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Erstes Kapitel.

Meine frühesten Erinnerungen knüpfen sich an ein eigenartiges kleines Landhaus in Essex drunten. Es war ein behagliches, mit blauem Schiefer gedecktes Häuschen aus roten Backsteinen, das aussah, als komme es aus einer Nürnberger Spielschachtel, oder als habe es ein Wirbelwind in einer der backsteinernen Vorstädte Londons – sagen wir einmal Langley – aufgehoben und hier niedergesetzt. Hier stand es inmitten von fetten Wiesen, tiefen Tümpeln und hohen Rüstern, wo die Krähen ihre geheimen Beratungen halten und dem Sperber und der Eule ihre Herausforderung entgegenkreischen, während sie selbst auf die benachbarte Wohnung der Waldtaube und das gänzlich unbeschützte Loch des Regenpfeifers ein scharfes Auge haben. Die Natur ist noch immer üppig in Essex, und die Essexer Köpfe sind noch immer nicht sowohl unduldsam gegen neue Ideen, als überhaupt unfähig, einen Gedanken in sich aufzunehmen. Kein Essexer Landmann hat je von etwas gehört, oder spricht je über etwas, oder liest, falls er liest, irgend etwas, das über vierzehn Meilen – was hin und zurück achtundzwanzig ausmacht – über sein eigen Heim hinausreicht. Man heißt Suffolk manchmal das »einfältige Suffolk«, aber die ackerbautreibende Bevölkerung von Essex hat nicht einmal genug Witz, um einfältig zu sein. Sie bildet das Mittelglied zwischen dem Menschen und dem Gorilla, wenn man zuerst den Gorilla all seiner rohen, feindseligen Eigenschaften entkleidet, denn die Essexer Lümmel sind friedlich, in ihrer Art freundlich, ja selbst höflich. Dies ist aber auch alles, was das Christentum für sie gethan hat, obgleich die Essexer Pfründen nicht weniger reich dotiert sind, als alle übrigen in England auch.

Mein Vater war ein Essexer Junker und glich den andern Essexer Gutsbesitzern wie eine Erbse oder eine leere Austernschale der andern. Genaue mikroskopische Untersuchungen könnten vielleicht ganz winzige Verschiedenheiten bei den einzelnen Exemplaren ergeben, allein dies sind Unterschiede, die an Grazianos drei Weizenkörner erinnern, die zwischen drei Scheffel Häcksel versteckt waren: Man kann den lieben, langen Tag danach suchen und sieht, wenn man sie dann endlich gefunden hat, daß sich das Suchen nicht lohnte.

So vegetierte ich in Essex gedankenlos und unbeachtet und wuchs heran wie etwa ein häßliches, kleines Entchen, das schon als Ei nur durch Zufall bis zur Reife erwärmt und ausgebrütet worden war. Und ich muß wirklich ein recht häßliches Entchen gewesen sein, denn ich weiß, daß ich mit mir selbst unzufrieden war, obgleich ich keinen Maßstab zu meiner Beurteilung in mir trug und folglich auch keinen anlegen konnte. Unzufriedenheit mit sich selbst und seiner Lage ist der Anfang und die wesentliche Bedingung alles Wachstums. Die Schnecke ist das einzige lebende Wesen, zu dessen Gunsten die Natur eine unbillige Ausnahme gemacht hat. So wie die Schnecke zunimmt an Gestalt und (vermutlich) an Wohlgefallen bei ihren Mitschnecken, so wächst auch ihre Behausung ohne ihr Zuthun mit ihr. Der Erbauer des Weltalls ist gegen die Schnecken entschieden gütiger gewesen als gegen die Menschen.

Immerhin genoß ich eine gewisse Erziehung, für die ich heute noch geziemend dankbar bin. Ich will ihre Art und Methode beschreiben.

