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Siebentes Kapitel.

In dieser Gemütsverfassung reiste ich heim. Jede Gegend hat ihre eignen Reize und Vorzüge, auch wenn man nicht, wie ich in diesem Fall, jeden Zoll breit Erde kennt. In drei Jahren der Abwesenheit kann sich wohl der Mensch verändern, die Natur aber nicht. In dem langen Baumgang standen noch die alten Bäume, und aus der nämlichen Höhlung, in der ich einst das Nest des großen roten Spechtes gefunden hatte, fuhr lockend und schreiend ein alter Specht heraus und flog quer über den Park. Auch der See war ganz unverändert, nur an seinem Rand schienen ein Paar vorsündflutliche Weiden unter der Wucht des Alters zusammengebrochen oder von mitleidiger Hand der Mühsal ihres Daseins enthoben worden zu sein. In den riesigen Buchen neben dem See versammelten sich noch immer die Reiher, und ich erkannte einige der alten Nester, die ich so oft auf die Gefahr hin, den Hals zu brechen, zu erreichen gesucht hatte; die Kaninchen fuhren in und unter dem Farnkraut hin und her, und als wir uns dem Hause näherten, vernahm ich das feierliche Gekrächze der Dohlen in den Buchen der Terrasse.

Meine Ankunft war erwartet worden, und ich fand die Familie zu meinem Empfang festlich aufmarschiert. Mein Vater, ganz grand seigneur, schüttelte mir die Hand, beglückwünschte mich über meine Größe und drückte seine Zufriedenheit aus, daß ich nun am Beginn einer Laufbahn stehe, die natürlich nur auf dem Wollsack endigen könne.

Meine Mutter küßte mich und sagte, ich sei gewachsen und erinnere sie sehr an ihren ältesten Bruder Horace, besonders das Haar und den Nasensattel habe ich von ihm, ja was den letzteren Punkt betreffe, könnte sie mich leichtlich für Horace selbst halten. Dann versetzten mir meine Schwestern, eine um die andre, dem Alter nach, schlotterige Küsse, indem sie ihre dicken roten Lippen auf meine Backe klatschten und so rasch wieder zurückfuhren, als ob ich mit einer ansteckenden Krankheit behaftet wäre. Mein jüngster Bruder, der unterdessen der Würde von Hose und Jacke teilhaftig geworden war, schmiegte sich an mich an, nahm meine Hand, rieb sich mit ihr über Gesicht und Kopf und hielt sie dann krampfhaft fest.

Natürlich wurde ich gefragt, ob ich nicht eine Erfrischung zu mir nehmen wolle. Wir hatten ein Zimmer, das unter der Oberaufsicht des Koches stand, von uns aber aus Großthuerei als das Vorratszimmer des »Butlers« bezeichnet wurde. Ich erwiderte, ich wolle mich dorthin verfügen und nachher einen Spaziergang über das Gut machen, wenn mich Dick, mein kleiner Bruder, begleiten könne. Diesem Vorschlag begegnete keinerlei Einwand, im Gegenteil schien meine Absicht, mich sofort aus dem Weg zu räumen und keine weitere Störung zu verursachen, sich des allgemeinsten Beifalls zu erfreuen, als ein Symptom, das zu der Hoffnung berechtigte, ich habe endlich gelernt, mich passend zu benehmen, und erfreue mich nun einer entsprechenden christlichen Demut und Bescheidenheit.

Der Butler, wie wir ihn zu nennen beliebten, war entzückt. Zuerst goß er mir ohne weiteres ein riesiges Glas voll alten Weines ein; als ich dies beseitigt hatte, blinzelte er mir feierlich zu, während er mir aus einer kalten Hirschkeule ein tüchtiges Sandwich bereitete.

