreten.«

»Das Verlangen, die Geistlichen sollten arbeiten gleich den Aposteln, ist unpassend. Sind denn die Geschäfte ihres Berufes keine Arbeit? Oder wäre etwa ein stilles, in aller Gottseligkeit und ohne Beeinträchtigung eines Dritten geführtes Leben, nicht so viel werth, als die geräuschvolle unselige Kriegsarbeit, welche überall Rechte und Sitten verletzt, und dennoch als Krone aller weltlichen Thätigkeit aufgestellt wird?«

»Die Kirche behauptet nicht: ein lasterhafter Priester sey vor Gott besser, als ein tugendhafter Laie, oder jeder höhere kirchliche Grad gebe nothwendig größere innere Heiligkeit: aber so wenig der Graf des Kaisers Rechte üben darf, wenn er auch tugendhafter ist, als dieser, so wenig darf sich der niedere Geistliche in das Geschäft des höhern mischen, oder der Laie sich irgend ein kirchliches Recht anmaaßen. Übel wäre es, wenn der Werth und die Wirkung der heiligen Sakramente von der Persönlichkeit des Priesters abhinge, und jeder Mühselige und Beladene, statt sich an jenen zu erquicken, erst die Eigenschaften des Austheilenden untersuchen müßte, oder gar durch des lasterhaften Geistlichen Theilnahme angesteckt werden könnte. So wie der Edelstein gleich viel werth ist in der Hand des schmutzigen Leibeigenen und in der Hand des Königs: so ist auch das heilige Sakrament gleich viel werth in der Hand des tugendhaften und des lasterhaften Priesters.«

»Ihr behauptet, jeder sey berufen zum Lehren und zum Predigen; aber Moses freute sich nur über die Gabe der Weissagung, weil sie wirklich vorhanden war und keineswegs, wie bei euch, fehlte. Christus erlaubte, daß einer, dem gewiß nicht aller Glaube mangelte, Wunder verrichte, was ihr nie vermöget: keineswegs aber verstattete er jedem das Lehren, und auch ihr würdet bei strengerer Prüfung 286 oft gewahren, daß euch nur der Teufel dazu antreibt. Deshalb thut das Gute, und laßt das Reden. Allerdings haben einzelne fromme Laien mit großem Erfolge gepredigt: aber nicht etwa den Gläubigen, sondern den Ketzern und Ungläubigen; auch versagten sie, zum Zeichen, daß der Geist Gottes in ihnen war, niemals der Kirche den schuldigen Gehorsam. Wo, wie bei euch, keine göttliche Sendung zu erweisen ist, kann allein die Kirche ein Ersatzzeugniß des Berufes ertheilen: ihr aber zeigt durch das Verschmähen desselben, wie euer ganzes Thun aus Anmaaßung, und aus einer um so sträflichern Anmaaßung beruht, weil ihr, mit häuslichen und weltlichen Dingen in ungebührlicher Vermischung, ohne Kenntniß aller heiligen Geschäfte lehret, ohne bestimmte Stelle in die kirchlichen Kreise hinein pfuschet, eure unreinen Hände an fremde Spenden und Saaten anlegt und, alles verwirrend, selbst Weibern das geistliche Lehramt einräumt, welche doch, nach des Apostels weiser Vorschrift, in der Gemeinde schweigen sollenViele dieser Gründe sind genommen aus Bernardus contra Waldenses.. Ihr werft uns vor, daß wir nur zu den Klugen dieser Welt sprächen: weit eher aber können wir euch den umgekehrten Vorwurf machen: daß ihr Schwache, Böswillige, Unwissende und Weiber verführt, eure Kraft und Weisheit aber gegen Gläubige und gegen die Kirche zu Schanden wird.«

»Die tiefsinnigen Geheimnisse der christlichen Lehre zieht ihr, in eurer Unwissenheit, vor den Richterstuhl des gemeinsten Verstandes, und glaubt mit wenigen von der Oberfläche abgeschöpften Reden, welche jedem Muthwilligen und jedem Gleichgültigen willkommen sind, alle Beweise und Erörterungen überwunden und das zu Glaubende als Aberglauben dargethan zu haben. Wie weise sagt dagegen TertullianTertullian. de resurrect. c. 3.: die Ideen der göttlichen Vernunft sind in der Tiefe, nicht auf der Oberfläche zu suchen, und 287 stehen gewöhnlich mit dem Scheine jener Oberfläche im Widerspruch. – Billigung der Kirche, Übereinstimmung vieler Geschlechter, geschichtliche Beispiele gelten nichts vor euren neuen Erfindungen. Ihr verwerft alle Fasten, als wäre das dadurch vorgeschriebene Selbstbeherrschen und Entsagen nicht eine bessere Vorübung zu größern Aufopferungen, als ein bloß äußerliches, ohne alle Regel und Gesetz ablaufendes Leben. Ihr verwerft Todtenmessen und Gebete, als wenn ein solches Beschränken aller Wirksamkeit auf diese Erde und die Zeit des irdischen Lebens vorzuziehen sey dem Glauben, daß alle Christen Glieder eines Leibes sind, welche der Tod nicht scheiden kann. Ihr verwerft jede Anrufung von Heiligen, als wenn deren Fürbitte Gott als grausam oder schwach darstellte, während ihr doch Christi Fürbitte und seinem Mittleramte vertraut und auf eine Erlösung vom Bösen hofft. Ihr spottet der Erbsünde, und leidet doch, gleich andern, an der ursprünglichen, durch eigene Kräfte nicht zu bezwingenden Gebrechlichkeit der menschlichen Natur. Ihr verlacht die Wunder der Heiligen, und glaubt abergläubisch an Wunder von Ketzern. Ihr leugnet das Fegefeuer, uneingedenk, daß für die große Zahl derer, welche von dem Roste der Welt nicht rein, aber auch von ihm nicht ganz zerfressen sind, keine plötzliche Verdammniß zur Hölle, kein Sprung in den Himmel möglich, sondern ein vermittelnder, vorbereitender reinigender Zustand so natürlich und nothwendigIdee des Fegefeuers in Platons Gorgias S. 163. ed. Bekkeri II, 2., als in den Gesetzen der Kirche begründet ist.«

