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Siebzehntes Kapitel.

Vielleicht wäre ich noch länger in Essex geblieben, wenn ich nicht von einer bedeutenden Firma von Sachwaltern und Parlaments-Agenten benachrichtigt worden wäre, daß Sir Joseph Chivery, seit vierzig Jahren Vertreter der politisch gänzlich farblosen Wählerschaft von Pullborough, plötzlich gestorben sei infolge eines Schlaganfalles, den er sich durch ein außergewöhnlich herzhaftes Frühstück von Kabeljau und fetten gerösteten Nieren zugezogen hatte. Pullborough brauchte einen Vertreter, dessen politische Meinung, mochte sie sein, welche sie wollte, sich mit der seiner Wähler deckte, und diese Wähler waren bereit, sich von heute auf morgen überzeugen zu lassen, daß gerade ich der Mann sei, den sie als das Ideal eines Abgeordneten immer gesucht hatten.

Wenn die Dinge so glatt und gerade liegen, wie in diesem Fall, so vereinfacht sich die Sache wesentlich. Ich fuhr nach Pullborough, besuchte die Magnaten des Ortes, die mir die Ehre erwiesen, im Hauptgasthof mit mir zu speisen, und gewann mir ihre Gunst so, daß ich nach ein paar Wochen, ohne Widerstand zu finden, zum Abgeordneten von Pullborough gewählt und mit der verantwortlichen Pflicht betraut wurde, die Interessen dieser rechtschaffenen und patriotischen Wähler zu vertreten.

Die ganze Sache kostete mich noch nicht einmal vierhundert Pfund, und ich habe es immer recht billig gefunden.

Dann mußte ich in die Stadt zurückkehren, wo ich mich kopfüber in die Arbeit stürzte, denn die Gerichtsferien waren zu Ende, und ich hatte einige sehr schwierige, langweilige und einträgliche Fälle. Da ich mich nachgerade so eingearbeitet hatte, daß mir mein Beruf fast gar keine Mühe mehr machte, so begrüßte ich die Arbeit mit Freuden und machte mich über die Aktenstöße mit einem Eifer her, der das Herz meines ersten Schreibers, eines stattlichen, glattrasierten Herrn mit einer schweren goldenen Kette, einer Repetieruhr und einer schön getriebenen Schnupftabaksdose, mit Wonne erfüllte.

Meine Tage waren derart völlig ausgefüllt, aber ich machte es mir zur festen Regel, nach sieben Uhr abends nichts mehr zu arbeiten, wenigstens nichts, was ich nicht, in meinem Lehnsessel sitzend, in Ruhe erledigen konnte. So war ich also auch in der Lage, so oft ich wollte, auszugehen, und ich muß gestehen, daß sich jetzt auf einmal eine Schwäche fürs Auswärtsessen bei mir entwickelt hatte. Ein Mittagessen in einem wirklich gut eingerichteten Haus ist beinahe immer besser als das allerbeste, das man in dem teuersten Gasthof vorgesetzt bekommt, und wie glänzend auch die Pracht des Tischgerätes und wie strahlend auch die Livree der Bediensteten sein mag, so schwebt doch über allem ein wohlthuender Hauch der Häuslichkeit.

Unter den ersten Einladungen, die ich nach der Rückkehr in die Stadt erhielt, war auch eine von der amerikanischen Gesandtschaft, die ich natürlich annahm, und auf diese Weise geschah es, daß ich mit Miß Elizabeth Maria Jemima Rock, der Tochter von Cyrus Napoleon Washington A. Rock von Rockburg, U. S., zusammentraf und sie zu Tische führte.

Mr. Cyrus Napoleon Washington A. Rock war auf Oel gestoßen, und sein Geschäft bestand nun darin, diese Quelle auszupumpen in Gott weiß wie viel hundert Fässer täglich. Er machte ein hübsches Bargeldgeschäft in diesem köstlichen Erzeugnis der Erde, indem er jede Woche ein rundes Sümmchen einzog und bei dem Bankhaus Lafitte in Paris und der Bank von England anlegte.

Wie reich er eigentlich war, wußte niemand genau, wahrscheinlich er selbst nicht, denn das Oel sprudelte fröhlich fort, und seine Auslagen beschränkten sich lediglich auf Böttcherarbeiten und Transportkosten, oder vielmehr auf den Böttcherlohn allein, da er Fracht und Transport die Abnehmer bezahlen ließ.

Er war durchaus kein gewöhnlicher Mensch, hatte gar nichts Protziges an sich und war auch nicht von dem Gedanken besessen, daß die Vereinigten Staaten der Mittelpunkt des Weltalls seien.

Er war vielmehr ein kluger, hartköpfiger Mann, so ziemlich aus dem nämlichen Holz geschnitzt, wie Brassey und Stephenson und hatte durch sich selbst gar manches gelernt; so war er zum Beispiel ein ausgezeichneter Kenner von Bildern und Porzellan, welche Artikel er in großer Menge erwarb.

