Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Achtes Kapitel.

Als der Baron am folgenden Morgen sein Arbeitszimmer betrat, sagte ihm der erste Blick auf das Gesicht des Schreibers, der ihn wie immer erwartete, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte. Der Baron ließ sich aber nichts merken, sondern nahm mit ruhiger Grandezza seinen Platz vor dem Schreibtisch ein.

Der Schreiber schien heute nicht recht einen Anfang für seinen Vortrag finden zu können. Er stand eine Weile, die Hände auf den Rücken gelegt, kerzengerade da. Von Zeit zu Zeit hielt er die rechte Hand vor den Mund und räusperte sich.

»Nun?« fragte der Baron.

»Gnädiger Herr,« begann der Schreiber stockend, »ich hatte vorgestern angeordnet, daß der Waldweg für Wezwagar gesperrt würde.«

»Nun, nun?«

»Gestern morgen fuhr er aber doch durch den Wald. Als nun Klaus Jansen und Christian Bode ihm den Weg vertraten und ihn aufforderten, 123 umzukehren, fiel Wezwagar über sie her und prügelte sie furchtbar durch.«

Eine dunkle Röte überzog die Stirn des Barons. »War denn Wezwagar in Begleitung von anderen?« fragte er.

»Nein, er war allein.«

»Wie konnten sich denn aber die beiden starken Burschen von dem einen Mann überwältigen lassen?«

Der Schreiber zuckte die Achseln. »Die Buschwächter versahen sich keines Überfalles,« sagte er. »Wezwagar ist aus dem Wagen gestiegen und hat freundlich gebeten, ihn doch passieren zu lassen. Dann hat er sie plötzlich an den Kragen gefaßt und ihre Köpfe so stark gegeneinander gestoßen, daß sie betäubt zu Boden sanken. Darauf ist er über sie hergefallen und hat sie mit der Peitsche bearbeitet.«

Jetzt brannten auch die Wangen des Barons in zornigem Rot. Er sagte aber äußerlich ruhig: »So? Mit der Peitsche hat er sie geschlagen? Weiter.«

Der Schreiber schien wieder nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen. »Gnädiger Herr,« sagte er, »es ist in Waldburg noch ein anderes scheußliches Verbrechen begangen worden.«

»Nun, nun, nun?«

»Ruchlose Hände haben in dieser Nacht die Bäume, die die Allee vom Hof zur Landstraße bilden, so schwer beschädigt, daß man sie wohl alle wird umhauen müssen.«

124 »Die Bäume? Und in der Allee?« Der Baron preßte die Worte mühsam hervor. Als er seiner Zeit mit seinem jungen Weibe in das Gut seiner Väter übersiedelte, hatten ihn seine Bauern mit dieser Allee, die sie in seiner Abwesenheit angepflanzt hatten, überrascht. Die Bäume hatten die späte Umpflanzung trefflich vertragen, auch nicht einer unter ihnen war ausgegangen.

»Also die Bäume haben sie mir beschädigt!« wiederholte der Baron und starrte düster in das Gesicht des Schreibers. »Wie sind sie denn beschädigt?«

»Er ist mit dem Beil von Baum zu Baum gegangen und hat jedem eine bis in das Mark reichende Wunde geschlagen.«

Der Baron erhob sich rasch. »Kommen Sie mit,« sagte er.

Sie gingen mit raschen Schritten über den Hof und in die Allee. Der Baron ging von Baum zu Baum, langsam, bedächtig. Dann sprang er über den Graben, ging ein Stück in das Feld hinein und überblickte die grüne Wand vor ihm. Es schien ihm, als ob einige Bäume sich schon geneigt hätten. Er zog sein Taschentuch und fuhr sich damit über die Stirn.

»Sie haben recht,« sagte er dumpf, »die Bäume sind rettungslos verloren. Glauben Sie zu wissen, wer das gethan hat?«

Der Schreiber zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Gnädiger Herr,« erwiderte er, »man glaubt unwillkürlich –«

125 Der Schreiber beendete den Satz nicht.

Der Baron kehrte wieder auf den Weg zurück und ging schweigend dem Wohnhause zu.