»Bildwerke, Gemälde und heilige Musik scheltet ihr unerbaulich und gottlos, und doch wollt ihr allen Dingen auf Erden gleiche Würdigkeit zugestehen zum Gottesdienst und zur Heiligung. Nicht so Christus: er vertrieb die Kaufleute aus den Tempeln und schied das Geheiligte vom Weltlichen. – Habt ihr nicht Häuser in den Städten, 288 Häuser auf dem Lande, Kammern zum Essen, Schlafen und zu anderm Gebrauche? – und ihr beneidet dennoch die Christen, daß sie ein Gotteshaus haben, und lieber in heiliger Gemeinschaft wirksam beten und Gott anrufen, als in hülfloser oder anmaaßlicher Vereinzelung? Wir wissen auch, daß Gott überall ist, und überall zu ihm gebetet werden kann; weshalb wir keine Verehrungsweise ausschließen: ihr dagegen steht, unsere Weise verwerfend, nicht auf dem höhern allgemeineren, sondern auf dem schlechtern, einseitigen Standpunkte. Das Gleiche gilt von eurer Ansicht der Bibel und der heiligen Überlieferungen: denn wir bleiben nicht hinter euch zurück in Verehrung der ersten, gehn euch aber voran in der ächten Würdigung der letzten. Sonderbar, daß eure neuen Deutungen mehr gelten sollen, als die Lehren aller heiligen Kirchenväter, daß eure Auslegung gültiger seyn soll, als die der ganzen Kirche, daß deren bewährte Einrichtungen schlechter mit dem Evangelium stimmen sollen, als eure einseitig abweichenden Satzungen!«

»Der Herr hat sein Volk nicht ganz verlassen, sondern einen Stellvertreter auf Erden eingesetzt, welcher, mit dem Beistande der Kirche und nach den Vorschriften der Bibel, alles bestimmt und entscheidet, was im Ablaufe der Zeit störend oder irrig hervortritt, und anordnet, was das über den Erdkreis verbreitete Christenthum zu seiner Erhaltung und Fortbildung bedarf. Nur durch diese göttliche Einrichtung steht die rechtgläubige Kirche fest und siegreich da; während ihr, kaum entstanden, schon wiederum unter euch zerfallet und – das Schädliche nach keiner genügenden Regel ausscheidend, das Heilsame durch keine über alle Zweifel erhabene Gesetzgebung begründend – einer unbegränzten Willkür preis gegeben seyd.«

»Daran erkennt man das Wesen der Ketzer: daß sie, nächst Gott, nicht seinen Heiligen, sondern sich die Ehre geben, unter dem Vorwande innerer Erleuchtung alle äußere Einrichtungen und Hülfsmittel der Heiligung verschmähen, nur das gläubig annehmen, was ihnen gefällt, verwerfen, 289 was ihnen nicht behagt, und daß jeder seine eigene Gesetzgebung für höher achtet, als die der allgemeinen Kirche.«

Auf solche Weise standen die Parteien einander gegenüber. Daß keine von beiden der Wahrheit ganz ermangelteÜber das Maaß der Wahrheit und des Irrthums abzuurtheilen, ist nicht unseres Amtes; wir haben Gründe und Gegengründe ohne Haß oder Vorliebe nach den Quellen zusammengestellt., möchte sich schon aus dem Eifer und der Beharrlichkeit beweisen lassen, mit welcher sie ihre Ansichten vertraten; damit ist indeß auch zugegeben, daß auf beiden Seiten Mängel und Übertreibungen lagen. So zählt z. B. Reinerus folgende Ursachen der Ketzereien auf: Stolz und Eitelkeit, das eifrige Lesen der Schrift, böses Beispiel und ungenügsame Lehre und Kenntniß der katholischen Geistlichen, sorgsam eingerichtete Schulen der Irrlehrenden, Haß gegen den Reichthum der Geistlichen und gegen die Abgaben an die Kirche; – und diese Aufzählung eines eifrigen Bekämpfers der Ketzer enthält, unparteiisch genug, nicht minder Rechtfertigungen, als Anklagen.

Das Vorwalten äußerer Formen und todter Gebräuche, die Unwissenheit und Habsucht vieler Geistlichen, die unpassende Strenge oder der weltliche Sinn mancher Prälaten, ja die Ausartung des Standes überhaupt, ließ sich nicht leugnen; und wenn auch die großen Päpste ernstlich dagegen ankämpften, so sah das Volk doch selten eine tüchtige unmittelbare Wirkung, und jene ketzerisch gescholtenen Lehrer behaupteten: daß die nöthige Erneuung nie hinreichend seyn werde, wenn man sie ausschließend von oben erwarte. Aber freilich gingen neben ihren wohlgemeinten Ansichten bisweilen Schwärmerei und Wahnsinn her; neben ihrem Streben nach einer höhern Welt, das Verkennen der Bedingungen, welche in dieser Zeitlichkeit nicht zu umgehen sind und selbst von Christus nicht verschmäht wurden. Selten wußten sie Wesentliches und Unwesentliches genau zu unterscheiden, und bei aller Tiefe des Gemüthes fehlte oft 290 die besonnene Weisheit. Der große Haufe begriff schnell, daß man das zeither Verehrte wegwerfen könne; aber da die innere Heiligung nicht vorangegangen war, so fielen alle zügelnden Bande dahin, und die loseste Willkür und Frevel vielfacher Art stehn unmittelbar neben dem Erhabensten, Gottverwandtesten. Noch war die innere Kirche nicht auferbaut, als man die äußere schon niederriß; noch waren die eigenen Handlungen nicht besser geworden, als man, mit dem Aberglauben über die Wirksamkeit fremder Tugend, auch die Anerkenntniß derselben aufgab; noch zeigte sich die Liebe so wenig vorherrschend, daß geringe Abweichungen, auch unter den angeblich Reinern, großen Haß erzeugten. Doch läßt sich nicht leugnen, daß die Waldenser weit weniger diese Vorwürfe verdienen, als andere frühere, gleichzeitige oder spätere Sekten, und daß ihre Übertreibungen gutentheils nur Folge der schroffen Behauptungen und Maaßregeln der herrschenden Kirche waren.

