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Fünftes Kapitel.

Ich gehorchte ihrem Befehl und »sagte ihr alles«, so gut ich es vermochte. Die Erzählung war etwas unvollkommen, mit Ausnahme der Zahlen, deren ich mich natürlich ganz genau entsann. Als ich zu Ende war, nahm sie meine rechte Hand in ihre linke und streichelte sie sanft mit der andern.

»Haben Sie mir wirklich die ganze Wahrheit gesagt? Haben Sie mit nichts zurückgehalten? Bitte, täuschen Sie mich nicht, sonst werde ich Sie nie mehr bitten, mir zu vertrauen.«

»Auf Ehre, Susan, ich habe Ihnen alles gesagt, bis auf den letzten Heller.«

»Dann ist's gut! Thun Sie aber in dieser unseligen Sache keinen Schritt mehr, ohne es mir vorher zu sagen. Natürlich sind Sie vor der Hand gebunden und insoweit sicher. Ich glaube, Sie werden es leichter finden, ins Netz zu laufen, als wieder herauszukommen, aber wir wollen sehen, was sich machen läßt. Und nun wollen wir von etwas anderm sprechen.«

Somit sprachen wir von etwas anderm, bis es Zeit wurde, unser getrenntes Nachhausekommen ins Werk zu setzen. Als ich nach einer Viertelstunde der Einsamkeit und des Nachdenkens heim kam, war alles dunkel im Hause. Daß ich mich eines gesunden Schlafes erfreute, versteht sich von selbst.

Am andern Morgen erschien Mrs. Brabazon nicht zum Frühstück, deshalb schlug ich den Weg nach dem Flusse ein und bediente mich des Dampfbootes, als der besten Gelegenheit, die in London zu haben war, mir einen annähernd frischen Lufthauch zu verschaffen, wenn man sich nicht an so abgelegene Orte, wie z. B. Primrose Hill, begeben will.

Das Boot brachte mich nach Temple Pier. Mein Anwalt verhielt sich offenbar meiner Abwesenheit gegenüber gänzlich gleichgültig. Jedenfalls machte er keine Bemerkung darüber, sondern händigte mir, nachdem er geäußert, es sei heute schönes Wetter, eine Anzahl Fragestücke ein, die ich entwerfen und dann seinem Gutachten unterbreiten sollte; auf die Rückseite der Papiere hatte er mit Bleistift einige orakelhafte, unleserliche Hinweise auf »Adolphus und Ellis«, »Petheram über Verhöre« und »Mason und Welty« geschrieben. In diese Arbeit stürzte ich mich, wenn auch nicht con amore, so doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß sie eine Abwechselung sei. Als ich damit zu Ende war und die huldvolle Versicherung empfangen hatte, daß die Arbeit mir zur Ehre gereiche, entwich ich ins Freie.

Es war noch früh am Tag, und mein erster Gedanke war, im Bewußtsein, tugendhaft eine Tagesarbeit vollbracht zu haben, zurückzukehren und zu versuchen, ob ich nicht Mrs. Brabazon wieder zu einem Ausflug bringen könne. Allein in gewissem Sinne war es ihr gelungen, mir bange zu machen, und meine Liebe zu ihr, so vollkommen dieselbe auch sonst gewesen sein mag, war nicht von der Art, die Furcht ausschließt. So fand ich den Weg in einen Billardsaal in Holborn, wo ich ohne große Schwierigkeiten mit Spielen und Wetten auf meine Stöße einige Sovereigns gewann. Zu ziemlich früher Stunde machte ich mich auf den Heimweg, von der Ueberzeugung durchdrungen, ich sei ein Muster aller Tugenden, und die Brust von den unbestimmtesten und kühnsten Hoffnungen geschwellt.

Ich wollte Advokat werden und wie ein Meteor vor den Schranken des Gerichtes erscheinen. Ich wollte eine Jacht halten und während der langen Ferien mit Mrs. Brabazon in derselben kreuzen. Ich wollte ins Parlament kommen (thatsächlich wußte ich in diesem Augenblick nicht, ob ich Tory oder Whig, Liberaler oder Radikaler oder gar Homeruler war) und daran schlossen sich ganz unklare Gedanken und die Vision eines Wollsackes Sitz des Lordkanzlers im Oberhause. Anm. d. Uebers.: Si jeunesse savait! Si vieillesse pouvait!