»Sie haben wohl allerlei Erlebnisse gehabt, Mr. Jack, und allerlei Streiche gemacht, darauf will ich wetten. Nun, nun, ein Junge soll nur bald anfangen, ein Mann zu werden, das sage ich immer, aber ein Mann soll nicht so bald anfangen, ein Greis zu werden. Sie wachsen heran, Mr. Jack, und ich werde alt. Um den Leib bin ich dicker und um die Lenden dünner, als mir lieb ist. Doch über Gräben und Hürden setze ich nicht mehr wie vor zwanzig Jahren, wo ich den Hunden noch zu Fuß folgte und das beste Rennpferd müde laufen konnte. Schadet nichts! Es thut einem alten Manne wohl, wenn er junge Leute heranwachsen sieht. Sie werden hier nicht viel verändert finden. In den Ställen sind noch immer William und Mat. Mat ist verheiratet und hat Familie bekommen, und seine Frau wäscht ihm oft ganz gehörig den Kopf, aber sie ist eine sorgsame Frau und sieht nach seinen Kleidern. Er war als ledig ein bißchen unsauber, so macht sich's ganz gut. Zu viel Bier ist nicht gut für einen jungen Mann. Versuchen Sie dies.« Und damit brachte er eine zierliche holländische Flasche aus blauem Glas mit einem Storchenhals zum Vorschein. Es war echter Amsterdamer Curaçao, und ich gestehe offen, daß er mein Blut erwärmte.

Zunächst suchte ich nun Dick, der mich sofort unter seine Obhut nahm. Er schien seinen ganzen Ehrgeiz darein zu setzen, mich an alle Orte zumal zu führen, aber ich dämpfte sein jugendliches Ungestüm und sagte, ich wolle nur einen Bummel machen.

Wir schlenderten über die äußerst verwahrlosten Felder in die Ställe und von den Ställen in den Küchengarten, von wo wir dann unsre Schritte nach einem dichtbewaldeten Hügel lenkten, der durch seine Dachse, Eichhörnchen und Häher berühmt war. Ich hatte mir Dicks Herz mehr als erobert durch das Geschenk eines Messers mit drei Klingen, einem Karabinerhaken und einer Kette, vermittelst welcher er es nach Belieben an seinem Gürtel oder seinen Hosenträgern befestigen konnte.

»Du, Jack,« sagte er, »sie haben alle über dich gesprochen.«

»Wirklich? Und was haben sie denn gesagt?«

»Oh, Pa sagt, du seiest gerade wie er; du seiest entsetzlich faul, aber sehr gescheit, und wenn du ernstlich wolltest, könntest du alles. Georgie hat dich verteidigt und gesagt, Du seiest gar nicht faul, und Rachel hat gar nichts gesagt. Sie sagt nie was, aber sie kriegt's doch immer fertig, daß alles nach ihrem Kopfe geht. Rachel ist sehr gescheit, ganz gewiß.«

Wenn nun diese Mitteilung auch bis zu einem gewissen Grade befriedigend war, so war sie doch nicht gerade ermutigend. Offenbar war ich als verdächtig und »auf Wohlverhalten« zurückgekehrt.

Ein Mensch spielt gern den verlornen Sohn, aber diese Rolle übernehmen, ohne daß ein fettes Kalb geschlachtet wird, ohne daß irgend welcher alter Wein zum Vorschein kommt, und daß Posaunen, Harfen, Psalter, Hackbrett oder sonst eine Art von Musik erschallt – das ist denn doch ein recht armseliges Stück Arbeit. So setzte ich mißmutig meinen Weg fort, während Dick einen großen Tannenzapfen aufhob und äußerst befriedigende Versuche mit seinem neuen Taschenmesser anstellte.

Am See angelangt, fanden wir, daß er nur eine ganz leichte Eisdecke trug, immerhin aber baldiges Schlittschuhlaufen erhoffen ließ. Dick eilte am Ufer hin und her, um nach seinen über Nacht ausgelegten Angelruten zu sehen, an denen sich, trotz der Ungunst der Witterung, einige große Aale gefangen hatten; diese band er triumphierend an eine Weidenrute, und so kehrten wir ins Haus zurück. Dort fand ich wiederum alle versammelt. Da es immer noch einige Stunden vor Essenszeit war, lud ich Dick in mein Schlafzimmer ein; die frische Landluft macht stets schläfrig, was auch ich empfand. Ich zog meine Stiefel aus, warf mich auf mein Bett, erteilte Dick den strengsten Befehl, mich rechtzeitig zu wecken, und war in Bälde fest eingeschlafen. Traumloser Schlaf ist von allen Wohlthaten und allen schmerzstillenden Mitteln der Welt ohne Zweifel das erste und beste.