Diese Maaßregeln gingen damals aus der festen Überzeugung hervor, daß Aufrechthaltung des reinen Glaubens die größte Liebespflicht und die erste öffentliche Schuldigkeit sey. Der Glaube erschien von der höchsten Wichtigkeit, nicht bloß für jenes, sondern auch für dieses Leben, und der Ketzer, behauptete man, müsse auch ein anderer Vater, Gatte, Bürger u. s. w. seyn, als der Gläubige. Die weltliche Obrigkeit theilte nun entweder diese Überzeugung, oder wich der allgemeinen Ansicht, oder fand es klug, den Geistlichen nicht zu widerstreben. – Wenn sich auf diesem Wege Leidenschaften aller Art mit der vorgeblichen Pflicht verbanden, für das zeitliche und ewige Wohl seiner Mitmenschen zu wirken, so mußte der Eifer alles gebührende Maaß übersteigen. Ohne Zweifel ist ein wahrer Christ in jeder Beziehung etwas anderes, als ein Unchrist: aber die Frage: was denn nun wahrhaft zum Ketzer und Ungläubigen stempele? beantworteten die meisten nach ihrer leidenschaftlichen oder beschränkten Ansicht, und die Häupter der herrschenden Kirche scheuten kein Mittel, die ihrige 291 geltend zu machen. Dies beweiset vor allem die Geschichte der Albigenser, mit welchem Namen man, wie gesagt, im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts, ohne genaue Unterscheidung fast alle diejenigen bezeichnete, welche im südlichen Frankreich auf die eine oder andere Weise von der katholischen Kirche abwichen. Zuvörderst versuchte man allerdings durch Ermahnungen und Religionsgespräche einzuwirken: weil sie aber auf ihren Ansichten beharrten und in Begründung derselben voranzustehn meinten, so steigerte man die Mittel und der Papst befahl, daß beauftragte Geistliche die Rechtgläubigkeit der einzelnen erforschen solltenHist. de Langued. III, 130.  Wir geben von allen diesen Dingen keine erschöpfende Erzählung, sondern nur so viel Andeutungen, als uns zur Aufhellung unserer gesammten Darstellung nöthig erschienen.. An diese, ohne Zweifel anfangs wohlgemeinte, geistlich-polizeiliche Aufsicht, reihte sich nur zu schnell ein, nach Form und Inhalt tyrannisches, inquisitorisches Verfahren; es erwuchs die Inquisition, deren etwaniger Nutzen nicht allein von dem Schaden und den Gräueln himmelweit überwogen wird, sondern die auch insofern für unbedingt verwerflich gelten muß, als sie schlechte Mittel zu angeblich guten Zwecken nicht verschmähte, und das Christenthum, seinem innersten Wesen zuwider, ausbreiten wollte durch das Schwert, das Henkerbeil und den Holzstoß.

Schon damals (und wie weit war man noch von der spätern Theorie und Praxis entfernt) vermehrten jene Vorschriften die wechselseitige Abneigung, und als Peter von Chateauneuf, ein überheftiger Bekehrer, im Jahre 1208 von einem beleidigten Edeln umgebracht wurde, drangen die Vertheidiger heftiger Maaßregeln nicht etwa bloß auf die Bestrafung des Mordes, sondern klagten darum alle Albigenser und ihren Beschützer den Grafen Raimund von Toulouse noch lauter und heftiger an, als bisher. Freilich widersetzte sich dieser, als man seine Unterthanen mit 292 Feuer und Schwert verfolgen, oder sie zu Auswanderungen zwingen wollte, und war schwerlich der katholischen Kirche mit dem verlangten Eifer zugethan: wäre indessen sein Wandel wirklich so tadelnswerth und unkeusch gewesen, wie seine Feinde behaupten, so hätten ihm Richard Löwenherz und König Peter von Aragonien schwerlich ihre Schwestern zu Frauen gegebenRaimund heirathete Johannen, die Wittwe Wilhelms II von Sicilien. Sie widerstand männlich den Feinden ihres Gemahls, suchte in England Hülfe, fand ihren Bruder Richard todt und starb nun vor Gram. Ihr Sohn Raimund V ward 1197 geboren. Raimund IV heirathete itzt Eleonore, die Schwester des Königs von Aragonien.  De comitib. Tolosan. mscr. 266.. Wenn ferner einige seiner Unterthanen wirklich auf unanständige Weise Altäre und Kelche verunreinigtenHistor. Albigens. c. 5., so geschah dies erst nachdem der Parteihaß höher gestiegen war, oder Vergehen solcher Art gingen doch immer nur von einzelnen aus und konnten von Rechts wegen nur an einzelnen gestraft werden. Hiemit war aber dem Bischofe Fulko von Toulouse, einem persönlichen Feinde Raimunds, und dem Grafen Simon von Montfort, welcher für sich hier Ruhm und Besitz zu erwerben hoffte, keineswegs gedient; vielmehr trugen sie durch einseitige und übertriebene Berichte nicht wenig dazu bei, daß Papst Innocenz III wider seine ursprüngliche Neigung strengere und umfassendere Maaßregeln ergriff. Früher nämlich hatte er in Bezug auf die ihm gemeldeten Ketzereien mehre Male so gemäßigt als besonnen erklärt: man solle nicht den Waizen mit dem Unkraute ausreißen, nicht die Einfachen durch übertriebene Heftigkeit verstockt machen und erst in Ketzer verwandelnInnoc. epist. II, 141, 142.; jetzt, im Jahre 1208, forderte er hingegen den König von Frankreich und alle Große und Einwohner des Landes zum Kreuzzuge wider die Albigenser aufInnoc. epist. XI, 11, 156-158, 229-231.  Rigord. 49. 293 {1208} und versprach ihnen, im Namen der Kirche, Vergebung aller Sünden: denn es sey nicht minder nöthig und verdienstlich gegen Ketzer und Abtrünnige zu fechten, als gegen Ungläubige, welche die Wahrheit nie gekannt hätten. Graf Raimund, der Urenkel jenes, im ersten Kreuzzuge so berühmt gewordenen Grafen von Toulouse, sah sich (so wechseln Zeiten und Ansichten) jetzt durch die neuen Kreuzfahrer, obgleich der König von Frankreich nicht persönlich Theil nahm, so bedrängt, daß er der römischen Kirche sieben Burgen, als Pfand seines künftigen Gehorsams, abtratInnoc. epist. XII, 346.  Concil. XIII, 794. und versprach: er wolle alle Geistlichen und Kirchen entschädigen, die heiligen Tage ehren, sich nie in die Bischofswahlen mischen, keinen Juden zu einem Amte lassen, alle Ketzer seines Gebietes in die Willkür der Kreuzfahrer geben und die sonst irgendwo vorhandenen mit deren Hülfe ernstlich verfolgen.