Zwar jagte er nicht und beteiligte sich auch nicht an Wettrennen, aber selbst der verschlagenste Yorkshirer hätte ihn bei einem Handel um ein Paar Wagenpferde oder um einen hochtrabenden Hengst nicht übervorteilen können. Er lebte im Gasthof, weil er, wie er offen sagte, eine eigne Haushaltung zu lästig fand, und er fuhr four-in-hand, mit der Gewandtheit eines gelernten Postmeisters. Wie er selbst erklärte, hatte er in seiner Jugend in Kentucky die Post gefahren und zwar auf entsetzlichen Wegen mit eben solchen Pferden. »Sie können sich darauf verlassen, mein Herr, da kann man kutschieren lernen.«

Miß Rock vertrat, wie ich bald herausfand, eine der besten Typen der Amerikanerinnen. Sie hatte alles gelesen: Shakespeare, Herbert Spencer, Zola, Goethe, Prescott und natürlich auch De Tocqueville und war mit der leichteren, modernen Litteratur völlig auf dem Laufenden. Sie hatte ihre eignen Ansichten über die italienische Oper, die höhere Ausbildung des weiblichen Geschlechts, die Fischereifrage in Kanada, die Abstammung des Menschen vom Gorilla, die Forderungen des Vatikans und die neueste Mode.

Trotzdem war sie weder geschwätzig noch auch nur im mindesten ermüdend, denn unter all ihrem Geplauder, wenn es diesen Namen verdiente, lag eine reiche Ader angeborenen und ausgebildeten gesunden Mutterwitzes, in Verbindung mit, bei einem Mädchen seltenen, ganz erträglichen Kenntnissen.

Es wird mir kaum gelingen, ihr mit meiner Beschreibung gerecht zu werden. Sie war sehr kostbar, aber durchaus nicht übertrieben gekleidet, ihr einziger Schmuck war aus schlichtem Gold. Ich glaube, sie trug das, was Damen weißen Tüll nennen, mit Zweigen von lebenden Gloires de Dijon verziert, doch will ich mein Gedächtnis für derartige Einzelheiten nicht verantwortlich machen.

Weder ihr Gesicht noch ihre Gestalt zeigten jene übergroße, beinahe an Schwächlichkeit grenzende Zartheit, die unter ihren Landsmänninnen so verbreitet ist; sie war im Gegenteil frisch und gesund, ohne indessen herausfordernd kräftig oder derb zu sein.

Wir unterhielten uns zuerst über alle denkbaren Dinge, dann brachte sie das Gespräch auf England, und ich mußte einen Schwall von Fragen über mich ergehen lassen.

»Natürlich habe ich meinen Murray und Bädeker gelesen, Mr. Severn, und Papa hat ganze Stöße von Photographien und »Führern« kommen lassen, aber ich will Ihnen sagen, was ich sehen möchte.«

»Und was wäre dies?« fragte ich neugierig.

»Nun natürlich habe ich den Tower gesehen und Windsor und die Westminsterabtei, die St. Pauls-Kirche und die Docks und das britische Museum. Aber ich möchte, daß mir jemand einen Führer verschaffen würde, der mich durch ganz London begleiten und mir all die alten Plätze aus Dickens zeigen könnte: den alten Raritätenladen, Mr. Pickwicks Wohnung in Goswell Street, das Gefängnis in Newgate und die Opiumbude in Ratcliffe Highway, und Saffron Hill, wo Fagin seine Diebesherberge und -akademie hatte. Es muß doch Führer geben, die dies können?«

Ich mußte ihr zu ihrem großen Erstaunen mitteilen, daß London gar keine berufsmäßigen Fremdenführer besitzt.

»Oh, das thut nichts! Dann müssen wir eben durch die Times einen suchen, da wird sich schon einer finden. Und Papa läßt mich immer meinen Willen haben, und deshalb gehen wir auch nach Kenilworth und Tintern und Harlech und Furneß, und natürlich auch nach Killiecrankie. Ich will England ganz genau kennen lernen, ehe ich wieder über den alten Heringsteich zurückfahre.«

Es war unmöglich, ihrer guten Laune zu widersprechen. Ich stimmte mit ihr darin überein, daß sie ein gut Stück Arbeit vor sich habe, gab aber auch der Meinung Ausdruck, die Aufgabe lasse sich vielleicht in kürzerer Zeit ausführen, als sie jetzt glaube.

Als sich die Damen zurückgezogen hatten, beteiligte ich mich nur wenig an der allgemeinen Unterhaltung, sondern zog es vor, Mr. Rock zuzuhören, der sich in der Art seiner Landsleute mit einiger Breite über allgemeine Gegenstände ausließ. Dann begaben wir uns zu den Damen, und ich verabschiedete mich kurz darauf, doch nicht, ohne Miß Rock gebeten zu haben, sie möchte sich noch drei Wochen bis zum Schluß der Gerichtsverhandlungen gedulden, und mir dann gestatten, ihr und ihrem Vater als Cicerone zu dienen durch jene Teile Londons, die sie so gern sehen wollte. Am nächsten Tage erwarb ich mir dann Dickens' und Thackerays Werke, die ich an den betreffenden Stellen anstrich, mit Eselsohren bezeichnete und ihr dann zuschickte, nebst einem andern Schatz, den ich vor langer Zeit einmal in einer Buchhandlung gesehen hatte – einem großen Folioband von Stichen und Holzschnitten, die, aus allen Teilen der Stadt zusammengetragen und durch einen erklärenden Text verbunden, albumartig aufgezogen worden waren.

Und dann kamen alle die größeren und kleineren Prozesse an die Reihe, die mich bis zum Schluß der Gerichtssitzungen vollauf in Anspruch nahmen.


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