Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Siebentes Kapitel.

Die Baronin hatte recht, die Bäuerin war in der That sehr, sehr glücklich. So war denn die ganze unselige Geschichte endlich beigelegt und erledigt.

Wie freute Frau Wezwagar sich jetzt über den warmen Regen, durch den sie dahinfuhr, über den lustigen Gesang der Vögel und den wonnigen Waldgeruch.

Zu Hause ging sie, an jeder Hand eines der größeren Kinder führend, erst in ihr Gärtchen zu ihren Blumen, dann in den Stall zu ihren Kühen und endlich so weit hinaus auf den Weg, daß sie ihr schmuckes Gesinde ganz überschauen konnte. Es war ihr, als ob sie es eben erst zum Geschenk erhalten hätte.

Dann begab sie sich in ihre Vorratskammer. In der standen auf einem durchlöcherten Brett eine lange Reihe Eier. Die Bäuerin lächelte glücklich. Sie wählte das größte aus, wusch es, obgleich es ohnehin weiß und sauber war, noch einmal ab und legte es dann in das Wandschränkchen. ›Künftig werden wir 107 es nicht wieder vergessen,‹ dachte sie. Sie setzte sich dann mit einem Strickstrumpf an das geöffnete Fenster und wartete auf die Rückkehr ihres Mannes.

Wie sie so dasaß und das heute Erlebte noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, kam ihr der Gedanke, daß sie die Gelegenheit hätte benutzen und auch für ihren Bruder hätte bitten sollen, allein sie verwarf ihn wieder. Einmal hätte das wie Undank ausgesehen; dann aber konnte Jakob sich in seinem Gesinde doch nicht halten. Ihm würde es besser gehen, wenn er unter des umsichtigen Wezwagars Leitung diente, als wenn er fortfuhr, sein eigner übelberatener Herr zu sein. Wie schön, daß sie den Ihrigen jetzt wieder ein dauerndes Asyl gegen die Stürme des Lebens bieten konnte! Es war, als ob ihr seliger Vater, mit dem sie ja so oft im Geiste Rücksprache hielt, ihr in seiner kurzen Weise für ihr energisches Verfahren lobend zunickte. Sie stand auf und begab sich in die Kleiderkammer. In der hing mitten unter den Kleidern der Bäuerin eine alte grobe Fischerjacke. Diese Jacke hatte ihr Vater in den letzten Jahren seines Lebens getragen. Die Bäuerin streichelte die Jacke sanft und küßte ihren Ärmel. Dann schob sie dieselbe wieder mitten unter ihre Kleider, als wenn sie es mit einem lebenden Wesen zu thun hätte, das es gern recht warm hat, kehrte auf ihren Platz am Fenster zurück und wartete – wartete.

Ihr Mann war am Morgen in tiefen Gedanken davongefahren. Der Fuchs trabte behaglich auf dem ihm 108 wohlbekannten Wege dahin, der Bauer hielt die Fahrleine lose in der Hand und lehnte den Kopf schwer auf seinen auf das rechte Knie gestützten Arm. Plötzlich blieb das Tier stehen, der Wagen hielt mit einem Ruck still, und der Bauer fuhr aus seinen Gedanken auf. Zwei Buschwächter hatten dem Pferde den Weg vertreten und betrachteten den Bauer mit schadenfrohem Lächeln.

»Was wollt ihr?« rief der Bauer.

Zwischen den Buschwächtern des Barons, die ausnahmslos Hannoveraner oder Holsteiner waren, und den Bauern bestand das schlechteste Verhältnis. Die Buschwächter waren bemüht, die ihnen aus ihrer Heimat her geläufigen strengen Waldordnungen aufrecht zu erhalten, den Bauern waren die Fremden verhaßt, als Fremde und als gefügige Werkzeuge des Barons. Auf seinem Sündenregister stand die Verdrängung der einheimischen und die Berufung der fremden Buschwächter in den Augen der Bauern obenan. Wezwagar dachte und fühlte in dieser Beziehung ganz wie seine Gemeindegenossen.

»Was wollt ihr?« fragte er nochmals.

»Das wirst du sogleich sehen,« erwiderte der eine der Buschwächter, ein hoher schlanker Jüngling mit rötlichem Schnurr- und Knebelbart. Zugleich begannen er und sein Kamerad das Pferd des Bauern auszuspannen.