»Gnädiger Herr,« fragte der Schreiber, der ihm folgte, »soll ich den Vorfall zur Anzeige bringen?«

»Nein.«

»Soll denn aber gar nichts geschehen, um den Verbrecher zu ermitteln?«

»Nein.«

»Aber, gnädiger Herr, das –«

Der Baron wandte sich um und blieb stehen. »Schweigen Sie, wenn Sie nicht gefragt werden,« brach er los, faßte sich aber sofort wieder und sagte ruhig: »Ich liebe es nicht, meine Anordnungen zu wiederholen. Sie können gehen, Andersohn.«

Der Schreiber zog die Mütze, verbeugte sich tief und ging.

Zu derselben Stunde pflügte Wezwagar auf seinem Felde. Als er wieder einmal bis an den Weg gekommen war, trat ein Knabe auf ihn zu, grüßte ihn und bat ihn im Auftrage Namiks diesen heute abend nach Sonnenuntergang zu besuchen.

»Sage deinem Herrn, daß ich kommen würde,« erwiderte Wezwagar, wandte sein Tier um und kehrte dem Boten den Rücken.

Nach ein paar Minuten, wie es Wezwagar schien, in Wahrheit aber nach ein paar Stunden, bändigte an derselben Stelle der Reitknecht der Baronin deren feurige, weiße Stute und rief dem Bauern: »Eh, du da!« zu. Der Bauer, der jetzt weit vom Wege 126 entfernt war, hielt einen Augenblick an, schützte seine Augen mit der Hand gegen die Sonnenstrahlen und blickte hinüber auf die Straße. Als er den Reitknecht erkannt hatte, trieb er sein Pferd wieder an und ging weiter.

»Eh, Wezwagar!« rief der Reitknecht abermals. Als er sah, daß Wezwagar ihn absichtlich nicht beachtete, ritt er auf das Feld und an ihn heran. »Wezwagar,« sagte er dann mit wichtiger Miene, »Ihr sollt sofort auf den Hof. Die Baronin verlangt nach Euch.«

Wezwagar schritt so rasch hinter dem Pfluge her, daß die Stute, auf der der Reitknecht saß, nicht mit ihm Schritt halten konnte und in leichten Trab verfiel.

»Sage deiner Baronin, daß ich auf dem Hof ganz und gar nichts zu thun habe,« erwiderte er, ohne anzuhalten.

Die frischen Wangen des jungen Reitknechts färbten sich hochrot. »Seid Ihr toll?« rief er. »Soll ich das der Baronin sagen?«

»Jawohl.«

Der Reitknecht wandte sein Roß und ritt zögernd davon, kehrte dann aber wieder um und rief: »Wezwagar nehmt Euch in acht, der Baron ist in furchtbarer Stimmung. In dieser Nacht sind alle Bäume in unserer Allee angehauen worden.«

Wezwagar ließ sein Pferd halten, betrachtete den Reiter von Kopf bis zu Fuß und sagte spöttisch: »Es könnte sich ereignen, daß Eurem Herrn noch ganz andere Dinge umgehauen werden, als die Bäume in der Allee.«

127 Der Reiter riß sein Pferd herum und jagte davon. »Zum Teufel,« dachte er, während er dem Gute zuritt, »Wezwagar hat die Bäume angehauen und niemand anders.«

Als er eben den Park erreicht hatte, sah er die Baronin sich von einer Bank erheben und ihm winken. Er sprang vom Pferde, führte das schnaubende Tier am Zügel hinter sich und trat mit entblößtem Haupt auf seine Gebieterin zu.

»Kommt er?« fragte diese schon von weitem.

»Nein, gnädige Frau. Er sagte, er habe auf dem Hofe nichts zu thun.«

Die Baronin errötete. Sie wandte sich um und ging mit raschen Schritten dem Gute zu. Der Reitknecht folgte ihr.