Ich wurde dem Vikar des Kirchspiels überantwortet; er wollte mich » Propria quae maribus« auswendig lernen lassen, welcher Absicht ich offnen Widerstand entgegensetzte. Endlich fanden wir eine via media in Martyns Georgika, von denen ich ein Exemplar unter seinen Büchern aufstöberte. Dann machten wir uns über eine Naturgeschichte, und der Vikar war erstaunt, zu finden, daß der Verfasser kein Naturalist, sondern ein Mitglied der Universität Oxford und ein klassisch gebildeter Gelehrter war. So begegneten sich Lehrer und Schüler auf gleichem Fuß und trafen ein entsprechendes Uebereinkommen. Er sollte mich die toten Sprachen lehren, Griechisch und Lateinisch, und ich sollte ihm dagegen alles mitteilen, was ich von der Weidmannskunst verstand. Jeder sollte als Schüler folgsam, als Lehrer aber strenge sein; wir hielten an diesem Vertrag fest, und weil wir ihn so ehrlich durchzuführen suchten, bewährte er sich auch. Noch ehe wir uns voneinander trennten, konnte ich lateinisch, wo nicht griechisch, lesen, ja sogar sprechen. Wir eigneten uns nämlich die Regel der Jesuiten an und sprachen lateinisch, um uns zu üben. Statt mich zu fragen: »Wieviel Uhr ist es?« sagte er: » Quota hora?« Ich hätte antworten mögen: »Zeit zum Baden«, und entgegnete: » Natandum est.« So kamen wir miteinander aus.

Alles, was ich in dieser Zeit von meinem Vater wußte, ist, daß er sich beständig in Geldverlegenheiten befand, was ich indessen nicht sage, um ihm einen Vorwurf daraus zu machen. Er war finanziell nicht besser und nicht schlimmer daran als die meisten Essexer Grundbesitzer, die fast alle gleich unvermögend und zahlungsunfähig waren – man kann aus seinem Boden eben nicht mehr herausschlagen, als er trägt. Wenn ein Kamel überbürdet ist, bleibt es auf seinen Füßen hocken und ist nicht vom Fleck zu bringen; es rührt sich nicht, und wenn man es totschlägt. Das Kamel hat schon unter Abraham, dem Vater des auserwählten Volkes, gedient und ist infolgedessen das einzige Tier, das mit dem Menschen fertig zu werden weiß.

Mein älterer Bruder lebte kaum mehr als Erinnerung in der Familie, er hatte etwas zu Schreckliches gethan, als daß man seiner auch nur noch hätte gedenken können, und so war sein Name aus dem Gedächtnis der Familie ausgetilgt worden, soweit dies durch häusliche Formalitäten geschehen kann. Da ich später nicht mehr von ihm zu reden habe, will ich lieber gleich sagen, was aus ihm geworden ist. Er trat in den Dienst der peruanischen Regierung und wurde Marineminister. Das jugendliche Vergehen, wodurch er nach meines Vaters Meinung für immer zu jeder nützlichen oder ehrenhaften Arbeit im Angesicht dieser Erde untauglich geworden, war nicht etwa gewesen, daß er einer Milchmagd den Hof gemacht, sondern daß die Milchmagd ihn geliebt und entführt hatte, wie weiland Omphale den Herkules.

Mein zweiter Bruder war zum Civilingenieur bestimmt und wurde zur Erreichung dieses Zieles in Viktoria Street, Westminster, um mich so auszudrücken, ganz auf den Hund gebracht; wie ich mir habe sagen lassen, ist dies ein Ort, an dem des Tages mehr Guineen durch die Finger gleiten, als anständige Worte gesprochen werden. Bald zeigte er sich genügend ausgebildet und wurde nach Neuseeland geschickt, wo er, wie ich glaube, der genossenen Schulung alle Ehre macht.

Ich war der dritte Sohn. Mein jüngster Bruder war kaum der Kinderstube entwachsen und noch nicht im stande, sein Morgenbad selbständig zu nehmen.

Um meine Schwestern kümmerte ich mich absolut gar nicht; ich hatte deren zwei, die dreibändige Romane mit unersättlicher Gier verschlangen und in ihrer Kleidung der neuesten Mode folgten, mochte sie sein, wie sie wollte. Ueber alles wußten sie alles und ruhten zufrieden in dieser Allwissenheit. Da sie außerdem Viceregentinnen des Haushalts waren, erfreuten sie sich einer gewissen Autorität, die sie auch trefflich auszuüben verstanden.

Von meiner Mutter habe ich noch nicht gesprochen: ich werde ihrer stets in Liebe gedenken. Sie war die Tochter eines bedeutenden Kronsyndikus gewesen, der viel Geld verdiente und zu der Hoffnung berechtigte, er werde reich sterben, was er denn auch that. Als meine Mutter sich verheiratete, erwies er sich sehr freigebig. Im Notfall zeigte er sich immer bereit, einen Check auszustellen, und als er starb, hinterließ er ihr eine hübsche runde Summe zur lebenslänglichen Nutznießung, die dann zu gleichen Teilen an ihre Kinder fallen sollte.