Der Bauer sah ihrem Beginnen erst mit sprachlosem Erstaunen zu, dann aber sprang er aus dem Wagen und trat, vor Zorn bebend, vor sie hin.

109 Der andere Buschwächter, ein hünenhafter Mann mit einem rundlichen Gesicht und schwarzem Vollbart, meinte kaltblütig: »Du darfst nicht durch den Wald fahren; wir werden dir dein Pferd pfänden.«

Jetzt verstand der Bauer, was sie wollten. Blitzschnell beugte er sich vor, ergriff mit der Riesenkraft der äußersten Wut die beiden, die sich dergleichen nicht versahen, an den Rockkragen und stieß ihre Köpfe so hart gegeneinander, daß sie betäubt zu Boden sanken. Dann schwang er sich in seinen Wagen und jagte davon.

Das war denn doch zu toll! Der Baron wollte ihn also nicht nur von Haus und Hof treiben, sondern ihm auch noch die letzte Zeit verbittern, die er noch in seinem Gesinde verleben durfte. Eine unsägliche Bitterkeit erfüllte Wezwagars Herz. Er wollte es erst noch auf dem Wege der Klage versuchen, sollte er aber nicht durchdringen, nun dann wollte er sein Recht selbst vertreten. Eine wilde verzweifelte Energie bemächtigte sich seiner und schlug für den Augenblick wenigstens alle Erwägungen nieder. Wezwagar wunderte sich selbst darüber, wie ruhig es in ihm wurde.

In der Stadt begab er sich zunächst zu einem ihm bekannten Gymnasiallehrer, um sich bei diesem nach einem Advokaten zu erkundigen. Er hatte den Herrn, der ein Schwiegersohn des Pastors war und durch dessen Vermittlung vom Baron die Erlaubnis erhalten hatte, in den Waldburgschen Forsten zu jagen, dadurch kennen gelernt, daß der junge Mann 110 ein paarmal im Wezwagargesinde Mittagsruhe gehalten und das ihm gastfreundlich angebotene Mahl gern geteilt hatte. Der Herr Oberlehrer war denn auch jetzt sehr liebenswürdig, fragte Wezwagar nach dem Befinden von Weib und Kind und gab ihm schließlich die gewünschte Adresse. »Der Herr ist ein eifriger Bauernfreund,« fügte er lächelnd hinzu.

Bei dem Advokaten fand Wezwagar nur schlechten Trost. Sobald derselbe erfahren hatte, daß Wezwagar zu ihm komme, um seine juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sprang der hochgewachsene lebhafte Mann auf und lief mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder.

»Da kann ich Euch ganz und gar nicht helfen,« rief er aus und fuhr sich mit der Rechten durch sein rotblondes lockiges Haar. »Wir dürfen uns in Bauernrechtsachen ganz und gar nicht mischen.«

Der Bauer, der bescheiden an der Thüre stehen geblieben war und seine Mütze hin und her drehte, fragte jetzt mit funkelnden Augen: »Herr, sind wir Bauern denn keine Menschen? Das Recht gilt doch für alle?«

Der Advokat blieb vor dem Bauer stehen, blinzelte ihn spöttisch an und schrie dann:

»Menschen? Oho, ob ihr Bauern Menschen seid? Oho, famos! Bei uns, in unserem gottgesegneten Kurland sind nur die Barone Menschen. Wir anderen sind alle miteinander nur halbe Menschen! Wir dürfen in unserer eignen Heimat nicht eine Lofstelle Land besitzen, wir dürfen nicht in die Gerichte, wir 111 dürfen nicht auf den Landtag. Ich kann Euch ganz und gar nicht helfen, und kein Advokat kann Euch helfen. Keiner. Auch nicht einer.«

»Herr,« sagte der Bauer und preßte die Lippen fest aufeinander, »Herr, wird das immer so bleiben?«

»Oho! Ob das immer so bleiben wird? Oho! Natürlich wird das immer so bleiben! Es ist immer so gewesen im Gottesländchen und wird auch immer so bleiben!«

»Dann lebt wohl, Herr,« sagte der Bauer und ging. Als er ein paar Stufen der Treppe hinabgestiegen war, öffnete sich oben noch einmal die Thüre, der Advokat steckte den Kopf heraus, schrie: »Das wird immer so bleiben im Gottesländchen!« und schlug die Thüre wieder zu.