Nachdem der Graf dieses und ähnliches in Toulouse, vor dem päpstlichen Gesandten Milo und den versammelten Bischöfen, auf Christi Leib und heilige Reliquien beschworen hatte, ließ ihm jener eine Schnur um den Hals legen, an welcher er ihn führte und bis zur Kirche geißelte. {1209} Aber ungeachtet all dieser Demüthigungen, gewann Raimund das Zutraun seiner Gegner nicht; und eben so täuschte ihn die Hoffnung, er werde durch Annahme des Kreuzes Schonung oder mildere Behandlung seiner Unterthanen und ehemaligen Freunde bewirken, oder durch seine persönliche Geißelstellung den Krieg unterbrechen. Die Kreuzfahrer zogen vielmehr wider Beziers; unter ihnen der Erzbischof von Sens, die Bischöfe von Clermont und Nevers, der Herzog von Burgund, der Graf von S. Paul, mehre TemplerHist. des Templiers I, 262. und Johanniter. Bei der Erstürmung jener Stadt, am 21sten Julius 1209, wurden 7000 Menschen in der Magdalenenkirche verbrannt und an 20,000, ohne 294 {1209} Unterschied des Alters und Geschlechtes, erschlagen. Nach einem Berichte, konnten die Anführer die Wuth der Menge nicht zähmenSimon. chr.  Heisterbach 519.  Vitae Pontif. 481.  Brito Phil. 197.  Alberic. 450.  Innoc. epist. XII, 103, 109, 122, 124, 125, 135, 136, 152; XIII, 1188, 189.Guil. de Podio.  Gallia christ. VI, 878.; nach einem zweiten, fragten mehre Krieger den Cistertienserabt Arnold: »Herr, wie sollen wir verfahren, da wir die Rechtgläubigen nicht von den Ketzern unterscheiden können?« – und er gab zur Antwort: »schlagt nur todt, der Herr kennt und erhält die seinen!« – Dies alles, äußerten andere, sey Fügung des Himmels: denn zweiundvierzig Jahre früher hätten die Einwohner ihren Grafen und Herrn Trinkavel in jener Kirche verrätherisch umgebracht und dem Bischofe, welcher ihn retten wollte, die Zähne ausgeschlagen.

Von Beziers wandten sich die Kreuzfahrer nach Carcassonne; weil man aber harten Widerstand der wohlbefestigten Stadt fürchtete, und die künftigen Besitzer nicht das ganze Land zerstört zu sehn wünschten, so kam es am funfzehnten August 1209 zu einem Vertrage, vermöge dessen die Einwohner, mit Zurücklassung aller Güter, ohne Kleider, in bloßen Hemden abziehen und die Stadt rechtgläubigen Ansiedlern überlassen mußten.

Graf Simon von Montfort, ein tapferer, kluger und thätiger, zugleich aber auch habsüchtiger und grausamer Mann, suchte sich als Anführer der Kreuzfahrer, mit Beistimmung des päpstlichen Bevollmächtigten in den Besitz alles Eroberten zu setzen und den Papst (dem er schon bei der Belagerung von JaderaSiehe oben S. 207. – Malvenda 109.  Histor. Albig. c. 19. Beweise seines Gehorsams gegeben hatte) dadurch zu gewinnen, daß er ihm die Zahlung eines jährlichen Zinses versprachInnoc. ep. ap. Duchesne V, p. 718, No. 14., welchen er leicht von den Albigensern beizutreiben hoffte.

295 {1209} Aus dem allen überzeugte sich Graf Raimund, daß ihm Nachgiebigkeit nichts geholfen habe und es darauf abgesehen sey, ihn ganz aus seinen Rechten und Besitzungen zu verdrängen. Daher nahm er seine Zuflucht zu Innocenz III selbst, welcher ihn anfangs streng empfing, dann aber milde seine Rechtfertigung anhörte, und befahl: er solle in den Besitz seiner Güter gesetzt werden, sobald er sich von dem Verdachte der Ketzerei und der Theilnahme am Morde Peters von Chateauneuf reinige. – {1210} Diese gemäßigte Entscheidung mißfiel dem Grafen Simon und den päpstlichen Bevollmächtigten; da ihnen indeß die Untersuchung über des Grafen Schuld zustand, so hatten sie es noch immer in ihren Händen, ihn hiebei hart zu behandeln. Auf einer Versammlung in Narbonne schrieben sie ihm folgende Bedingungen vor: »er legt die Waffen nieder, entläßt seine Kriegsgenossen und entschädigt die Kirche. In seinen Besitzungen dürfen nur zwei Arten Fleisch gegessen werden, und zum Zeichen der reuigen Gesinnung tragen die Einwohner künftig schwarze, schlechte Kleider. Der Graf vertreibt alle Ketzer aus seinem Lande, liefert jeden aus, welchen der päpstliche Gesandte verlangt, und schleift alle Burgen. Die Edeln dürfen nicht in Städten und Burgen, sie sollen wie Bauern auf dem Lande leben. Jeder Familienvater zahlt dem Gesandten jährlich vier Denare. Graf Raimund pilgert nach Jerusalem, und kommt erst wieder, wenn man es erlaubt; und alsdann werden ihm der Gesandte und der Graf von Montfort seine Besitzungen wiedergeben, – sofern es ihnen gefälltquand ly plaira!  Catel 262.  Raynald §. 14.

