Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Um ein Ei.

Erstes Kapitel.

Die Frühlingssonne schien warm und voll, aber aus dem Boden, auf dem unsere Erzählung beginnt, hätten ihre belebenden Strahlen kein Grün hervorzaubern können, auch wenn die eisigen Nordwinde, die nun schon seit vierzehn Tagen vom Meer her wehten und noch vor einigen Tagen einen Spätwinter mit Schneetreiben gebracht hatten, nicht gewesen wären. Dieser an der kurischen Küste gelegene Landstrich, den man »die Limpik« nennt, bietet mit Ausnahme des Winters, in dem auch ihn eine schöne, weiße Schneedecke verhüllt, in jeder Jahreszeit immer dasselbe Bild einer gelbbraunen Sandwüste, die sich von ihren bekannteren Schwestern nur dadurch unterscheidet, daß sie nur gegen eine Meile lang und eine halbe Meile breit ist, und überdies eine so abgelegene Lage hat, daß sie gewiß nur höchst selten von einem des Schreibens kundigen Manne betreten wurde.

Die Limpik ist nicht immer eine Wüste gewesen. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts bildete sie eine schmale, mäßig fruchtbare Nehrung zwischen dem öden Meeresstrande und den unter dem Niveau des 4 Meeres liegenden und dadurch zu ewiger Unfruchtbarkeit verurteilten Sümpfen, den sogenannten Grihnen, die mit alten aber kaum mannshohen Krüppelfichten besetzt, in einer Breite von fast einer Meile die Limpik von den eigentlichen Waldungen trennen. Früher standen hier, durch hohe Dünen geschützt, einige Fischerdörfer, deren Bewohner sich mit Hilfe der Fische im Meer und des ihre Kartoffel- und Haferfelder trefflich düngenden Seetangs nicht kümmerlicher nährten als die übrigen Strandbauern an der kurischen Küste. Das wurde aber anders, als ein unverständiger Besitzer des Gutes, zu dem sie gehörten, die alten Kiefern, die auf den Dünen standen, samt und sonders zu gleicher Zeit abholzen ließ. Der Wind hob allmählich die nun schutz- und haltlosen Dünen auf und schüttete den Sand, aus dem sie bestanden, über die Dörfer und die zu ihnen gehörenden Felder aus, so daß nach einigen Jahren diese aufgegeben und jene verlassen werden mußten. Der Sand begnügte sich aber nicht mit dieser Eroberung, er sah sie vielmehr nur wie eine Bresche in der Mauer an, und dehnte sich nach rechts und links immer weiter aus. Landeinwärts erwies sich bald jeder Widerstand als vergeblich, und man mußte ihn gewähren lassen bis an den Sumpf, der ihm Halt gebot; von Süden und Norden her aber bekämpfte und bekämpft man ihn noch energisch, wenn auch nicht eben sehr erfolgreich, denn die Einöde dehnt sich von Jahr zu Jahr weiter aus.

In die Limpik nun lenkte um die zehnte Stunde eines Aprilsonntags ein bäuerliches Gefährt ein, das 5 aus einem schmalen Damm, der hier durch den Sumpf führt, gekommen war. Auf der Limpik selbst gibt es weder Weg noch Steg; man fährt, wenn man nach Süden will, gerade auf eine hohe Kiefer zu, an deren Fuß das fruchtbare Land und damit auch der Weg wieder beginnt. Der Wezwagarbauer – so wurde der Mann im Wagen nach seinem Bauernhofe genannt – legte daher, nachdem er seinem Pferde die Richtung angegeben hatte, die Leine unter sein rechtes Bein und wandte sich zu seiner neben ihm sitzenden Frau, die sich, im rauhen Nordwinde fröstelnd, tief in ihren Pelz gehüllt hatte.

»Es ist mir unbegreiflich,« sagte der Bauer, während er mit der Peitsche von Zeit zu Zeit in den Sand schlug, »wie die Leute hier so träge und faul sein konnten, daß sie dem Sande ruhig das Feld räumten. Da hätte ich dabei sein sollen!«

»Das muß doch so Gottes Wille gewesen sein,« meinte die Bäuerin.