Der Bauer ging langsam in die Einfahrt zurück, in der er sein Pferd abgestellt hatte, setzte sich in der Schenkstube auf eine Bank und versank in tiefes Nachsinnen. Er hatte bisher nie Veranlassung gehabt, über die socialen und politischen Zustände seiner Heimat nachzudenken, ja er war solchen Gesprächen geflissentlich aus dem Wege gegangen. Wenn Andersohn und Namik im vertrauten Kreise neuerdings oft ausführten, daß die Gesinde eigentlich den Bauern gehörten und ihnen nur mit Gewalt genommen seien, so war ihm das immer wie müßiges, ja wie gottloses Gerede vorgekommen. »Wenn wir den Baronen ihre Gesinde nehmen würden, so müßten wir sie bald weiter an unsere Knechte und Jungen geben,« hatte er in solchen Fällen gesagt. »Wir haben auf sie 112 nicht mehr Anspruch als diese.« Jetzt aber sah er die Sache anders an. Waren die Zustände wirklich derartige, daß es für die Bauern kein Recht gab, dann war es allerdings angezeigt, daß auch diese sich um sie kümmerten. Aber war dem wirklich so? Und dann die Hauptsache: »War er, Wezwagar, in seinem Recht?«

Nach einer Weile kamen zwei ihm fremde Bauern ins Zimmer, grüßten ihn, setzten sich an denselben Tisch und ließen sich Bier geben.

»Ich sage dir,« rief der eine, »der Mann führt deine Sache zu einem guten Ende. Als vor ein paar Jahren mein Neffe Heinrich aus dem Gesinde sollte, da nahm er die Sache in die Hand und mein Neffe blieb darin, obgleich der ganze Domänenhof hinter her war.«

»Na ja,« erwiderte der andere, »das war etwas anderes, jetzt handelt es sich aber um einen Baron. Das ist ein ander Ding.«

»Ach was, Baron! Ich sage dir ja, der Herr Mukowski ist selbst ein Baron, wenn auch keiner von den hiesigen.«

»Was ist der für ein Baron! Er mag ein litauischer Baron sein.«

Der andere Bauer lachte. »Einerlei,« sagte er, »Baron oder nicht, jedenfalls geschieht, was er will.«

»Wie geht denn das aber zu?«

»Nun, das will ich dir sagen. Er angelt mit einer goldenen Angel. Sein Schwager, der Herr Knarrwitz, ist der beste Freund von einem hohen 113 Beamten beim Generalgouverneur. Ich nehme z. B. Euren Fall an. Herr Mukowski schreibt an Knarrwitz, und dieser ladet den Herrn zu sich ein. Es läßt sich's natürlich was kosten und setzt ihm das Beste vor: lauter Schweinefleisch, Wein zu einem Rubel und Cigarren zu fünf Kopeken. Nach dem Essen, wenn der Herr schon etwas betrunken ist, sagt der Knarrwitz: ›Höre, Freundchen, wollen wir ein Partiechen machen?‹ ›Schön,‹ sagt der Herr. Nun machen sie ein Partiechen und der Herr gewinnt natürlich. Er gewinnt fünfzig bis hundert Rubel. Jetzt fragt Mukowskis Freund: ›Höre Freundchen, ich habe dort unten in Kurland einen Freund. Zu dem sind die J..schen Bauern gekommen und haben ihm geklagt, daß ihr Baron ihre Gesinde einziehen und in Beihöfe verwandeln wolle.‹ ›Wer ist der Freund?‹ fragt der Herr. ›Mukowski,‹ sagt Knarrwitz. ›Ah, Mukowski,‹ sagt der Herr. ›Na, den kenne ich, was der sagt, ist wahr. Mein Herr wird die Barone lehren, den Bauern ihre Gesinde nehmen!‹«

»Na, der Generalgouverneur wird schwerlich unseretwegen mit den Baronen anbinden.«

»Schweig! Davon verstehst du nichts. Der Generalgouverneur kann alles. Wenn er zu einem Baron sagt: ›Du, bringe mir drei Pferdeschädel zu Fuß von Mitau nach Riga,‹ so muß der das thun.«

»Wirklich?«

»Ich sage dir ja, er kann alles. Mukowski aber ist nicht wie unsere Advokaten, die mit uns Bauern 114 nichts zu thun haben wollen, Mukowski hat ein Herz für uns.«

»Er ist aber schändlich teuer.«

»Ja, Brüderchen, das kann nicht anders sein. Wer gibt armen Kindern Weißbrot?«

Wezwagar hatte aufmerksam zugehört. Jetzt fragte er: »Landsleute, wo wohnt der Herr, von dem ihr sprecht?«

Die Bauern nannten ihm die Adresse und fragten, was er dort wolle.