Als der Graf diese Bedingungen hörte, fing er vor Zorn und Jammer bitterlich an zu weinen, bewirkte aber keine Milderung derselben. Er legte sie daher seinen Unterthanen vor, und alle waren einstimmig der Meinung: »es sey besser sich aufs äußerste zu vertheidigen, als diesen ungerechten und grausamen Feinden in die Hände zu 296 {1211} fallen.« Hierauf wurde der Graf von neuem gebanntInnoc. epist. XIV, 36-38.  Histor. Albig. 21, 37., und der Krieg mit so abscheulicher Grausamkeit weiter geführt, daß man die Albigenser sogar dann verbrannte, wenn sie bereit waren ihre Irrthümer abzuschwören. Vielleicht, so sprach man, thäten sie dies nur aus Furcht, und immer könnte ihnen das irdische Feuer statt des Fegefeuers dienen! Viele sprangen aber freiwillig in die Flammen, um ihren Eifer zu bekräftigen und die Märtyrerkrone zu erlangen. – Natürlich fehlte es bei so frevelhaften, unchristlichen Maaßregeln der Kreuzfahrer auch nicht an grausamer VergeltungAlberic. 485.  Malvenda 113.  Guil. de Podio 23., und Gesetze, welche der Graf von Montfort im November 1212 erließ, führten so wenig zur Herstellung der kirchlichen und weltlichen Ordnung, als erneute, gleich unbillige Verhandlungen zu einer Aussöhnung. Nur der Papst hatte nicht alle Besonnenheit und Mäßigung verloren, sondern schrieb dem Grafen von Montfort und seinem Gesandten dem ehemaligen Cistertienserabt Arnold, jetzigem Erzbischof von NarbonneCatel 256.  Innoc. epist. XII, 152; XIV, 213-215.  Duchesne V, 732.  Gallia christ. Iv, 990; VI, 61.: »ob man gleich das faule Fleisch wegschneiden soll, damit das gesunde unangesteckt bleibe; so muß doch der Heilende dabei vorsichtig und bedächtig verfahren, damit er jenes nicht zugleich verletze. Deshalb ist Graf Raimund allerdings verpflichtet sich von dem Verdachte des Mordes und der Ketzerei zu reinigen, sobald ein genügender Ankläger auftritt: wie wir aber, ehe er gehört und verurtheilt ist, ihm und seinen Kindern (so wie ihr verlangt) sein Land abnehmen und einem andern geben dürften, können wir nicht begreifen. Und dies um so weniger, weil dadurch der Schein entstehen würde, als hätten wir uns nur aus Hinterlist jene sieben Schlösser einräumen lassen, als wollten wir, auf 297 {1212} unschickliche Weise, die Kirche mit fremdem Gute bereichernNon decet ecclesiam aliena jactura ditari.  Notices et extr. VI, 199-201.  Innoc. ep. XII, 152.. 1212. Man soll sich aber, wie der Apostel befiehlt, nicht bloß vom Bösen, sondern auch von allem Scheine des Bösen frei halten. Verfahrt also, mit Beiseitsetzung von Haß und Furcht, von Vorliebe, Gunst und Eigennutz; gebet die widerrechtlich den Katholiken und dem Könige von Aragonien abgenommenen Länder, deren Huldigung ihr nicht verlangen könnt, sogleich zurück; damit der Friede in diesen Gegenden baldigst hergestellt, und der Krieg gegen die in Spanien übermächtig vordringenden Saracenen geführt werden könne.«

Diesen und ähnlichen Vorschriften zufolge, ward, anderer Verhandlungen nicht zu gedenken, im Jahre 1213 eine Versammlung in Lavaux gehalten, wo der König Peter von Aragonien verlangte: »man möge seinen Schwager den Grafen von Toulouse, und dessen Verwandte, Freunde und Lehnsträger, die Grafen von Cominges, Foix und Bearn, gegen Kirchenbuße, Ersatz des von ihnen angerichteten Schadens, und nöthigenfalls gegen Übernahme eines Kreuzzuges, vom Banne lösen und in ihre Besitzungen wieder einsetzen.« – Auf diese billigen Vorschläge antwortete die Kirchenversammlung: »durch das Verwerfen früherer Anerbietungen, durch neues Beschützen von Ketzern und Verfolgen von Geistlichen, durch Schandthaten aller Art und wiederholte Eidbrüchigkeit wären jene unwürdig geworden Bedingungen vorzuschlagen, oder auf einen bloßen, unsichern Eid hergestellt zu werden.« – Der König verlangte itzt die Aufhebung des Bannes, wenigstens für den unschuldigen Sohn des Grafen Raimund, und erklärte, dieser sey bereit nach den Befehlen der Kirche einen Kreuzzug anzutreten; erhielt aber von dem päpstlichen Gesandten die Antwort: Innocenz habe sich diese letzte Entscheidung selbst vorbehalten.

298 {1213} Dem Papste erschienen nämlich, einerseits, die erneuten Darstellungen des Königs billig, und ungern wollte er gegen die Wünsche eines Fürsten vorschreiten, der sich gegen ihn so gehorsam bewiesen und durch große Siege über die Ungläubigen in Spanien, um die Christenheit sehr verdient gemacht hatte; andererseits, suchten die bedrängten Albigenser in diesem Augenblicke Hülfe bei dem mit Innocenz zerfallenen Kaiser OttoGuil. de Podio 13., und die gebotene Vertreibung oder Bekehrung aller Ketzer hatte keineswegs statt gefunden. Dies Gebot war aber nicht allein grausam, sondern es war auch thöricht, daß ein Fürst seine Unterthanen verjagen sollte; ja es war durchaus unmöglich. – Bei diesen Umständen befahl der Papst, ohne Rücksicht auf die einseitigen und gehässigen Berichte der Geistlichen und des Grafen von MontfortInnoc. epist. XVI, 39-48, 172.  Guil. de Podio 18.  Hist. Albig. 66-68.: man solle unverzüglich einen Waffenstillstand abschließen und mit Umsicht für die Herstellung des allgemeinen Friedens wirken; aber Haß, Hoffnung und Eigennutz wirkten so lebhaft fort, daß diese milderen Befehle nicht zur Ausführung kamen.

Deshalb sammelte der König von Aragonien, im September 1213 eine große Macht und umlagerte Muret an der Garonne, drei Meilen von Toulouse, in der gewissen Hoffnung, die weit geringere Macht Simons von Montfort zu besiegen. Aber dessen Tapferkeit und die feige Flucht einiger Grafen brachte Verwirrung in das aragonische Heer; der König selbst ward (als sehr viele nach einer genommenen Abrede auf ihn einstürmten) getödtetRicard. monach. 59.  Medardi chronic.  Histor. Albig. 71-73.  Die Waverl. annal. sagen: der König sey gefangen worden, dann aber, auf die Äußerung der Predigermönche, daß solch ein Abtrünniger nicht zu leben verdiene, niedergehauen worden. Die Schlacht fällt auf den 13ten September 1213. Nach Guil. Nang. zu 1213, Rigord. 56, Brito Phil. 197, verloren die Besiegten 17,000 Mann, die Sieger nur acht Mann. Nach den Vit. Pontif. 482 hatte Simon etwa 1000 Mann gegen 100,000! Notices VII, 8., und seinen Feinden blieb der vollständigste Sieg.