»Wie kannst du so thöricht reden,« brauste ihr Mann auf. »Wie soll es Gottes Wille sein, daß wir träge die Hände in den Schoß legen, wenn uns ein Unglück droht. War es etwa auch Gottes Wille, daß man so unsinnig war, alle Bäume auf den Dünen gleichzeitig zu fällen?«

»Nun, wenn Gott es nicht gewollt hätte, so wären sie nicht gefällt worden.«

»Recht so!« rief der Bauer höhnisch. »Natürlich! Als die Anna in Wedge mit offenem Licht in die Flachskammer ging und darüber das ganze Gesinde 6 aufbrannte, so daß der Bauer um alle seine Habe kam, geschah das wohl auch nach Gottes Willen?«

»Warum nicht?« fragte die Bäuerin, wandte sich um und sah ihren Mann aus ihren blauen Augen so tief ernst an wie immer, wenn sie über solche Dinge in Streit gerieten – was oft geschah. »Hast du den Leuten in Wedge so tief in die Seelen gesehen, daß du wissen kannst, ob sie es nicht reichlich verdienten, daß ihnen Habe und Gut vom Feuer verzehrt wurde? Wie können wir wissen, ob sie sich nicht so schwer versündigt hatten, daß es allerdings nach Gottes Willen geschah, daß Anna mit offenem Licht in die Flachskammer ging und so die Feuersbrunst hervorrief? Müssen wir nicht annehmen, daß es wenigstens zu ihrem Besten geschah?«

»Dann meinst du wohl auch, daß die Bewohner der Dörfer, die einst hier standen, so arge Sünder waren, daß Gott ihnen um ihrer Sündhaftigkeit willen die Felder versanden ließ?«

»Das weiß ich nicht. Ich will den Leuten nicht unrecht thun, allein es liegt nahe anzunehmen, daß sie Gottes Zorn auf sich geladen hatten. Wenn Gott die Städte Sodom und Gomorrha um ihrer Sünden willen im Feuer untergehen ließ, warum sollte er da nicht auch diese Dörfer um der Sündhaftigkeit ihrer Bewohner willen verderbt haben?«

Der Bauer griff unwillig wieder zu den Zügeln und ließ den Fuchs rascher traben.

»Du hättest den Pastor heiraten sollen,« sagte er mit kurzem Auflachen. »Ich will dir aber sagen, wie 7 dein Mann, der freilich nur ein einfacher lettischer Bauer ist, die Sache ansieht. Wie das mit Sodom und Gomorrha zuging, weiß ich nicht – das ist lange her, geht mich auch nichts an – wie aber diese Dörfer versandeten, weiß ich ganz genau. In dieser Geschichte kommt der liebe Gott gar nicht, wohl aber kommen darin viele dumme Menschen vor. Dumm war einmal der Baron, der die Dünen abholzen ließ; dumm waren zweitens die Bauern in den Dörfern, die sie nicht gleich mit Rasen bedeckten und mit jungen Bäumchen bepflanzten; dumm war endlich die Gemeinde, die, statt sich zusammenzuscharen wie ein Mann und dem Übel zu wehren, ruhig zusah, wie ein Gesinde nach dem anderen vom Sande verschlungen wurde. Ich will dir noch etwas sagen, was dir, die du jung und unerfahren bist, schrecklich klingen wird, was aber darum nicht weniger wahr ist: in Bezug auf menschliche Dinge gibt es gar keinen Willen Gottes. Gott will gewiß mancherlei, aber um menschliche Angelegenheiten bekümmert er sich nicht. Auf die haben nur zwei Dinge Einfluß: die Natur und der menschliche Wille. In Bezug auf erstere kann niemand etwas ändern, weder Gott noch Menschen; wenn es nicht regnet, so verdorrt alles, trotz Gott und Menschen. Was aber den letzteren anbetrifft, so ist er eben dumm oder klug, je nachdem der Mensch, der ihn hat, dumm oder klug ist. Ist der Mensch klug, so kommt er überall vorwärts und schafft etwas; ist er aber dumm, so bleibt er in allen Dingen zurück und bringt nichts zu stande.«