Er erwiderte kurz, er habe auch einen Rechtsstreit, stand auf und ging.

Nachdem Wezwagar die Magd, die ihm die Thür öffnete, nach Herrn von Mukowski gefragt hatte, führte diese ihn in ein Zimmer und hieß ihn dort warten. Es seien noch viele Leute vor ihm abzufertigen, hieß es. Wezwagar setzte sich und wartete geduldig. Das Zimmer sah höchst sonderbar aus. Die Wände waren durch Bücherregale verdeckt, deren untere Bretter sich unter der Last von Folianten bogen, während die oberen große Gläser trugen, in denen in Spiritus Schlangen, Eidechsen &c. aufbewahrt waren. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers standen eine ausgestopfte Eule mit großen Glasaugen und ein gewaltiger Globus.

Wezwagar mußte eine gute Stunde warten. Vergeblich horchte er, ob denn die vielen Leute gar nichts von sich hören lassen würden – es blieb rings um ihn totenstill. Endlich öffnete sich geräuschlos eine Thür, und es erschien ein Mann auf der 115 Schwelle des Zimmers, der kaum weniger ungewöhnlich aussah als dieses selbst. Er war ein großer, starkgebauter Mann, und ein blauschwarzer Vollbart hing tief auf seine Brust herab. Unter der hohen Stirn blickten ein paar ungewöhnlich große Augen kalt und streng durch die in Gold gefaßte Brille. Die Gestalt war in einen silbergrauen Schlafrock mit scharlachroten Aufschlägen gehüllt.

Der Bauer erhob sich und blickte verwirrt auf die ungewöhnliche Erscheinung. »Guten Tag, Wirt,« begann Herr von Mukowski mit tiefer hohler Stimme. »Setzen Sie sich.«

Als sie platz genommen hatten, zog Herr von Mukowski eine große goldene Uhr aus der Tasche, ließ sie repetieren und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann sagte er: »Und nun, ehe Sie mit Ihrer Klage beginnen, eine Bemerkung: Seien Sie ruhig und kalt! Man hat Ihnen schweres Unrecht gethan, ich weiß es, aber seien Sie trotzdem ruhig und kalt. Erzählen Sie von Anfang bis zu Ende, lassen Sie nichts aus, verschweigen Sie nichts.«

Dem Bauer war das Herz unsäglich schwer. Es war ihm, als ob die Erlebnisse der letzten Tage und die phantastische Umgebung, in der er sich jetzt befand, seinen gesunden Verstand in Fesseln geschlagen hätten, und er rang vergeblich danach, ihn wieder frei zu bekommen. Ein dumpfes abergläubisches Gefühl drückte ihm das Herz zusammen, es war ihm, als ob der da drüben der Böse wäre, dem er nun seine unsterbliche Seele verkaufen müsse. Mühsam sammelte er 116 seine Gedanken soweit, daß er mechanisch den Hergang erzählen konnte. Erst im Laufe der Erzählung stieg der Haß gegen den Baron wieder heiß in ihm auf, und er sprach nun lebhaft weiter.

Herr von Mukowski hörte ihm schweigend zu. Auch als Wezwagar geendet hatte, schwieg er noch eine Weile. Dann sagte er: »Ihnen kann geholfen werden.«

»Wirklich, Herr?« rief der Bauer, »wirklich?«

»Ja, Ihnen kann geholfen werden; aber es wird viel Geld kosten, viel Geld.«

»Das thut nichts,« erwiderte der Bauer, »das sollen Sie haben. Wieviel kostet es?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Zunächst müssen Sie mir hundert Rubel geben.«

»Herr, ich bringe sie Ihnen morgen.«

»Gut. Vergessen Sie aber nicht, daß ich, ehe ich das Geld habe, in Ihrer Sache nichts thun kann. Gar nichts.«

»Herr,« fragte der Bauer, »ist meine Sache wirklich ganz sicher.«

»Ganz sicher. Wer es versteht, dem fördert sich's.«

»Herr, hat denn aber der Baron nicht das Recht, mir, wenn er will, zu kündigen und sich einen anderen Wirt für Wezwagar zu suchen?«

»Sollte er das Recht haben, dich um eines vergessenen Eies willen aus dem Gesinde zu stoßen?«

»Ja, das ist wahr!« Wezwagar, der von seinem Recht keineswegs ganz überzeugt war, klammerte sich an die Wertlosigkeit des Eies.