299 {1213} Hiemit waren die Fehden in diesen Gegenden allerdings noch nicht beendet, wohl aber für den Augenblick die Überlegenheit der Katholiken so entschieden, daß Graf Raimund nur hoffen durfte, im Wege der Bitte noch etwas von Innocenz zu erhalten.

Dessen Macht stand jetzo im allerhöchsten Glanze: über alle Gegner hatte er obgesiegt, und die gesammte Christenheit gehorchte ihm wie noch keinem Papste. In diesen Verhältnissen berief er, dem Beispiele seiner Vorgänger folgend, eine allgemeine Kirchenversammlung zum ersten November 1215Ladung vom 19ten April 1213. Innoc. ep. XVI, 30.  Chron. fossae novae 893., mit der Weisung: daß in jedem Sprengel vorher genau untersucht werde, was eine allgemeine Berathung erfordere, und jeder Abgeordnete sich gründlich von dem unterrichte, was etwa zur Sprache kommen dürfte. Nur zwei Bischöfe sollten in einem erzbischöflichen Sprengel zur Verrichtung unaufschieblicher Angelegenheiten zurückbleiben; die andern aber persönlich in Rom erscheinen, oder, im Fall erheblicher Gründe des Außenbleibens, einen Stellvertreter schicken. Ähnliche Ladungen ergingen an die Kapitel, Äbte, Klöster, Mönchsorden; und allen Abgeordneten wurde Sparsamkeit auf der Reise zur Pflicht gemacht. Endlich, forderte Innocenz auch die Könige und Fürsten auf, sie möchten Bevollmächtigte zu jener erhabenen Versammlung absenden. Dem gemäß erschienen die Gesandten des römischen und byzantinischen Kaisers, der Könige von Sicilien, Frankreich, England, Ungern, Jerusalem, Cypern und Aragonien; es erschienen die Patriarchen von Jerusalem und Antiochien, und Bevollmächtigte für die 300 {1215} Patriarchen von Konstantinopel und AlexandrienVitae Pontif. 435.  Alber.  Chron. mont. sereni zu 1215.. Es waren gegenwärtig 71 Erzbischöfe, 412 Bischöfe, mehr als 800 Äbte; vieler Abgeordneten von Fürsten und von Städten nicht zu gedenken. Niemals hatte im Abendlande eine so zahlreiche Kirchenversammlung statt gefunden; auch entstand am elften November, beim Einzug in den Lateran, ein solches Gedränge, daß der Erzbischof Matthäus von Amalfi erdrückt wurdeAmalf. chron. zu 1215.  Chron. Archiep. Amalf. 169..

Der Papst eröffnete die Kirchenversammlung mit einer RedeConc. coll. XIII, 131., welche sich, nach damaliger Weise, in Allegorien und biblischen Sprüchen lang hin spann. Mit Weglassung solcher theologischen und Schrift-Gelehrsamkeit, heben wir aus derselben nur folgendes aus. »Mich hat, so sprach er, herzlich verlangt, das Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich scheide. – Weil Christus mein Leben und sterben mir Gewinn ist, so weigere ich mich keineswegs, den Kelch des letzten Leidens, wenn er mir dargereicht wird, auszutrinken für die Erhaltung des ächten Glaubens, für die Vertheidigung des heiligen Landes, oder für die Freiheit der Kirche; – und ob ich gleich wünsche auf Erden zu bleiben, bis das angefangene Werk beendet sey, so geschehe doch nicht mein, sondern Gottes Wille.«

»Zahlreich und mannigfaltig sind die Wünsche und Bestrebungen der Menschen; wer ist im Stande sie aufzuzählen? Doch lassen sie sich auf zweifaches zurückbringen: auf geistliche Wünsche von ewigen und himmlischen Dingen, und auf fleischliche von zeitlichen und weltlichen Dingen. Jene lobet die Schrift, von diesen aber sagt der Apostel: fliehet die Lüste des Fleisches, welche wider die Seele streiten. Ich aber rufe das Zeugniß dessen an, der ein wahrhafter Zeuge im Himmel ist: daß ich nicht aus fleischlichen, sondern geistlichen Gründen jenes Osterlamm mit euch zu essen 301 {1215} wünsche; nicht um irdischen Wohlseyns oder weltlichen Ruhmes willen, sondern um der Reinigung und Errettung der ganzen Kirche und um der Errettung des heiligen Landes willen« u. s. w. Nachdem Innocenz über die Lage des heiligen Landes und die zunächst den Geistlichen obliegende Pflicht es zu unterstützen, gesprochen hatte, fuhr er, in Beziehung auf die Nothwendigkeit einer allgemeinen Kirchenverbesserung, fort: »alle Verderbniß im Volke geht zunächst und vorzugsweise von den Geistlichen aus: denn wenn der geweihte Priester sündigt, so verleitet er auch das Volk zur SündeDies steht keineswegs im Widerspruch mit dem Satze: daß der sündige Priester das Sakrament nicht verunreinige oder unwirksam mache.; und wenn jener nicht Vorbild der Tugend, sondern Vorgänger in Lüsten ist, so wird auch das Volk zu Ungerechtigkeiten und Schandthaten fortgerissen. Daher entschuldigen sich die Laien, sobald man ihnen über ihren Wandel Vorwürfe macht, und sprechen: soll der Sohn nicht thun, was er den Vater thun sieht? oder genügt es nicht, wenn der Schüler dem Lehrer gleich ist? Daher geht der wahre Glaube zu Grunde, die Religion wird entstellt, die Freiheit zerstört, die Gerechtigkeit mit Füßen getreten; daher wachsen die Ketzer empor, daher wüthen die Ungetreuen, daher siegen die Ungläubigen.«

Aus den siebenzig Beschlüssen, welche die Kirchenversammlung faßte, geht zunächst zweifaches hervor:

erstens, daß man, wie gesagt, die Aufrechthaltung eines christlichen Glaubens und einer christlichen Kirche für schlechthin nothwendig hielt;

zweitens, daß Innocenz weit entfernt von dem Irrthume seiner Nachfolger war, welche sich nicht mit der höchsten Gewalt begnügten, sondern auch alle untergeordneten, nothwendigen Kreise und Abstufungen in sich vereinigen wollten, die Wirksamkeit der Erzbischöfe, Bischöfe und Priester irrig störten, und eine unhaltbare Tyrannei, 302 {1215} an die Stelle der so reichen, wohlgegliederten und geordneten Kirchenverfassung zu errichten strebten.