8 »Du hast unrecht,« erwiderte die Bäuerin fest. »Nicht darauf kommt es an, ob unser Wille klug oder dumm, sondern darauf, ob er gut oder böse ist. Übrigens,« fügte sie seufzend hinzu, »können wir uns ja hierüber leider doch nicht verständigen.«

»Leider,« rief der Bauer und lachte nach seiner Art kurz auf. »Das thut aber nichts. Halte du es nur immer mit deinem ›gut‹, ich will schon dafür sorgen, daß du es auch mit meinem ›klug‹ hältst. Du wirst sehen, dann wird es Gottes Wille sein, daß es uns gut ergehen wird, nach wie vor. Wie die Saat, so die Ernte. Es ist noch nie vorgekommen, daß jemand Hafer säete und Disteln erntete.«

»Rede nicht so lästerlich,« schluchzte die Bäuerin. »Dein Reden muß und wird Unglück herabziehen auf uns und unsere Kinder.«

Der Bauer umfaßte nun seine Frau, drückte sie an sich und sagte ihr die zärtlichsten Liebesworte. Er hörte damit nicht eher auf, als bis sie sich die Thränen aus den Augen gewischt hatte und ihn wieder so freundlich anlächelte wie gewöhnlich. Dann setzten sie ihren Weg schweigend fort, bis sie ihr Ziel, das Gesinde nämlich, das der Bruder der Bäuerin in Pacht hatte, erreicht hatten.

Das Breedegesinde, so hieß der Bauerhof, stieß von Süden her hart an die Limpik, ein Umstand, der sich nur zu sehr bemerkbar machte. Die verwahrlosten und verfallenden Baulichkeiten lagen hart am Fuße eines hohen Sandberges, der dadurch entstanden war, daß man hier zum Schutz gegen den Sand mehrere 9 haushohe, miteinander gleichlaufende Zäune aus Flechtwerk aufgerichtet hatte.

An diesen Zäunen hatte sich der vom Nordwest herangepeitschte lockere Flugsand zu einem hohen Hügel aufgetürmt und hier für eine Weile Ruhe gefunden. Auf die Dauer erwies sich aber auch dieses Mittel als unzureichend, denn seit der Sand den Rücken des Zaunes erreicht hatte, trieb jeder anhaltende Wind die oberste Sandschicht über die Zäune und Häuser weg auf die Felder, die in den sie einfassenden, aus Feldsteinen roh aufgerichteten niedrigen Mauern nur zu wenig Schutz fanden.

Die langgezogenen schaumgekrönten Wogen des Meeres brandeten kaum hundert Schritte von den Gebäuden des Gesindes an den Sand der Küste.

Kommt, ihr Mädchen, laßt uns schauen
Linnen, auf dem Meer gewebt!
Schilf ist Aufschlag, Schaum ist Einschlag,
Aber Weber ist der Sturmwind.

sang die Bäuerin leise vor sich hin.

Als der Wagen vor dem Wohnhause hielt, erhoben einige nur dürftig bekleidete Kinder, die bis dahin damit beschäftigt gewesen waren, ein graues, hochbeiniges Kalb durch einen kleinen gelben Köter unter lautem Zuruf: He, Hatz, Citron! auf dem Hofe umherhetzen zu lassen, ein lautes Jubelgeschrei, und riefen dadurch ihre Eltern vor die Thür. Die junge Hausfrau, deren Haar trotz des Sonntags arg zerzaust aussah, sprang, obgleich sie ihr jüngstes Kind auf dem Arm hatte, der Schwägerin leichtfüßig 10 entgegen, küßte sie und drückte dem Schwager herzlich die Hand. Auch ihr Mann hieß in seiner linkischen Weise die Gäste willkommen und sah dann halb neugierig, halb scheu zu, wie die Schwester allerlei Gutes aus dem Wagen hervorholte, das sie, die Wohlhabende, den armen Verwandten mitgebracht hatte. Da waren zwei Packen Wand (ein selbstgewebter Kleiderstoff), ein paar Schinken, zwei große Stücke Schweinefleisch für die Erwachsenen, Sohlen (Pfefferkuchen) und süß duftende frische Schmantkuchen für die Kinder.