Am nächsten Tage war ich zu keiner Arbeit, mochte sie heißen wie sie wollte, am allerwenigsten aber zu einer im Büreau meines Anwaltes, aufgelegt. Ich hatte einen Wirbelsturm überstanden und befand mich in dem, was die Seeleute einen »Stilltegürtel« nennen. Bei einem Wirbelsturm packt einen der Wind von allen Seiten zumal; bei einem »Stilltegürtel« oder einer Windstille ist gar kein Wind da, der einen von einer Seite her fassen könnte, und man liegt da, so artig wie ein »gemaltes Schiff auf einer gemalten See«. Ich befand mich, wie schon gesagt, in diesem Augenblick in dem »Stilltegürtel.«

In dieser Gemütsverfassung schrieb ich ein kleines Briefchen, in dem ich Susan zu einem Spaziergang aufforderte, und erhielt den mündlichen Bescheid, daß sie sofort bereit sein werde. Wir bummelten zusammen in den Kensington-Gärten, die wie gewöhnlich voll Soldaten, Kindermädchen, Kindern, Säuglingen und Müßiggängern waren.

Dicht am Wasser, unter einer ungeheuren Buche ließen wir uns nieder. Schon begannen die Blätter zu fallen und die Bäume eine rötliche Färbung anzunehmen, aber die Kensington-Gärten waren noch immer ein wahres Vogelparadies. Gerade in diesem Augenblick zogen Schwalben über uns hinweg; man konnte den klagenden Ton der Waldtaube vernehmen und dann und wann wagte sich ein scheuer, kleiner Blauspecht hervor, drehte seinen Hals papageiartig bald hierin, bald dorthin und spähte mit seinen kleinen, forschenden Augen nach herumschweifenden Insekten. In den Kensington-Gärten ist niemand mißtrauisch und tadelsüchtig. Niemand kümmert sich darum, wer mit wem spazieren geht, und wir waren so allein, als hätten wir uns im Herzen eines tropischen Urwaldes befunden.

Ich begann mit unbedeutendem Erfolg zu plaudern und hatte den unbehaglichen Verdacht, daß Susan sich an meiner Verlegenheit weide. Dies brachte mich ganz zur Verzweiflung und schließlich zu der Ueberzeugung, daß ich in die Enge getrieben sei und am besten thäte, das Feuer sofort zu eröffnen. Es gibt ein Sprichwort, das in bitterm Humor als »elftes Gebot« empfiehlt, eine Lüge zu sagen und an dieser festzuhalten. Mir schien es nun, daß es für mich nicht nur das richtigste, sondern unter allen Umständen auch das beste sei, die Wahrheit zu sagen. Natürlich meine ich nicht das Beste von einem niedrigen oder unwürdigen Gesichtspunkt aus – meine bisherige Geschichte wird mich hoffentlich von jedem derartigen Verdacht befreien. Ich will lediglich sagen, daß ich wünschte, die Sache zu Ende zu bringen, und mich infolgedessen in der mir eignen tappigen Weise ans Werk machte.

»Sehen Sie einmal, Susan,« brach ich plötzlich los.

»Was soll ich sehen, mein lieber Junge?«

»O, verdrehen Sie meinen Ernst nicht immer in Scherz. Nehmen Sie mich ernsthaft!«

»Ich nehme Sie immer ernsthaft; ich habe Sie nie auch nur für einen Augenblick getäuscht oder irre geleitet.«

»Nun wohl, ich möchte, daß Sie mich heiraten. Ich möchte, daß Sie dies aus Freundschaft und Mitleid für mich thäten. Ich will Advokat werden und irgend wohin in die Kolonieen gehen und an einem Kolonialgericht praktizieren, wo man gern junge Leute hat und ich mir Erfolg versprechen darf. Wir werden niemand treffen, den wir kennen, niemand, der uns belästigen oder irgendwie unangenehm sein könnte. Man kann sich nicht leicht eine einfachere und gründlichere Veränderung seines Lebens denken, und doch wäre diese Umwandlung in etwa sechs Wochen herbeigeführt und würde nicht mehr Schwierigkeiten verursachen, als sie die höchst angenehme Fahrt in einem prächtigen Dampfboot mit sich bringt, und vor der Abreise würden wir uns noch trauen lassen.«

»Die Welt schreitet voran, Jack! Ich erinnere mich noch wohl, wie junge Leute Luftschlösser bauten. Sie dagegen sind nicht zufrieden, wenn Sie sich nicht Königreiche nebst den dazu gehörigen Dynastieen geschaffen haben.«

» De l'audace! De l'audace! Toujours de l'audace!« antwortete ich.