»Gnädige Frau –« begann er nach einer Weile.

»Was willst du?«

»Gnädige Frau, der Wezwagar hat die Bäume angeschlagen.«

Die Baronin blieb stehen. Ihre Augen funkelten. »Sagte er das selbst?« fragte sie.

Der Reitknecht wiederholte ihr nun Wezwagars Worte.

Die Baronin nickte ihm zu. »Du kannst jetzt nach Hause reiten,« sagte sie.

Sie selbst schlug einen Seitenpfad ein, der in den Garten führte. Dort suchte sie ein verstecktes Plätzchen auf und weinte bitterlich. Sie wußte, wie unbeliebt ihr Mann war, sie mußte sich sagen, daß er größtenteils selbst daran schuld war, und sie fühlte, 128 daß am Himmel ihres Glückes eine Gewitterwolke stand, die im Begriff war, sich über ihr in furchtbaren Schlägen zu entladen. In heißem Gebet bat sie Gott um Schutz für das teure Haupt ihres Mannes. Dann erhob sie sich, eilte in das Haus zurück und begab sich zu ihm in sein Arbeitszimmer.

»Würde es dich stören,« fragte sie, »wenn ich mich mit meiner Arbeit zu dir setzte?«

Der Baron nahm ihre Hand von seiner Schulter und küßte sie. »Wie könntest du mich je stören?« erwiderte er.

Der Baron sah wieder in sein Buch, die Baronin nahm auf dem kleinen Sofa hinter ihm Platz. Es war ihr ein Bedürfnis, jetzt an seiner Seite zu sein; sie hätte ihn womöglich nicht einen Augenblick allein lassen mögen.

»Fanny,« begann der Baron und schob das Buch beiseite, »wir leben in einer bösen Zeit. Alles, was bisher für unbestreitbares Recht galt, wird angegriffen, wird in Zweifel gezogen. Man scheut vor keinem Eingriffe in das Privatrecht zurück. Wir sollen dazu gedrängt werden, uns selbst in unserem Verfügungsrecht über unsere Gesinde zu beschränken. Es gibt sogar im Landtage eine Partei, die zum Nachgeben mahnt. Man müsse der liberalen Zeitströmung Rechnung tragen, sagen sie. Als ob der Liberalismus nicht unersättlich wäre! Wenn wir heute darin willigen würden, daß wir die Gesinde nur auf zwölf Jahre verpachten dürfen, so würde morgen von uns verlangt werden, daß die Bauern 129 sie auch kaufen dürfen und übermorgen, daß wir sie ihnen schenken.«

»Lieber Leo,« sagte die Baronin sanft, »thust du nicht unrecht, gerade in solcher Zeit so sehr auf deinem Rechte zu bestehen? Du warst früher den Bauern gegenüber viel nachgebender.«

»Gewiß war ich das. Früher lagen die Dinge eben anders. Früher war ich der unangefochtene Besitzer meiner Güter, ich konnte in und mit ihnen schalten wie ich wollte. Da fühlte ich mich meinen Bauern gegenüber nur als ihr Herr, der vor Gott für sie verantwortlich war. Jetzt aber, wo man mein Recht anstreitet, wo man die Bauern nicht mehr als meine Leute gelten lassen, sondern sie zu meinen Nachbarn machen will, fühle ich mich auch nur als Nachbar und halte peinlich darauf, mir keine Gerechtsame zu vergeben. Sie sollen es recht deutlich empfinden, daß sie sich als meine Leute besser standen als als meine Nachbarn.«

»Aber, Leo, was können die armen Bauern dafür, daß solche Anforderungen an euch gestellt werden?«