Während die Wezwagarwirtin so ihre Schätze auskramte und sich in ihrer bescheidenen Weise noch bei jeder einzelnen Gabe entschuldigte, daß sie aus diesem oder jenem Grunde nicht so geraten wäre, wie sie wohl hätte geraten sollen und hätte geraten können, und während andererseits die Schwägerin sich in Danksagungen erschöpfte, stand der Wezwagarwirt oder, wie wir ihn nach Landessitte kurzweg nennen wollen, Wezwagar, mit tief in die Hosentaschen versenkten Händen dabei und schmunzelte behaglich. Er war sehr glücklich und zwar aus doppeltem Grunde: einmal, weil er an der liebevollen und bescheidenen Art, in der sein herziges Weib ihre Gaben darbrachte, seine helle Freude hatte; dann aber auch, weil er stolz darauf war, daß sein Wohlstand ihr erlaubte, nach Herzenslust zu schenken. Aus diesen Gründen war er denn auch mit dem Schenken ganz einverstanden, obgleich er der Überzeugung lebte, daß durch dasselbe ebenso viel erreicht wurde, als wenn man Wand, Schinken und Schweinefleisch gleich ins Meer geworfen hätte.

11 Die Frauen begaben sich nun in die Wohnstube, in der es schmutzig und verwahrlost aussah, so daß die Neuangekommene erst den ihr angebotenen Stuhl mit einem auf dem Tisch liegenden Lappen reinigen mußte, ehe sie Platz nehmen konnte. Die Hausfrau schien das nicht zu bemerken; sie holte sich aus der Nähe des Ofens einen hohen Schemel herbei, auf dem bisher eine große schwarze Henne Mittagsruhe gehalten hatte, und setzte sich neben die Schwägerin, die sie zärtlich umfaßte.

»Du glaubst nicht, Schwesterchen,« sagte sie dann, »wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe und wie sehr ich mich freue, dich wieder hier zu haben. Seit wir euch zu Weihnachten besuchten, habe ich die Tage bis zum Wiedersehen gezählt.«

Sie erzählte nun in ihrer geschwätzigen Art von allerlei Vorkommnissen in der Nachbarschaft und ging dann unter vielen Entschuldigungen in die Küche, um für das Mittagsessen zu sorgen.

Frau Wezwagar saß still da, lauschte dem eintönigen Brausen des Meeres und blickte thränenfeuchten Auges in der Wohnstube ihres väterlichen Hauses umher. Da hatte es ja auch, als ihr Vater noch lebte, sehr viel ärmlicher ausgesehen als in den Zimmern der wohlhabenden Bauern drüben, jenseits der Grihnen, aber sie war sauber gewesen wie ein Puppenschächtelchen und wohl im stande. Damals hatte auch noch allerlei seltsames, fremdartiges Gerät, wie es von den gestrandeten Schiffen her gelegentlich in die Hütten der Strandbauern kommt, sie geschmückt. Da 12 waren blau und weiß gewürfelte Schüsseln und Teller gewesen, eine Mahagonikommode mit blanken Messingbeschlägen, ein großes kunstvoll aus Holz geschnitztes Tintenfaß. Alle diese Herrlichkeiten, die von dem kleinen Mädchen so oft angestaunt worden waren, hatte später, als der Vater tot war, und der Sand immer weiter vorrückte, der Bruder für wenig Geld an einen jüdischen Hausierer verkauft. Was würde, dachte die junge Frau, der Vater dazu sagen, wenn er jetzt hier einträte und fände alles so schmutzig und verkommen. Sie sah im Geist sein strenges, von zahlreichen Falten durchfurchtes Gesicht sich plötzlich gleichsam zusammenfassen, während die Zornesader an seiner Stirn anschwoll. Wie hatte er selbst sie, seinen Liebling, rauh anfahren können, wenn sie es ihm nicht sauber genug gemacht hatte! Es schien ihr, als ob draußen das Meer zorniger rauschte als bisher.