 

Zwei oder drei Tage nachher wurde das Eis auf dem See für fest genug erklärt und seine Oberfläche mit gebührender Sorgfalt gekehrt, bis es blitzte und blinkte wie eine große Tafel Spiegelglas. Die Nachricht verbreitete sich rasch im Dorf und Umgegend, und schon am Nachmittag war das Eis ziemlich gut besucht. Obgleich in Essex sehr viel Schlittschuh gelaufen wird, hatten wir doch keine Schlittschuhkünstler unter uns, die sich abgesondert und dadurch die Harmonie des Zusammenseins gestört hätten; keiner von uns wagte mehr als eine 8 zu fahren, und wir wollten auch nichts, als auf unsre Weise vergnügt sein, was uns auch in vollständig befriedigender Weise gelang.

Ich trieb mich allein herum und glitt auf jene köstliche bequeme Weise dahin, bei der man, ohne einen Fuß zu heben, durch das Neigen des Körpers von einer Seite zur andern, sich in beständigem Zickzack fortbewegt. Ich hatte mir eine kleine Holzpfeife angezündet, den Kragen meiner Reitjacke heraufgeschlagen und sah ganz wie andre junge Leute auch aus, wie es ein bescheidener junger Mann sich nur wünschen kann. Bald bemerkte ich indessen, daß jemand auf dem Eis war, den ich kannte und dessen ich mich nur allzugut hätte erinnern sollen. Es war mein alter Schatz, Izzie Vivian, in Begleitung meiner Schwestern. Sofort zog ich meinen schönsten Bogen und näherte mich ihnen mit einem Schnörkel, der jedenfalls so verwickelt, wenn auch vielleicht nicht so ausdrucksvoll war, wie die dernière pirouette einer première danseuse.

Ich verbeugte mich und schüttelte ihr die Hand, und ich kann feierlich erklären, daß keins von uns auch nur mit einer Wimper zuckte.

»Ist er nicht gewachsen, liebe Izzie?« bemerkte meine Schwester Georgie.

»Ungemein,« war Miß Vivians etwas alltägliche Antwort.

Dies gleichgültige Zugeständnis ärgerte mich ein wenig. Selbstredend war ich auch nicht um einen Zehntelzoll größer als vor drei Jahren.

Dann folgte das gewöhnliche, farblose Geschwätz, für das meine Schwestern allein verantwortlich waren. Mit der gestrigen Post war eine neue Nummer der Modezeitung Queen und ein Paket neuer Romane aus London eingetroffen. Ich wurde gefragt, wie der Park aussehe, wer an den verschiedenen Theatern spiele, und dergleichen mehr. Die Unterhaltung floß wohl leicht dahin, war aber nichtsdestoweniger furchtbar langweilig. Trotzdem konnte ich nicht umhin, zu bemerken, daß meine alte Flamme sehr gewonnen hatte. Sie war gewachsen und selbstbewußter geworden; sogar ihr Haar war hübscher und koketter geordnet als früher, während ihre Füße nicht mehr zu groß erschienen im Verhältnis zum Körper und auch deren Verwendung der jungen Dame jetzt weniger Schwierigkeiten verursachte; sie war im ganzen voller und runder geworden. Wir alle kennen den himmelweiten Unterschied zwischen dem allerjüngsten »jungen Mann« und dem größten, dicksten Schuljungen, selbst wenn sich der letztere des üppigsten Backenbartes erfreut. Der nämliche Unterschied besteht zwischen einer jungen Dame, die drei oder vier Bälle besucht hat, und ihren jüngeren Schwestern, die noch nach Butterbrot und Kinderstube riechen.

Zusammenhanglos über diese Dinge sinnend, ohne an etwas Besonders zu denken, bemerkte ich plötzlich, daß meine Schwestern sich davon gemacht und Miß Vivian und mich allein gelassen hatten.

»Wie ich sehe, sind Sie von der Insel Wight zurückgekommen,« sagte ich.

Es war dumm und linkisch von mir, aber es fiel mir wirklich gar nichts anders ein.