»Einerlei. Ich thue ihnen ja auch nichts Unrechtes. Ich stelle mich streng auf den Boden des Rechts. Das Verhältnis zwischen Edelmann und Bauer soll ja nicht mehr durch das Wohlwollen, die Gottesfurcht und die Intelligenz des ersteren geregelt werden, sondern durch Gesetze, die von den Herren Beamten am grünen Tisch ausgeklügelt werden. 130 Wohlan, ich werde mich streng an eben diese Gesetze halten. Das aber kann niemand von mir verlangen, daß ich daneben noch wohlwollend bin. Nein, jetzt gilt es, sich unbeugsam an das Prinzip zu halten. Du glaubst nicht, wie erbittert ich bin.«

Vergeblich mahnte die Baronin zu einer gleichmütigeren Auffassung der Dinge, ihr Gemahl blieb dabei, daß nur in dem starrsten Hervorkehren des formalen Rechts, in der unbeugsamsten Unnachgiebigkeit das Heil sei.

Der Bauer und die Bäuerin hatten an diesem Tage nur wenige gleichgültige Worte gewechselt. Er war nicht unfreundlich gegen sie, aber sie war daran gewöhnt, daß er ihr sonst nie begegnete, ohne ihr durch eine kleine Zärtlichkeit immer wieder zu beweisen, wie lieb er sie hatte. Jetzt ließ sie das Köpfchen traurig hängen, wie eine Blume in schwüler Gewitterluft. Die Überzeugung, daß eigentlich doch sie die Schuld an all dem Unglück trage, lähmte ihre Energie und ließ sie sich geduldig in alles kommende Unheil fügen.

So fragte sie denn auch am Abend, als Wezwagar sich ein Pferd satteln ließ, nicht, wohin er wollte, sondern half ihm nur wie gewöhnlich beim Umkleiden.

Der Wind, der den Tag über geweht, hatte sich am Abend zu heftigem Sturm gesteigert. Der Wald rauschte fast wie das Meer, wenn es vom Sturm gepeitscht, an die Küste brandet. Dieses Rauschen war Wezwagar eine altbekannte liebe Melodie. Er 131 hatte oft genug, wenn ein plötzlich ausbrechender Sturm das Meer bewegte, hinaus gemußt auf die schäumende See, um die kostbaren Netze zu retten, und es war nicht selten sehr fraglich erschienen, ob es dem Tollkühnen gelingen würde, die Küste wieder zu erreichen.

»Meeresmutter, Meeresmutter,
Gibt ein Boot mir, gib ein Boot mir!
Nun will ich hinaus ins Meer,
Kämpfen mit dem bösen Nordwind.
Ob er weißen Schaum auch aufwirft,
Weißer doch erglänzt mein Segel!«

summte Wezwagar vor sich hin, als er durch den rauschenden Wald trabte.

Bei Namik fand er außer Wilks und Pilskaln auch den Schreiber Andersohn. Alle vier begrüßten Wezwagar auf das herzlichste. Sie saßen bei einigen Flaschen Bier an einem langen, viereckigen Tisch in der Stube des Wirts.

»Nun, Wezwagar,« rief Wilks lachend, »seit wir uns zuletzt sahen, habt Ihr ein munteres Stücklein ausgehen lassen. Im Walde singen die Heher von zwei ausländischen Eulen, die sich bei Tage sehen ließen und von einer Krähe arg zerzaust wurden.«

»Du hast nicht recht gehört,« erwiderte Wezwagar. »Die beiden Eulen fielen vom Baume, weil sie mit den Köpfen aneinander flogen.«

»Die Frau des Schwarzen soll sich aus dem Krug ein Stof Spiritus haben holen lassen, um die Beule genügend waschen zu können,« meinte Namik. 132

»Des Buschwächters feines Liebchen,
Seht, wie stolz es fährt zur Kirche,
Eine Sohle hat der Schlitten,
Nur drei Füße hat das Rößlein!«

spottete Wilks.

»Ja, du hast einen starken lettischen Arm,« sagte Andersohn.

Wezwagar schien das Wort nicht zu beachten, um Namiks Lippen spielte ein Lächeln.