Jetzt kam die Schwägerin wieder herein, auf einen Augenblick, wie sie sagte, und erzählte in aller Eile von Heinrich Dalus, der vor einigen Wochen, während er bei nächtlicher Weile den Elentieren nachstellte, vom Buschwächter überrascht, und als er sich zur Wehre setzte, erschossen worden war. Das würde übrigens dem Buschwächter schlecht bekommen, denn Hans Dalus und Peter Wilks hätten geschworen, daß sie es dem deutschen Schurken schon bezahlen wollten, und sie seien die Männer dazu, ihre Drohung wahr zu machen. Man könne sich also auf interessante Ereignisse gefaßt machen, zumal Michel Sidorow, der 13 neue Grenzreiter in Lapskaln, auch mit dem Fremden ein Hühnchen zu pflücken habe, weil er ihn bei der Marie-Lihse vom Meschinggesinde ganz und völlig aus dem Sattel gehoben habe.

Damit war die Schwägerin wieder zur Thür heraus. Die junge Frau fragte sich, während die redselige Schwägerin neben ihr schwatzte, ob der selige Vater wohl zufrieden wäre, wenn er auf ihre Wohnung und ihren Haushalt herabsehen könnte, und sie war glücklich, die Frage bejahen zu können.

Als sie so im Geiste ihr Haus mit dem der Schwägerin verglich, entschuldigte sie diese sogleich mit ihrer Armut. Ja, ja, es ist nicht schwer, Haus und Kinder ordentlich und reinlich zu erhalten, wenn man es vollauf hat; erst die Armut würde daraus ein Verdienst machen. Ach ja, die Armut!

Die Schwägerin kam wieder herein und deckte den Tisch. Frau Wezwagar seufzte schwer und fragte dann plötzlich: »Werdet ihr morgen die Pacht bezahlen können?« Die Schwägerin stutzte und errötete tief, lachte aber dann gezwungen auf und erwiderte: »O gewiß!«

Frau Wezwagar war aber nicht so leicht abzufertigen. »Du weißt doch,« sagte sie, »daß morgen der Georgitag ist, an dem die Pacht gezahlt werden muß. Habt ihr wirklich alles nötige Geld zusammen?«

»O! das ist ja nicht so viel. Du weißt doch, daß wir, seit uns der Sand auf den Hals kam, nur noch ein Dritteil der früheren Pachtsumme zu entrichten haben. Die Pacht ist jetzt nicht hoch.«

14 »Einerlei, aber habt ihr dieses Dritteil beisammen?«

»Warum sollte Jakob es nicht beisammen haben?«

Die junge Frau seufzte abermals schwer. »Jakob hat es bisher noch nie rechtzeitig gehabt,« erwiderte sie. »Hat er dir gesagt, daß er es jetzt besitzt?«

»Nein, das nicht. Wir haben noch nicht darüber gesprochen. Aber nun komm, ich muß dir doch mein Kalb zeigen.«

Die junge Frau seufzte wieder. »Herzensschwester,« sagte sie, »das Kalb können wir auch nachher besehen. Jetzt wollen wir die Geldfrage erledigen. Du weißt doch, daß der Baron am vorigen Georgi drohte, daß Jakob, wenn er noch einmal die Pachtsumme nicht voll und rechtzeitig entrichtete, von Haus und Hof müßte. Du weißt doch auch, daß der Baron immer so handelt, wie er spricht, wie kannst du da so leicht über die wichtige Frage hinweggehen? Hat Jakob das Geld?«