»O ja,« lachte sie. »Sie wissen ja, daß ich eigentlich kein so furchtbares Verbrechen begangen habe. Vielleicht fanden mich auch die guten, alten Damen in der Pension nicht besonders lenksam. Jedenfalls bin ich auf ihr Zeugnis hin, daß meine Erziehung bis auf das letzte Tüpfelchen als vollendet anzusehen sei, wieder zu Hause und soll mich nun als erwachsen und gesellschaftsfähig betrachten, was besagen will, daß ich bei Hof vorgestellt bin, daß ich am Tisch esse, wenn wir Gesellschaft haben, daß mir erlaubt ist, ein Halsband und Ohrringe zu tragen, und daß ich mich eines Kleides aus etwas weniger einfachem Stoff als aus Musselin erfreue.«

In Ermangelung von etwas Besserm fragte ich, wie ihr die Veränderung behage.

»Das kann ich Ihnen kaum sagen,« erwiderte sie. »Manchmal gefällt mir das neue Leben recht gut, aber zeitweise wünsche ich mir auch die alten Tage zurück; jedenfalls haben diese mir mehr Freiheit gewährt. Allein die Veränderung mußte ja früher oder später kommen – es ist recht lästig.«

Dann sprachen wir von andern Dingen bis beinahe halb vier Uhr, wo es anfing dunkel zu werden. Es war Zeit, das Eis zu verlassen, und bald befanden wir uns in dem Gartenhäuschen, in dem wir im Sommer unsre Fischgeräte verwahrten und wo nun die Schlittschuhe abgeschnallt wurden.

Natürlich ermöglichte ich es, unter Bedeckung meiner Schwestern Izzie bis an unser Parkthor zu begleiten.

»Du kommst morgen doch wieder?« riefen die Mädchen wie im Chor. »William sagt, das Thermometer falle und das Eis werde morgen herrlich sein, wenn man es abends gut kehren lasse.«

»O, natürlich komme ich; Schlittschuhlaufen geht mir über alles.«

Damit trennte sich unsre kleine Gesellschaft.

Auf dem Heimweg wollten meine Schwestern wissen, ob ich Izzie zu ihrem Vorteil verändert fände; ich erwiderte ausweichend, ich glaubte, alle jungen Mädchen vervollkommneten sich in diesem Alter, worauf ich die Versicherung erhielt, ich habe nicht mehr Lebensart als ein Bär von London zurückgebracht. Ich gab darauf zurück, ich habe mich in der Kunst der Kreuzverhöre fleißig geübt und sei nicht heimgekommen, um mich vivisezieren zu lassen. »Außerdem,« bemerkte ich spöttisch, »habe ich eine ganze Saison in einem ausgesucht feinen Kosthaus in Bayswater verlebt, und mein Herz ist nachgerade so hart, wie die Keule eines fünfjährigen Hahnes oder in diesem Falle vielmehr so hart wie dessen Magen.«

»Welch vollkommener Weltmann du geworden bist,« riefen meine Schwestern wie mit einer Stimme, »und wie haben sich erst deine Manieren in London verfeinert. Bitte, wann wirst du bei Hofe vorgestellt?«

»Sobald ich Seide trage,« gab ich zurück, »werde ich mich dieser lästigen Förmlichkeit zu unterziehen haben. Es ist eine der Schattenseiten, die das Seidetragen mit sich bringt.«

»Und was heißt das denn: Seide tragen?«

»Das, meine lieben Schwestern, heißt ›in Amt und Würden‹ sein und lernen, sich um seine eignen Angelegenheiten zu kümmern und nicht über die andrer Leute zu sprechen, solange man nicht dafür bezahlt wird und es kraft seines Berufes thut, in welchem Fall allein Beredsamkeit als Tugend anzusehen ist.«

»Gott im Himmel,« bemerkte Georgie gegen ihre jüngere Schwester mit einem kleinen Seufzer. »Er ist ein wahrer Philosoph für sein Alter!«

Diesen Hohn würdigte ich keiner Antwort mehr, und die Mädchen nahmen im Bewußtsein, als Siegerinnen aus diesem Scharmützel hervorgegangen zu sein, eine entsprechend wichtige Miene an. Ich verlangte nicht nach Susan, um sie zur Vernunft zu bringen – schon Miß M'Lachlan hätte dazu völlig genügt, und die Anwesenheit dieser hochachtbaren alten Jungfer hätte ich mit Freuden begrüßt. Ihre Abneigung gegen junge Männer war nichts im Vergleich zu ihrem Widerwillen gegen »Zieraffen«.


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