»Ja,« fuhr der Schreiber fort und stützte sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger, so daß seine dicken Wangen zu beiden Seiten überquollen. »Ja, die Arme der Männer aus unserem Volk sind stark wie die Lihgos, aber der böse Pikulos hat ihnen das mutige Herz aus dem Busen genommen.«

»Was sagst du?« fragte Pilskaln aufhorchend. Der junge Mann war sehr ernsthaften Temperaments und kam jeder Sache gern auf den Grund.

»Ich sagte, daß Perkunos den Jünglingen unseres Volkes so viel Kraft verlieh, daß sie auch heute noch auf ihren schneeweißen Sonnenpferden hinausreiten könnten zu den Sonnenjungfrauen der Freiheit, wenn der böse Pikulos nicht ihrem Mut die Sehnen durchschnitten hätte.«

»Wer ist Perkunos? Wer ist Pikulos?« fragte Pilskaln eifrig.

»Sprich verständig,« rief Wilks ungeduldig. »Wir sind hier nicht zusammengekommen, damit du uns dein Kauderwelsch auskramst, sondern um zu beraten, wie wir mit dem Baron ein Ende machen.«

133 Andersohn zuckte die Achseln. »Wenn du,« sagte er und zog die Brauen hoch, »von den alten Göttern unseres Volkes nichts wissen willst, so werden sie auch ihrerseits dich in der Stunde der Gefahr im Stich lassen.«

»Das wäre weiter kein Unglück,« meinte Wilks. »Ich werde mich immer mehr auf mich selbst als auf diese alten Gespenster verlassen.«

»Laß dich nicht irre machen, Andersohn,« rief Pilskaln ärgerlich. »Erzähle nur.«

»Freunde,« begann dieser jetzt wieder und blickte düster vor sich nieder, »wir hassen unseren Baron, und wir haben allen Grund dazu, denn es ist niemand in der Gemeinde, den er nicht beleidigt, dem er nicht unrecht gethan hätte. Wir wollen ihn deshalb vernichten. Gut, aber ist damit alles gethan? Wir werden zwar den Herrn wechseln, aber wir werden immer unter fremder Herrschaft bleiben. Freunde, unser Volk war nicht immer ein geknechtetes! Es gab eine Zeit, in der unsere Vorfahren das Land, das sie ackerten, für sich selbst bestellten und ihnen alles gehörte: das Wild im Walde und der Fisch im See. Unsere Vorfahren waren kein kriegerisches Volk. Sie lebten mit ihren Nachbarn im Frieden, niemand konnte sich über sie beklagen. Friedlich saßen sie auf ihren Höfen und begingen dann nach fleißiger Arbeit während der Wochentage am Sonntag fröhliche, unschuldige Feste. In heiligen Hainen brachten ihre Priester den Göttern unblutige Opfer von den Früchten des Feldes und des Gartens.«

134 Der Redner hielt inne und seufzte schwer auf. Dann fuhr er fort: »Da kamen die Deutschen. Wie Wölfe über eine Schafherde fielen sie über unsere friedliebenden Vorfahren her. Sie verbrannten die Häuser und die Saaten, töteten die Männer und machten die Frauen und Kinder zu Sklaven. Bisher war in unserem Lande nie Menschenblut vergossen worden, unsere Männer verstanden es daher anfangs nur schlecht, sich der Feinde zu erwehren. Aber sie ermannten sich merkwürdig rasch, und eine lange Reihe junger Helden trat an ihre Spitze. Dabrel, Westhard, Nameise und viele andere wurden bald der Schrecken der Deutschen. Aber sie kämpften vergeblich. Was die Deutschen mit dem Schwert nicht vermochten, erreichten sie durch ihr Geld. Es fanden sich Verräter, und unser Volk erlag. Die Tapfersten wanderten zu den Litauern aus, die Schwächeren unterwarfen sich und wurden Sklaven der Deutschen.«

»Pfui! Zu den Litauern!« rief Wilks verächtlich.

»Die Litauer sind unsere Brüder,« belehrte Andersohn.