»Ob er das Geld hat? Aufrichtig gesagt: ich glaube nicht. Wie sollte er es auch haben? Denke doch nur an den Sand, Schwesterchen. Es wächst ja fast nichts mehr auf den Feldern. Dann weißt du ja auch, wie uns der liebe Gott in diesem Winter heimgesucht hat. O Gott, o Gott, wie hat er uns heimgesucht! Im Herbst fiel uns der Braune, zu Weihnachten wurden uns zwei Schweine so krank, daß wir sie schlachten mußten, und zu Ostern stürzte auch die schwarze Kuh. Jakob hatte nur gerade noch Zeit, sie zu töten und so das Fleisch zu retten. Ich 15 bitte dich, Schwesterchen, wie sollen wir da das Pachtgeld haben? Ich sage dir, die Leute singen Spottlieder auf unsere Armut. Heinrich Dalus sang mir noch am Tage, ehe er erschossen wurde, zu:

Ach, du lieber See von Durben,
Gönn mir einen einz'gen Gründling!
Davon kocht sich mein Gesinde
Für drei Tage Vesperkost.

Wie sollen wir da das Pachtgeld haben?«

»Was werdet ihr denn aber morgen thun?«

»Ich weiß noch nicht, was Jakob thun wird, aber er wird sich schon zu helfen wissen. Er wird sich das Geld morgen leihen.«

»Daraus wird nichts werden, Schwesterchen. Habt ihr denn gar nichts?«

»O, wir haben den größten Teil. Wie werden wir denn am Vorabend von Georgi gar nichts haben? Es fehlen uns eben nur noch einige Rubel.«

»Wieviel habt ihr denn?«

Die Schwägerin wollte mit der Zahl nicht recht heraus, aber ihr Gast ließ ihr keine Ruhe, bis sie zugab, daß sie bisher nur über einige wenige Rubel, den sechsten Teil des Pachtgeldes, verfügten.

»Herzensschwesterchen,« sagte Frau Wezwagar nun, indem sie ihr Taschentuch hervorholte und aus einem Knoten in demselben die noch fehlende Summe entnahm, »ich kann es nicht ansehen, daß Jakob aus dem Gesinde unserer Väter vertrieben wird. Da habt ihr für diesmal das Geld, aber werdet doch um Gottes willen sparsamer und umsichtiger. Ich kann euch das Geld 16 nicht alljährlich schaffen, und der Baron versteht keinen Spaß. Es wäre doch entsetzlich, wenn ihr einmal das Gesinde verlieren solltet!«

Der jungen Frau strömten, während sie so sprach, die Thränen über die Wangen. Auch die Schwägerin schluchzte laut und versprach unter nicht endenwollenden Danksagungen, künftig mit mehr Umsicht zu handeln.

Während die Frauen so miteinander Rücksprache hielten, waren die Männer draußen damit beschäftigt, daß sie das Pferd ausspannten, bedeckten und in den Stall führten. Da das als Stall dienende Gebäude sich arg gesenkt hatte, so ließ sich Wezwagars Fuchs nur mit Mühe durch die niedrige Thür bringen. Das Tier schien übrigens auch sonst keine Lust zu haben, das unreinliche Gelaß, aus dem ihm ein paar struppige Klepper entgegen wieherten, für einen Stall anzusehen, und es bedurfte energischen Zugreifens von seiten seines Herrn, um ihn hineinzubringen.

»Schwager,« sagte Wezwagar, als das Unternehmen geglückt war, »du könntest deinen Stall auch reinlicher halten. Das sieht hier eher wie eine Behausung von Schweinen als wie ein Pferdestall aus.«

»Ach, du lieber Gott,« rief der Angeredete und zog die Schultern so hoch in die Höhe, daß es aussah, als säße sein Kopf unmittelbar auf dem Rumpfe, »ach, du lieber Gott, du hast gut reden. Du hast Stroh vollauf und kannst deine Pferde, wenn du willst, auf Erbsenstroh stellen; aber wo soll ich Armer die Streu hernehmen? Ich bin froh, wenn mir der 17 Sand soviel Stroh zu ernten erlaubt, daß ich meine Pferdchen damit füttern kann.«

»Nun,« meinte Wezwagar, »du könntest dir mit getrocknetem Seetang helfen.«

»Ach, du lieber Gott, wie soll ich mir mit getrocknetem Seetang helfen! Was kann alle Streu nützen, wenn der Regen freien Zutritt hat?«

Breede wies bei diesen Worten nach oben, wo allerdings der blaue Himmel durch eine breite Bresche im Dache hineinblickte.