Der Inhalt vieler, nach diesen Gesichtspunkten erlassenen Vorschriften (z. B. über die kirchlichen Gebräuche, die schnelle Wiederbesetzung erledigter Pfründen, die Abhaltung zweckmäßiger Wahlen u. s. w.) wird besser in den kirchlichen Alterthümern mitgetheilt; das Folgende hingegen scheint hier eine Ausnahme zu verdienen.

Die Erzbischöfe halten jährlich, mit ihren Bischöfen, Kirchenversammlungen und stellen alle Mißbräuche ab. Damit sie aber von den Umständen und Bedürfnissen näher und gründlicher unterrichtet werden, ernennen sie für jeden Sprengel tüchtige und geschickte Personen, welche ihnen hierüber Bericht erstatten. Insbesondere wachen die höhern Geistlichen streng über Sitten und Wandel aller niedern Geistlichen, und bestrafen jedes Vergehen ohne Nachsicht. Die Bischöfe sorgen dafür, daß es keiner Gemeinde an einem tüchtigen Prediger und Beichtiger fehle. – Bei jeder Stiftskirche, so wie bei jeder Kirche deren Vermögen es irgend erlaubt, wird ein Lehrer angestellt, welcher die jüngern Geistlichen in der Grammatik und in allen andern nothwendigen Wissenschaften unterrichtet. Um Verwirrungen zu vermeiden, soll kein neuer Mönchsorden gestiftet werdenVon den Bettelmönchen, deren Entstehung in diese Zeit fällt, wird besser im folgenden Buche gesprochen., sondern jede neue Anstalt sich einer bestehenden Regel anschließen.

Es wurde verboten, daß jemand mehre Pfründen gleichzeitig, zum Nachtheil der Gemeinde besitze, daß ein Unwissender die Weihe erhalte, ein weltlicher Herr die Einnahme der Pfarreien verkürze, ein geistlicher Oberer durch ungebührliche Forderungen und Einlagerungen die Untergebenen belästige, ein Beklagter sich ohne hinreichenden Grund vom niedern Richter auf den höhern berufe, oder jenen gar vorbeigehe. – Man verzeichnete genau die Ursachen, 303 {1215} weshalb ein Prälat den Bann aussprechen dürfe, und bedrohte jeden widerrechtlich oder eigennützig Bannenden mit harten Strafen. Eben so ward unzeitiger, übertriebener Sündenerlaß, welcher die Achtung gegen die Kirche untergrabe und ihre gesetzlichen Bedingungen nicht berücksichtige, nachdrücklich untersagt.

Niemand sollte in Zukunft, des so häufig obwaltenden Betruges wegen, Reliquien ohne Prüfung und päpstliche Erlaubniß ausstellen. – Die Almosensammler wies man an, sich bescheiden zu betragen und nicht in Wirthshäusern ein unanständiges Leben zu führen. – Für die Zukunft verloren alle Gesetze ihre Kraft, welche Ehen über den vierten Grad der Verwandtschaft hinaus untersagten. – Die Juden sollten sich durch eine eigene Kleidung von den Christen absondern, nirgends öffentliche Ämter verwalten, und für wucherliches Zinsnehmen Strafe leiden.

Für die Befreiung des heiligen Landes ergingen mehre Bestimmungen. Dem Grafen Raimund von Toulouse verblieben, obgleich sich der Papst zu mildern Ansichten hinneigte, nach dem Verlangen fast aller versammelten VäterUniversum fere concilium reclamabat! Alberic. 491., nur diejenigen Besitzungen, welche in der Provence lagen; alles übrige erhielt der Graf von Montfort.

Diese Beispiele werden hinreichen um zu beweisen: daß der Papst und die Kirchenversammlung ihre Aufmerksamkeit nach jeder Seite richteten, und die meisten ihrer Beschlüsse für zweckmäßig zur Abstellung damaliger Übelstände gelten konnten. Wenn aber keineswegs alles Beschlossene zur Ausführung kam, und selbst ein so großer Papst wie Innocenz außer Stande war die Leidenschaften seiner Untergebenen zu zügeln, oder alle Täuschungen derselben zu durchschauen; so geht daraus hervor, daß keine Form der Kirchenherrschaft alle irdischen Mängel vertilgen kann, und das Wesentliche des Christenthums in keiner allein und ausschließlich beruht.

304 {1215} Auch die deutschen Angelegenheiten kamen auf der Kirchenversammlung zur Sprache, indem Kaiser Otto seine Rechte durch einen Abgeordneten und durch die Mailänder vertheidigen ließ. Er fand aber kein Gehör, weil er den der römischen Kirche geleisteten Eid gebrochen habe, noch immer im Banne sey, gebannte Bischöfe beschütze, ein Kloster zerstört und in eine Burg verwandelt, einen päpstlichen Gesandten gefangen genommenGodofr. monach. zu 1214.  Richard S. Germ. 989. und Friedrich II einen Pfaffenkönig gescholten habe. Nochmals wurde dieser bestätigt, und hiedurch nochmals dem Papste mittelbar das Recht eingeräumt, über Streitigkeiten solcher Art in höchster Stelle zu entscheiden. Auch hatte Innocenz bis jetzt keinen Grund, Friedrichs Erhebung zu bereuen. Schon am zwölften Julius 1213 schrieb dieser von Eger ausLünig Spic. eccles. Th. XV, Urk. 79.  Ried cod. I, Urk. 331.  Baron. de monarch. Sicil. 329.  Würdtw. subsid. II, 118.: »durch die Sorgfalt des Papstes, seines größten Wohlthäters, sey er beschützt, erhalten und auf den Thron erhoben worden; wofür er ihm und seinen Nachfolgern mit demüthigem Herzen und frommem Gemüthe Ehrfurcht und Gehorsam, nach Weise seiner Vorfahren verspreche. Er verlange nichts als was des Kaisers sey, bestätige die Rechte der Kirche, und gedenke sie eher zu mehren, als zu mindern. Dem gemäß verstatte er den Geistlichen freie Wahlen und freie Berufung nach Rom, entsage ihren Erbschaften und verspreche für Ausrottung der Ketzer zu sorgen. Desgleichen lasse er der römischen Kirche alle Besitzungen von Radikofani bis Ceperano, die Mark Ankona, das Herzogthum Spoleto, die Grafschaft Bertinoro, das Exarchat von Ravenna und die Länder der Markgräfinn Mathilde. Er werde ferner das sicilische Reich, Korsika und Sardinien, und alle ihr sonst zuständigen Rechte und Besitzungen, wieder erwerben oder vertheidigen helfen.«