»Schöne Brüder«, lachte Wilks. »Katholiken sind sie!« Und er sang:

»Du Litauer, Teufelskind,
Wer wies dich in unser Land?
Grütze kocht dir deine Mutter,
Mit der Hündin Fuß sie rührend,
Mit des Huhnes Fett sie schmierend,
Schweinemilch dazu noch gießend.«

»Warum kamen denn aber die Litauer unseren Vorfahren nicht zu Hilfe?« fragte Pilskaln wißbegierig.

135 »Weil sie selbst sich der Deutschen nur mit Mühe erwehrten. Die einzigen, die uns allenfalls hätten zu Hilfe kommen können, waren die Russen, aber die wurden damals auch von einem fremden Volk hart bedrängt.«

Wezwagar hatte aufmerksam zugehört. Der Passus, der von den Göttern handelte, erschien ihm ruchlos, die Reminiscenz an die Sonnentöchter albern, was aber Andersohn aus der Geschichte zum Besten gab, nahm sein volles Interesse in Anspruch. Lagen die Dinge so, so war der Baron nicht nur sein persönlicher Gegner, sondern auch der Feind seines Volkes.

Namik verhielt sich ebenfalls schweigsam, unterdrückte von Zeit zu Zeit ein Gähnen und beobachtete Wezwagar scharf. Jetzt sagte er:

»Ganz richtig, Andersohn, aber wir sind in der Hauptsache so weit wie gewesen. Was soll jetzt geschehen?«

»So ist's recht,« rief Wilks feurig, »vergeuden wir nicht die kostbare Zeit.«

»Freunde,« erwiderte Andersohn, »das ist eine Sache, die sehr schlau angefangen sein will.«

»Nun, wie schlau denn doch? Ich denke, das schlaueste ist, daß ich dem Baron eines Tages im Walde auflauere und ihn niederschieße.«

Wilks sprach von dieser Möglichkeit, wie wenn es sich um die Tötung eines Rehbocks gehandelt hätte. Die raschen Worte wirkten aber auf Wezwagar wie ein greller Blitz, der dem Wanderer den jähen Abgrund zeigt, auf den er zuschreitet. Fahle Blässe 136 überzog sein Gesicht, und sein Körper zitterte. Das, wovon der junge Mann so leichtfertig sprach, hatte sich ja auch aus den Tiefen seiner Seele erhoben, freilich nur wie eine Ausgeburt der Hölle, deren Anblick ihn aufs tiefste erschüttert hatte. Er hatte oft genug ähnliche Äußerungen vernommen; das waren aber immer leere Drohungen gewesen, während es jetzt blutiger Ernst war.

»Männer,« sagte er, »der Baron ist immerhin ein Mensch.«

»Leider Gottes,« erwiderte Wilks leichtfertig. »Eben deshalb muß er niedergeschossen werden.«

»Landsleute, ihr wißt alle, daß der Baron mir schweres Unrecht zugefügt hat. Ich bin auch fest entschlossen, dasselbe abzuwehren, aber das, was ihr plant, ist Mord!«

»Ich bin ebenfalls nicht dafür,« rief Namik eifrig. »Schießen wir ihn nieder, so ziehen wir uns eine lange Untersuchung auf den Hals. Außerdem hat Wezwagar ganz recht: Mord ist Mord. Es gibt auch sonst genug Mittel, einen Mann aus seinem Gut zu vertreiben.«

Andersohn blickte lächelnd zu Namik hinüber, schwieg aber. Wilks schnitt mit seinem Taschenmesser eifrig Späne aus der Bank, auf der er saß, Pilskaln blickte voll Spannung auf Wezwagar.