»Du müßtest eben mit der Reparatur des Daches anfangen,« rief Wezwagar zornig. »Wie kann man ein solches Dach auf seinem Hof dulden.«

»Ach, du lieber Gott, du hast gut reden! Ihr, die ihr drüben im fetten Lande sitzt, könnt natürlich eure Dächer in Ordnung erhalten; aber wie soll ich Armseliger damit fertig werden? Der Sand bringt mich um mein letztes bißchen Habe und Gut, und ich sehe die Zeit kommen, wo ich und die Meinigen werden mit dem weißen Stabe durch das Land ziehen müssen.«

Wezwagar stieß unmutig die Stallthür auf und trat hinaus, Breede folgte ihm. Dann wies er mit der Rechten auf den Sandberg, der, von der Stallthür aus gesehen, unmittelbar über dem Wohnhause zu hängen schien, und sagte kläglich: »Du siehst selbst, daß es Gottes Wille ist, daß wir hier zu Grunde gehen.«

18 »Ich sehe das durchaus nicht,« brach nun Wezwagar los, »ich sehe nur, daß du zu träge bist, um dir zu helfen.«

Der Schwager starrte ihn in sprachlosem Erstaunen an. »Erbarme dich, was soll ich denn aber gegen Gottes Willen thun?« rief er.

»Mißbrauche nicht Gottes Namen,« zürnte Wezwagar. »Du sollst nicht Gottes Willen bekämpfen, sondern deine eigne Trägheit. Setze in der Gemeinde durch, daß alle dir mit vereinten Kräften beistehen, und thut dann nicht halbes Werk, sondern ganzes, haltet den Sand nicht nur fest, sondern deckt ihn auch zu und macht ihn unschädlich.«

»Ach, wie sollte es mir Unglücklichem gelingen, die ganze Gemeinde meinetwegen auf die Beine zu bringen?«

»Versuche es wenigstens. Wenn es dir nicht gelingen sollte, so sprich mit dem Baron.«

»Ach, du mein lieber Gott! Wie soll ich Bettler mit dem Baron sprechen? Wie kann ich ihn bitten, um meinetwillen so große Arbeiten zu unternehmen.«

»Er wird die Arbeiten natürlich nicht um deinetwillen unternehmen, sondern um sich selbst dein Gesinde und alle anderen hinter ihm liegenden Strandgesinde zu erhalten.«

»Ach, du mein lieber Gott! Wie soll ich es wagen, mich nur vor dem Baron zu zeigen! Er hat mir gedroht, daß er mich, wenn ich künftig noch einmal die Pacht schuldig bleibe, von Haus und Hof 19 jagen würde. Die Pachtsumme ist unerschwinglich hoch; wie lange wird es währen, so kann ich sie nicht aufbringen, und dann müssen ich und die Meinigen mit dem weißen Stabe durch das Land ziehen. Der Baron ist unbarmherzig.«

»Das Pachtgeld ist durchaus nicht hoch und du würdest es mit Leichtigkeit beschaffen können, wenn du nur recht wolltest und thätiger wärest. Der Baron thut ganz recht, wenn er darauf dringt, daß du das Pachtgeld vollzählig und rechtzeitig entrichtest.«

Sie waren unterdessen an das Meer gegangen, dessen Wogen sich rauschend an der sandigen Küste brachen. Eine große Schar Möwen hielt ein paar hundert Schritte von ihnen, auf den Wogen schaukelnd, Mittagsruhe, während viele andere kreischend hin und her flogen und sich um die erbeuteten Fische balgten. Ein paar Krähen, die mit vom Winde gesträubtem Gefieder in einer Wasserpfütze einigen vom Meer an das Land geworfenen Fischen den Garaus machten, betrieben ihr Geschäft weit stiller. Am Strande lag ein tief in den feuchten Ufersand vergrabenes Fischerboot. Sonst war kein Nachen sichtbar. Rechts dehnte sich die Einöde der Limpik aus, links begannen wieder die bewaldeten Dünen. Die Gefahr nahte nicht vom Meer, sondern von der Limpik aus.