»Alles,« erwiderte sie, »sogar eine gute französische Aussprache kann einem jungen Mann mit der Zeit zu teil werden, wenn er nur Selbstbeherrschung genug hat, um warten zu können.«

»Warten!« echote ich ärgerlich. »Warten! Immer die nämliche Antwort. Warten! Warten bis zum Frühjahr, warten bis in den Hochsommer, warten bis zum Herbst. Ich habe das Warten satt und will nicht länger warten. Vielleicht habe ich insoweit das Leben bis jetzt falsch aufgefaßt, aber das ist kein Irrtum, der sich nicht wieder gut machen ließe. Ganz und gar nicht, und es ist gerade mein ruhiger, aber fester Entschluß, das Leben von neuem zu beginnen. Ich habe schlecht angezogen, ein falsches Gambit gespielt, aber ich habe immer noch einiges Vertrauen in mich und will noch einmal von vorn anfangen. Mein Alter, wenn ich alt werde, soll kein reuevolles sein.«

»Ich spreche nicht von mir selbst, Jack; im Gegenteil, ich spreche in vollem Ernst. Es ist albern von Ihnen, mich heiraten zu wollen, und von mir wäre es mehr als albern, wenn ich Sie in der Absicht bestärken wollte. Sie wissen ja gar nichts von mir.«

»Doch.«

»O nein, Sie wissen nichts – nicht das Geringste. Ich habe eine sehr schlimme Vergangenheit und abgesehen davon bin ich faul, selbstsüchtig und außerordentlich verschwenderisch. Einen oder zwei Monate würde ich mit Ihnen leben wie im Schlaraffenland und dann würden Sie sich eines Morgens allein sehen und dazu noch den weiteren Aerger haben, aus der besten Quelle zu wissen, daß ich mich mit einem andern davon gemacht habe. Ich habe Sie viel zu lieb, um Sie etwas Derartigem auszusetzen, und werde mich, sei es auch noch so indirekt, bei nichts beteiligen, was ein solches Ergebnis haben könnte; davon dürfen Sie ganz fest überzeugt sein. Sie sind ein lieber, guter, liebenswürdiger Junge, – wenn Sie es wünschen, kann ich auch sagen, ein lieber, guter, liebenswürdiger Mann, und deshalb will ich Sie gegen sich selbst beschützen. Und nun, Jack, bin ich furchtbar müde. Begleiten Sie mich in die Grove und geben Sie mir Gefrornes, und eine Woche lang, während welcher Sie hoffentlich wieder zur Besinnung kommen, soll über diesen Unsinn kein Wort mehr gesprochen werden.«

Natürlich mußte ich gehorchen, aber ich war mir wohl bewußt, daß ich dies mit möglichst wenig Anmut that, und in dieser Gemütsverfassung begleitete ich Mrs. Brabazon nach Westbourne Grove; dort nahmen wir Gefrornes und einiges Obst, nebst einer harmlosen Pint Claret mit Siphon zu uns. Nach dieser einfachen Bewirtung bestand sie darauf, allein nach Hause zu gehen.

»Sie können gehen und Billard spielen,« sagte sie, »das ist ein Spiel, bei dem Sie Ihre armen, kleinen Flügel nicht verbrennen werden.«

Ich weiß nicht, ob dies eine Stichelei sein sollte, oder nicht – jedenfalls sah es allzusehr nach einer solchen aus, als daß meine Stimmung sich dadurch wesentlich verbessert hätte.

Souvent femme varie,
Bien fou qui s'y fie.«

So summte ich vor mich hin, als ich mich aufmachte, Calverleys virides sed non e gramine mensas zu suchen.


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