Mein Vater fand es nicht leicht, Gutsbesitzer zu sein. Der beste seiner Pächter zahlte unpünktlich, andre blieben mit beträchtlichen Summen im Rückstand, und wieder andre zahlten gar nicht. »Was ist da zu machen?« pflegte mein Vater zu sagen. »Wenn man keinen andern Pächter bekommen kann, so thut man am besten, den gegenwärtigen zu behalten. Er ritzt doch die Erdoberfläche ein bißchen auf, rodet das Unkraut aus und hält die Hecken in stand; er ist ein unbezahlter Verwalter, und für das, was sein Pachtgut wert sein mag, hat man wenigstens die Jagd auf demselben.«

Zeitweise wurde die Klemme noch drückender, als sie gewöhnlich war. Fleisch und Gemüse bezogen wir aus unsern eignen Hilfsquellen, aber Kohlen, Materialwaren und Kleider mußten bezahlt werden, und da man eine Rechnung von zwanzig Pfund nicht mit einer Fünfpfundnote ausgleichen kann, so mußte das Einkommen meiner Mutter schon im voraus angegriffen werden, was ein sehr umständliches und kostspieliges Verfahren war, da ihre Vermögensverwalter sich nie damit einverstanden erklären wollten. So plagten wir uns in recht armseliger Weise weiter und lebten von der Hand in den Mund, ohne große Hoffnungen auf die Zukunft zu setzen. Niemand ist so unglücklich wie ein bedürftiger Gutsbesitzer, und niemand so arm wie ein armer Edelmann, der standesgemäß leben muß.

Im Alter von zwanzig Jahren hatte ich meinen vollen Teil an solchen Erlebnissen und Abenteuern gehabt, wie Essex sie eben zu bieten vermag. Ich war auf Messen und Jahrmärkten gewesen, hatte Steeplechase-Rennen mitgeritten, mich in persönliche Verwickelungen mit Wilddieben und Zigeunern gebracht und selbstverständlich bis über die Ohren in die einzige Erbin in der Nachbarschaft verliebt, nicht weil sie eine Erbin war, sondern weil sie zufällig auch ein hübsches Aeußere besaß, welch letztere Ansicht, wie auch die Zuneigung selbst, auf Gegenseitigkeit beruhte.

Dieses Liebesabenteuer war der erste Wendepunkt in meinem Leben. Natürlich schrieben wir uns auch Briefe – etwa zwei am Tage oder, falls wir uns nicht trafen, vier oder auch mehr. Es lag in der Natur der Dinge, daß diese Briefe aufgefangen wurden; sie waren sehr einfältig, aber sehr ernst gemeint. Das Ergebnis ihrer Entdeckung war, daß Isabella Vivian in eine Pension auf der Insel Wight geschafft und ich nach London geschickt wurde, um mich zur Advokatur vorzubereiten.

Zur Advokatur vorbereiten hieß: ich sollte auf dem Büreau eines Advokaten arbeiten, zu dem ich nie ging; ich wohnte in einem Kosthaus in Bayswater und durch mein Billardspiel versorgte ich mich mit Taschengeld; ich stand mit jedem Omnibuskutscher in jener Gegend auf vertrautem Fuß, und ich glaube, ich kann mit gutem Gewissen versichern, daß ich bei keinem Vorstadtrennen gefehlt habe. In dieser Weise suchte ich mir die Fähigkeit zu erwerben, meine Nebenmenschen zu verteidigen, wenn sie auf Tod und Leben angeklagt wurden, und Berufungen in betreff erblicher Titel und unermeßlicher Landgüter vor das Oberhaus zu bringen.

Doch will ich mir andrerseits auch wieder Gerechtigkeit widerfahren lassen. Auf Ehre, ich glaube nicht, daß ich irgend einem Laster fröhnte. Ich trank nicht mehr, als ich vertragen konnte; ich pumpte nie etwas, das ich nicht pünktlich zurückzuzahlen vermochte; ich wettete nie über eine mir zweifellos bekannte Thatsache; ich beschimpfte nie einen Schwächeren und behandelte alle Frauen mit Ehrerbietung. Davon abgesehen war ich ein so fauler Taugenichts wie irgend ein Bummler in der Stadt.


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