»Du fischest gar nicht mehr?«

»Ach, du mein lieber Gott! Nein. Es lohnt sich nicht mehr der Mühe, Brüderchen. Früher, als mein seliger Vater noch lebte, da fingen wir hier Butten und Strömlinge und Brätlinge, daß die Netze sie 20 nicht fassen konnten, aber jetzt sind die Fische alle in den Meerbusen gezogen. Der liebe Gott hat uns die Fische genommen und die Felder; es ist sein Wille, daß ich und die Meinigen mit dem weißen Stabe durch das Land gehen.«

Wezwagar zuckte die Achseln. Er war am Meere aufgewachsen, und der Anblick der See, den er jetzt oft lange entbehren mußte, machte ihm die Seele weit. Er trat hart an das Meer heran, so daß ihm die Wellen den Fuß umspülten, und blickte scharf hinaus in die Ferne, in der hier und da ein Segel im Sonnenschein weiß erglänzte oder ein Rauchwölkchen einen Dampfer verkündete.

Der Schwager betrachtete ihn unterdessen mit jener ehrfurchtsvollen Bewunderung, mit der der Schwache auf den Starken zu blicken pflegt. Wezwagar war ein hünenhafter Mann. Breede dachte darüber nach, ob er wohl je einen größeren Mann gesehen habe oder einen Mann mit breiteren Schultern und reicherer Muskulatur. Wie er jetzt so da stand und, gegen den Wind gekehrt, mit scharfem Blick in die Ferne spähte, hätte ihm niemand angesehen, daß er wohl dreißig Jahre älter war als seine Frau, daß er mehr als fünfzig Jahre gelebt und viel Schweres erlebt hatte.

So standen sie eine Weile. Um sie war nichts sichtbar als das grüne Meer mit seinen weißen Wellenkämmen, über denen ebenso weiße Möwen flatterten, der gelbbraune Sand der Limpik und der blaue Himmel über ihnen.

21 Nach einiger Zeit riß sich Wezwagar von seinen Erinnerungen los und wandte sich wieder zu seinem Schwager.

»Hast du das Pachtgeld für morgen zusammen?« fragte er.

»Ach, du mein lieber Gott! Wie soll ich das Pachtgeld zusammen haben? Wie soll ich eine solche Summe zusammen bringen?«

»Wie hofftest du dir denn morgen das Geld zu verschaffen? Glaubst du, es dir borgen zu können?«

»Erbarme dich! Wer wird der Kirchenmaus ein Stof Hafer leihen!«

Wezwagar stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf den Boden. »Wo willst du denn aber das Geld hernehmen?«

»Wo soll ich das Geld hernehmen? Ich und die Meinigen werden mit dem weißen Stabe durch das Land wandern müssen.«

Wezwagar wandte sich unwillig ab, und beide kehrten in das Gesinde zurück.

Gegen Abend fuhren die Gäste fort. Als Frau Wezwagar sich nach einer Weile umwandte und nach dem Hause ihrer Väter zurückblickte, sah sie den Bruder und die Schwägerin noch vor dem Hause stehen und ihnen nachsehen. Der Wind spielte mit den Zipfeln des roten Tuches, das die Schwägerin sich lose um den Kopf gebunden hatte, und die Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten hell die verwahrlosten Gebäude, den künstlichen Sandberg 22 im Hintergrunde, und die Menschen davor. Die verfallenden Werke der Menschenhand paßten nur zu gut zu der Einöde, an der sie lagen, und die sie zu verschlingen im Begriff war.

Die junge Frau hatte den Tag über oft geseufzt, sie seufzte auch jetzt wieder schwer, schwer. 23

 


 


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