117 »Es gibt noch Recht und Gerechtigkeit in Kurland,« fuhr Herr von Mukowski fort. »Die Barone sind meine Brüder, aber wo es sich um die Gerechtigkeit handelt, gilt vor mir kein Ansehen der Person.«

»Aber Herr, das Gesinde gehört doch ihm, er kann es doch verpachten an wen er will?«

»Das Gesinde gehört nicht ihm. Die Gesinde gehören nicht den Baronen, sie gehören den Bauern. Die Barone haben sie zwar an sich gerissen, aber« – hier erhob Herr von Mukowski seine Stimme – »aber ehe noch einmal Eis aus dem See in das Meer treibt, wird der Adler unter die Krähen fahren und ihnen die verwundeten Küchlein entreißen. Ich habe sichere Kunde davon. Ich hörte eine Schwalbe zwitschern, die aus Riga kam. Höre auf das, was ich dir sage: Kein Mensch darf einen anderen aus seinem Gesinde stoßen, weil der ein albernes Ei nicht entrichtete. Ein Ei, ein Ding, das keinen Groschen wert ist, darf ein Lebensglück nicht zerstören. Kein Mensch darf dich ferner hindern, so lange du noch im Gesinde bist, durch den Wald zu fahren, denn ihr habt nichts über die Stunde verabredet, in der das Ei entrichtet werden mußte. Ertrotze aber dessenungeachtet den Weg jetzt nicht. Du hättest ihn heute nicht befahren sollen. Du hast dir dadurch geschadet, denn jetzt wird der Baron über Gewalt schreien und das Recht wider dich anrufen. Gehe jedem Streit sorgfältig aus dem Wege, verlaß dich ganz auf mich und auf dein Recht. Bringe mir jedenfalls 118 die hundert Rubel. Bringe sie sobald du kannst, in jedem Fall aber vor Sonnabend mittag. Ich fahre Sonnabend mittag nach Riga. Ich kann und will dir nicht mehr sagen als: ich fahre Sonnabend mittag nach Riga!«

Herr von Mukowski erhob sich. »Leben Sie wohl,« sagte er. »Kommen Sie gut nach Hause.«

Damit war die Audienz zu Ende.

Als der Bauer wieder auf der Landstraße war, suchte er lange vergeblich seine Gedanken zu ordnen. Was war das alles gewesen? »Das waren Possen und dahinter steckt nichts als schnöder Betrug,« rief eine Stimme in seinem Innern; »Thorheit,« riefen zehn andere, »du bist an die rechte Quelle gekommen. Der Mann kann dir helfen, wie er den Bauern in der Schenke geholfen hat. Würde er sonst wohl so fest und sicher auftreten? Wurde er nicht ganz warm, als er aus dem ›Sie‹ in das ›Du‹ überging? Und hatte er nicht auch recht?« War es denn denkbar, daß Wezwagar wirklich aus seinem lieben Gesinde sollte, weil er ein Ei nicht zur rechten Zeit gebracht hatte?

Es kam eine gewisse Zuversicht über Wezwagar. Es war gescheit gewesen, daß er zur Stadt fuhr, jetzt hatte er doch einen Rechtsboden unter den Füßen. Mit Klugheit läßt sich schließlich jeder Knoten lösen, er sei noch so verschlungen!

Als Wezwagar die Stelle erreicht hatte, an der der Waldweg von der Heerstraße abführte, hatte er alle Mühe, seinen Fuchs an ihm vorüber zu bringen. 119 Das Tier wollte durchaus in die ihm so gewohnte Bahn einlenken. Als ihm das nicht gelang, wandte es, während es weiter trabte, noch mehrmals den Kopf nach der rechten Seite und wieherte der nahen Heimat zu.

Es regnete jetzt in Strömen. Da der Wind aufgehört hatte, war die Luft schwül und dumpf. Nur selten erklang ein einsames Vogellied durch das eintönige Rauschen und Plätschern des Regens.