»Freunde,« nahm dieser wieder das Wort, »auch diese anderen Mittel sind schwere Verbrechen. Der Baron ist unser Feind, und, wie wir eben gehört haben, auch der Feind unseres Volkes, wir wollen 137 aber trotzdem kein Verbrechen an ihm begehen. Wir wollen ihn in Riga verklagen, wir wollen eine Deputation nach Petersburg schicken. Wir wollen immer und immer wieder klagen, bis wir unser Recht bekommen.«

»Ich klage nicht, wahrhaftig nicht,« rief Wilks. »Wollt ihr die Wölfe um ein Lamm bitten, so thut es, ich halte mich daran, daß in Memel Flinten genug zu haben sind. Wo wir auch klagen, überall klagen wir bei Baronen über Barone, sie sind die Wölfe, sie sind auch die Hirten, laufen wir vor den Wölfen davon, so laufen wir den Bären in die Arme. Wie kommen wir armen Bauern zu unserem Recht? Wie kommt der Hund zu einem Wolfspelz?«

»Ich klage auch nicht,« sagte Pilskaln entschlossen.

»Wir wollen uns deinen Vorschlag noch überlegen,« meinte Namik. »Ich fürchte aber auch, daß unsere Klagen zu nichts führen werden.«

Wezwagar erhob sich. »Ich habe in meiner eignen Sache in Riga klagen lassen,« sagte er, »und ich hoffe, den rechten Mann dafür gefunden zu haben. Wir wollen zunächst abwarten, welchen Erfolg meine Klage hat. Kann der Herr, der sie führt, mir helfen, so wird er auch uns allen helfen können. Versprecht mir, Wirte, daß ihr nichts unternehmen werdet, ehe wir uns überzeugt haben, ob es für den Bauern wirklich kein Recht im Gottesländchen gibt.«

»Das wollen wir dir gern versprechen,« erwiderte Namik rasch. »Auch wir würden nur höchst ungern, und nur im äußersten Falle zur Selbsthilfe greifen.«

138 Wezwagar verabschiedete sich nun von den Wirten. Namik gab ihm bis auf den Hofplatz das Geleite. »Sei unbesorgt, Wezwagar,« sagte er, »dem Baron soll ohne dein Wissen kein Haar gekrümmt werden.«

Als Wezwagar durch die stürmische dunkle Nacht nach Hause ritt, war ihm zwiespältig zu Mut. Er wußte nicht, ob er sich über seine Handlungsweise freuen oder sie bedauern sollte. Das Wort »niederschießen« hatte alle guten Seiten in ihm wach gerufen: sollte er es ruhig ansehen, wie ein Mord verübt wurde? Und doch – er haßte den Baron, der ihn aus seinem lieben Wezwagar vertrieb, der ihm diesen unseligen Zwiespalt in die bisher so ruhige Seele gelegt und das Böse in ihm zu einer Macht wachgerufen hatte, über die er sich selbst entsetzte. »Ich werde schon zu meinem Recht kommen,« murmelte er, »und die anderen auch. Aber wenn meine, wenn unsere Klagen abgewiesen werden? Wenn sie nur neue Ungerechtigkeit hervorrufen? Was dann?« Der Bauer mochte sich die Fragen nicht beantworten.

Der Schreiber hatte ausgeführt, daß der Baron schon als Deutscher ein Feind seiner Bauern, der Letten, sei. Waren denn aber der würdige Pastor, der allezeit hilfsbereite Doktor, waren die beiden Barone Einhausen, Vater und Sohn auf Meschgallen und Neuhof, die von ihren Bauern auf Händen getragen wurden, wirklich Feinde seines Volkes? Ja, war der Waldburgsche ein Feind seines Volkes? War er auch nur sein Feind? War der Mann, der für die Rettung von ein paar ihm fremden Bauern sein 139 Leben gewagt hatte, ein schlechter Herr? War er nicht, wofür er ihn immer gehalten hatte, ein eigensinniger, aber guter und wohlmeinender Mann? Hatte nicht Wezwagars eigene Heftigkeit das Unglück verschuldet? Lag der Feind, den er zu bekämpfen hatte, nicht in seiner eigenen Brust?