Ferner stellte Friedrich am ersten Julius 1215 in 305 {1215} Straßburg eine Urkunde ausRegesta Honor. I, 146.  Martene coll. ampliss. II, 1242.  Tedeschi 334. Daß dieser Vertrag wirklich geschlossen wurde, geht nicht nur aus der Urkunde im vatikanischen Archive, sondern auch aus dem spätern Briefwechsel Honorius III mit Friedrich II unwidersprechlich hervor., des Inhalts: »um sowohl für die römische Kirche, als für das sicilische Reich gebührend zu sorgen, beschließen, bewilligen und versprechen wir, gleich nach Empfang der Kaiserkrone unsern Sohn Heinrich, den wir nach eurem Auftrage in Palermo zum Könige krönen ließen, aus der väterlichen Gewalt zu entlassen und ihm das ganze sicilische Reich völlig und unter der Bedingung abzutreten, wie wir es von der römischen Kirche inne haben. Wir werden uns von der Zeit an nicht mehr König von Sicilien nennen, noch als solchen benehmen; sondern dies Reich, nach eurem Wohlbefinden, bis zur Großjährigkeit unseres Sohnes, in dessen Namen durch eine tüchtige Person verwalten lassen, welche in Hinsicht aller Rechte und Leistungen, der römischen Kirche verantwortlich ist. Dies geschieht, damit der Umstand daß wir durch göttliche Fügung zum Kaiserthume berufen sind, auf keine Weise die Meinung erzeuge, als wäre jenes Reich mit dem Kaiserthume irgend verbunden, woraus sowohl für den apostolischen Stuhl, als für unsere Erben, leicht ein Unglück entstehen könnte.«

Durch dies Versprechen Friedrichs schienen alle Gefahren beseitigt, welche aus seiner Erhebung für die Kirche hervorzugehn drohten; und durch sein Gelübde eines Kreuzzuges auch diejenigen Wünsche des Papstes ihrer Erfüllung nahe, welche, nach dem Gelingen fast alles Bezweckten, allein noch übrig, aber desto lebhafter und ernstlicher waren. Nichts durfte das christliche Abendland für unmöglich halten, wenn Männer, wie Innocenz III und Friedrich II an der Spitze aller geistlichen und weltlichen Angelegenheiten, in Einigkeit und Freundschaft wirkten.

306 {1215} Um die Genueser, Pisaner und Lombarden auszusöhnen, deren Fehden den bevorstehenden Kreuzzug äußerst hindern mußten, wollte Innocenz persönlich jene Städte und Landschaften besuchenSimon Montf. chr. zu 1216.  Chron. Udalr. August.  Martin. Fuld. 1699.  Ghirard. I, 118.. In Perugia aber ergriff ihn unerwartet ein dreitägiges, schnell überhand nehmendes Fieber, woran er am 16ten Julius 1216 im fünfundfunfzigsten Jahre seines Alters starbRegesta Honor. III, Jahr 1. Urk. 1.  Waverl. annal.  Math. Paris 206.  Rich. S. Germ. 989.  Estense chron. 303.  Monach. Patav. 670. Nach Guil. Armor. 89 hielt Innocenz nicht Diät, sondern aß zu viel in der Krankheit. – Der heiligen Lutgarde ward offenbart, er sitze aus drei Gründen im Fegefeuer, welche Malvenda 49 aus Achtung verschweigt.. Er ward in der Kirche des heiligen Laurentius begraben; allein schon im siebzehnten Jahrhunderte war keine Spur seines Grabmahles mehr vorhanden: denn bei einer Herstellung jener Kirche warf man seine Gebeine, gleich denen Urbans IV und Martins IV in eine eiserne TruhePellini I, 235.  Aca Sanct. Mai. Propyl.  Chronol. hist. 34.; und jetzt ist selbst jede Spur einer Erinnerung an den Papst verschwunden, welcher, wo nicht der größte unter allen war, doch keinem nachsteht.

Am 16ten August erwählten die Kardinäle den Kardinal Kämmerer Cencius von Sabellis zum Papst, welcher sich den Namen Honorius der dritte beilegteI Cittadini di Perugia costringero ad eleggere Onorio.  Bonon. hist. misc.  Bullar. magn. Rom. I, 65.  Ursperg. cht. 333.. Es war eine sehr schwere Aufgabe, der Nachfolger Innocenz des dritten zu seyn; und gleich schwer, Honorius mochte nun auf dessen Bahn unveränderlich fortgehn, oder seiner eigenen Natur folgend, davon abweichen. Der, alle Hindernisse kühn angreifende, siegreich bezwingende, über alles niedere Treiben sich erhebende, oder hinausgerückte 307 {1216} Herrschergeist Innocenz des dritten, war nicht in Honorius: vielmehr bezeichnet dieser selbst den christlichen Mittelpunkt seines Wesens, wahrhaft und aufrichtig, mit den Worten: »ich will lieber in Milde verfahren, als mit StrengeVolo procedere mansuetudine potius, quam rigore.  Regesta Honor. Jahr IX, 16, 25, 338; und Jahr I, 30, 33, 44, 61, 76..« – Er entwickelt in seinen Briefen die wechselseitigen Ansichten und Gründe minder umständlich, als Innocenz III; es mangelt der juristische Scharfsinn und die an jeder Stelle durchblickende Überlegenheit des höchsten Richters auf Erden: – dagegen zeigt sich Honorius (wo es, ohne seinem hohen Berufe etwas zu vergeben, irgend möglich ist) väterlich rathend, zur Versöhnung hinlenkend, nachgebend und von der Strenge des Gesetzes entbindend.

In diesem Sinne, verlangte Honorius, sollten auch die weltlichen Fürsten ihre Unterthanen beherrschen, – und so schienen die friedlichsten und freundlichsten Verhältnisse zwischen der geistlichen und weltlichen Macht bevorzustehn; wenn anders die letzte der irrigen Hoffnung entsagte: ein persönlich milder und in allem Erlaubten nachgiebiger Papst könne oder werde auch die Hauptstützen des Papstthumes sorglos untergraben lassen.

 


 


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