Als Wezwagar endlich die letzte Strecke, die ihm kein Ende zu haben schien, zurückgelegt hatte und vor seinem Hause hielt, flog ihm seine Frau jubelnd entgegen. »Gott sei gelobt,« rief sie, »daß du da bist, und ich es dir endlich, endlich sagen kann. Jetzt hat alle Not ein Ende, jetzt ist alles wieder gut!«

»Was meinst du?« fragte der Bauer stockend.

»Ich meine, daß ich bei dem Baron war und daß er uns verziehen hat. Du bringst ihm morgen das Ei, bittest ihn um Verzeihung und dann ist alles wieder gut.«

Das Gesicht des Bauern färbte sich erdfahl. Er stützte sich schwer auf den Rand des Wagens und starrte mit so entsetztem Ausdruck in das von Jubel erfüllte Antlitz seiner jungen Frau, daß diese nun auch ihrerseits erschrocken schwieg.

Es war Wezwagar, als ob eine unheimliche, schadenfrohe Macht ihm noch einmal das Glück, das alte herrliche Glück zeigte, um ihn dann nur um so sicherer mit sich fortzureißen in Sünde und Unglück; als ob unsichtbare Bande sich fester und fester um 120 ihn zögen. Es schien ihm, als wenn er durch den Besuch bei Mukowski besudelt war und nun sein Weib nicht mehr in den Armen halten durfte, ohne auch sie zu beschmutzen. Er ließ seine Frau, die er bisher umschlungen hatte, frei und ging schweigend ins Haus.

»Um Gott,« rief die Bäuerin, die ihm gefolgt war, »was ist geschehen?« Sie fragte lange vergeblich. Bewegungslos stand der Bauer am Fenster und starrte düster hinaus in den Regen. Vergeblich fiel sein Weib vor ihm nieder, küßte seine Hände und flehte ihn an, doch nur zu sprechen, ihr zu sagen, was denn geschehen sei. Der Bauer hörte sie nicht.

Als alle ihre Bemühungen vergeblich waren, warf sie sich verzweifelt auf einen Stuhl, verhüllte ihr Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich. Lange war es totenstill im Zimmer; man hörte nichts als das leise Schluchzen der jungen Frau und den Ton der Tropfen, die aus des Bauern durchnäßten Kleidern zu Boden fielen.

Endlich wandte sich der Bauer um und sagte mit herber Stimme: »Es war nicht recht, Frau, daß du bei dem Baron warst, denn nicht ihm, sondern mir ist unrecht geschehen; ich weiß aber, daß du es gut meintest, darum verzeihe ich dir. Ich habe in der Stadt den rechten Mann gefunden, der mir zu meinem Recht verhelfen kann und verhelfen wird. Der Baron braucht uns gar nicht zu verzeihen, denn er darf uns das Gesinde nicht nehmen.«

121 Die Bäuerin nahm die Hände von dem thränenüberströmten Gesicht und blickte mit großen starren Augen zu ihm empor.

»O Georg, Georg,« rief sie flehend, »laß dich von den Städtern nicht aufhetzen gegen dein besseres Wissen. Du weißt sehr gut, daß der Baron uns das Gesinde aus freier Gnade verlieh, wie sollte er es uns nicht auch nehmen dürfen? Aber selbst, wenn er es uns auch nicht nehmen dürfte, wären wir deshalb weniger undankbar? Du hast unrecht gethan, du hast den Baron, der uns immer ein gütiger Herr war, schwer beleidigt. Du thatest es, als der Zorn dich überwältigte, aber du hast es doch immerhin gethan.«

Der Bauer hatte seine Frau ruhig ausreden lassen. Jetzt sagte er scheinbar kalt: »Ich sagte dir schon, daß wir nicht mehr davon reden wollen,« und ging hinaus. Er kam aber gleich wieder herein und erzählte ihr nun kurz und trocken den Vorfall mit den Buschwächtern. »So,« sagte er zum Schluß, »jetzt wirst auch du einsehen, daß mir nichts anderes übrig bleibt, als mich auf mein gutes Recht zu stützen.« Damit ging er zum zweitenmal hinaus und blieb lange fort.

Sein armes, gebrochenes Weib aber wünschte in namenloser Qual für sich und ihn den Tod herbei. Ein dumpfes Gefühl sagte ihr, daß nun alles verloren war und ihnen nichts mehr bevorstand als Sünde und Schmach. 122

 


 


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