So riefen die guten Geister in Wezwagar, aber der eine Gedanke, um eines Eies willen nicht nur sein Gesinde, sondern auch sein Lebensglück verlieren zu müssen, übertönte in lautem Aufschrei alle ihre Stimmen.

Als er zu Hause durch das Fenster blickte und seine Frau, die noch auf war und auf ihn wartete, in der heiligen Schrift lesen sah, that es ihm unsäglich wohl, daß er gegen den Mord gesprochen hatte. Er wollte mit dem Baron prozessieren und wenn es ihm all sein Hab und Gut kosten sollte, aber die finstere Vorstellung, die ihn in den letzten Tagen beständig verfolgt hatte, war verschwunden seit ein anderer mit lauter Stimme vom »Niederschießen« gesprochen hatte.

Trotzdem stand das Erlebte noch immer zwischen ihm und seinem Weibe. Die Eheleute sprachen nur von gleichgiltigen Dingen.

Als Wezwagar das Namikgesinde verlassen hatte, und der Hausherr ins Zimmer zurückgekehrt war, rief Wilks zornig: »Der ist nicht unser Mann.«

Andersohn lächelte. »Sei unbesorgt,« sagte er, »noch ist er es nicht, aber wenn wir den Hafer schneiden, wird er es sein.«

140 »Wie meint Ihr das?«

»Nun, jetzt glaubt er noch an seinen Prozeß, wenn er aber den verloren haben wird, wird er unser Mann sein. Ich kenne die Strandbauern, sie sind anders als wir. Es ist ein langsames Volk, geraten sie aber einmal in Feuer, so schrecken sie vor nichts zurück.«

»Sollen wir denn aber bis zum Herbst warten?« rief Wilks. »Ich halte es mit dem Liede:

Ach du dicker Feldaufseher,
Morgen sengt man dir das Fell ab,
Morgen sengt man dir das Fell ab,
Hängt am Fuß dich in die Hölle!«

»Bewahre,« erwiderte Namik. »Wir wollen unsererseits vorgehen und dem Baron das Leben so sauer machen als möglich. Bleibt er trotzdem bis zum Herbst im Bau, so lassen wir Wezwagar auf ihn los.«

»Der hält aus,« rief Wilks, »der hält aus, es sei denn, daß wir etwas Teufel spielen und ihn ausräuchern,

Teufel ließ den Deutschen tanzen
Auf glühroter Ziegeldiele.
Sprang der Deutsche noch so hoch auch,
Teufel heizte stets aufs neue!«

»Nun,« meinte Andersohn, »darüber ließe sich auch noch reden. Die Bäume haben ihm tüchtig zu schaffen gemacht.«

»Andersohn,« fragte Pilskaln plötzlich, »warum hassest du den Baron so bitterlich?«

141 »Das will ich dir sagen. Einmal, weil er der Feind meines Volkes ist, dann aber auch, weil er mich persönlich gekränkt hat. Als er mich in Dienst nahm, machte er mir zur Bedingung, daß ich immer nur Schmierstiefel tragen und nie anders als lettisch reden dürfe.«

»Nun,« meinte Wilks, »da du doch ein so eifriger Lette bist, so sollte man annehmen, daß die letztere Bedingung für dich nichts Kränkendes enthalten könne.«

»Du irrst,« erwiderte Andersohn bitter. »Diese Bedingung kränkt mich nicht, weil sie verlangt, daß ich immer nur meine Muttersprache spreche, sondern weil ich weiß, daß der Baron sie nur stellte, um mich niederzudrücken und im Knechtszustande zu erhalten. ›Ich wünsche,‹ sagte er damals, ›daß Sie den Leuten mit gutem Beispiel vorangehen und auch äußerlich in den Schranken, die Ihren Stand begrenzen, bleiben.‹ Der Stand aber, den er meinte, war der von ihm verachtete Bauernstand.«

Alle vier steckten jetzt die Köpfe zusammen und berieten leise mit einander. Dann brachen Andersohn, Wilks und Pilskaln auf. 142

 


 


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