Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Viertes Kapitel.

Das junge Mädchen fuhr unterdessen in raschem Tempo der Fähre zu. Als sie diese erreichte, war die Sonne schon untergegangen, aber der Himmel war noch in lila Glut getaucht, und ihr Wiederschein im Wasser ließ auch den Strom wie dunkles Lila erscheinen. Auf den Flößen, die bereits zur Nachtruhe am Ufer befestigt waren, flammten schon die Nachtfeuer auf, und von dem nahen Campbellshof erklangen jene unbestimmten verworrenen Töne: menschliche Rufe, Gebrüll der Rinder, Blöken der Schafe, Hundegebell, die auf dem Lande andeuten, daß des Tages Arbeit eben im Begriff ist, der Ruhe der Nacht Platz zu machen. Der breite Strom, die ganze Scenerie waren wie geschaffen, die aufgeregten Nerven des jungen Mädchens zu beruhigen. Sie stieg aus und ging langsam auf der Fähre auf und ab. Jakob betrachtete sie aufmerksam. »Was für ein blutjunges Ding,« dachte er. »Die Arme, sie hat gewiß Heimweh, sie hat geweint, man muß sie zerstreuen.«

231 »Das ist Campbellshof,« sagte er, indem er mit dem Peitschenstiel stromaufwärts wies. »Da wohnen die gnädigen Eltern von unserer gnädigen Frau.«

Das Fräulein nickte.

»Das da sind Flöße.«

»Jawohl!«

»Können Sie den Stein da am anderen Ufer sehen, gnädiges Fräulein? Sehen Sie – da – hinter dem Floß mit der großen Hütte.«

»Was ist's mit ihm?«

»Nun, gegenüber diesem Stein wurde im Winter in der Nacht ein Jude totgeschlagen.«

»Wirklich! Aber warum denn?«

»Nun natürlich, um ihn zu berauben. Sie hatten ihm mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt, und die Eingeweide hingen heraus – na, ich sage, man hätte sie in einen Korb füllen können.«

»Schrecklich! Hat man die Mörder entdeckt?«

Jakob schmunzelte über das ganze Gesicht. Seine Absicht gelang.

»Jawohl,« erwiderte er. »Es waren drei Russen – Sektierer natürlich – sie haben die Kaake gekriegt und sind nach Sibirien geschickt worden.«

»Entsetzlich. Ist die Gegend hier so unsicher?«

»Das kann man nicht behaupten. Wem haben sie in diesem Winter den Bart nach oben gekehrt? Da war die Müllerin unter Gruntenhof und der Krebswirt und dann verschiedene Juden natürlich. Aber werden das gnädige Fräuleinchen nicht lieber Ihr Tuch umnehmen? Es zieht hier aus dem Flusse.

232 Das Fräulein lehnte dankend ab, aber Jakob drang so lange und so väterlich in sie, bis sie nachgab. »Wie heißen Sie?«

»Ich? Jakob Waldmann.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Jawohl. Ich habe eine Tochter, die gerade so alt ist wie das gnädige Fräulein. Sie ist Stubenmädchen bei der gnädigen Frau Gräfin.«

»Ist sie zufrieden?«

»Wie soll sie nicht zufrieden sein. Spaß – unser Graf ist ein Engel.«

»Seltsam,« dachte das junge Mädchen, »es ist immer nur vom Grafen die Rede.«

Vor ihnen blitzten Lichter auf. »Das ist das Schloß,« sagte Jakob. Sie fuhren durch ein Stück Park, dann über einen Hof, durch einen Blumengarten und hielten endlich vor der Mittelthür eines großen, von zwei Flügeln eingefaßten Gebäudes. Ein Diener half dem Fräulein aus dem Wagen und eine große breitschulterige Person mit finsterem Gesicht trat ihr entgegen. Diese ergriff das Handgepäck, sagte mit rauher Stimme: »Ich werde Sie auf Ihr Zimmer führen,« und stieg dann eine Treppe hinan. Das Fräulein folgte. Von oben kam ihnen ein hübsches junges Ding, das eine Kerze trug, entgegen und leuchtete ihnen. Sie bogen erst rechts in einen Korridor und traten dann links in das erste Zimmer.

»Stelle das Licht auf den Tisch, Lottchen. Fräulein Heinersdorf, wenn Sie sich umgekleidet haben, werden 233 Sie zum Nachtessen herunterkommen. Die Herrschaften warten auf Sie. Ich bin Amalie. Gute Nacht!«

Damit ging sie.

Fräulein Heinersdorf war das Herz voll zum Zerspringen. Sie hatte gehofft, daß die Gräfin sie an der Schwelle ihres Hauses willkommen heißen und ihr so den schweren ersten Schritt erleichtern würde; statt dessen war ihr eine Amalie entgegengetreten. Wer war dieses Hünenweib? Die ehemalige Amme der Gräfin vermutlich oder dergleichen.

Einen Augenblick lang beugte das junge Mädchen unter der Last der empfangenen Eindrücke ihr Haupt nieder auf den Tisch, und ein paar große Thränen rollten über ihre Wangen. Alice Heinersdorf war ein mutiges entschlossenes Mädchen. »Vorwärts,« sagte sie, noch einmal aufseufzend und griff nach ihrem Köfferchen, »vorwärts, es gibt kein Zurück mehr.«

Da sie kein anderes Kleid mit hatte – ihr Koffer war ja zurückgeblieben – so reinigte sie ihr graues Kleidchen vom eingedrungenen Staube, legte einen neuen Kragen um, wechselte die Manschetten und war fertig. Als sie mit dem Licht an den Spiegel trat, um sich zu überzeugen, daß ihr Haar in Ordnung war, fielen ihr die Worte des Bahnhofsinspektors ein und sie sah sich unwillkürlich nach der zweiten Kerze um. Es war aber nur eine vorhanden, wenn auch eine so dicke, wie Alice noch nie eine gesehen hatte.

Als sie auf den Korridor trat, bemerkte sie, daß 234 Lottchen sie erwartet hatte. »Wenn Sie erlauben, gnädiges Fräulein, werde ich Sie hinunterführen,« bemerkte das Mädchen, indem es nach dem Licht griff.

Alice dankte und sie stiegen die Treppe hinab. Alice durchschritt rasch ein paar Zimmer und stand dann vor der Familie Polderkamp.

»Seien Sie uns willkommen, mein Fräulein,« sagte die Gräfin, indem sie dem jungen Mädchen entgegentrat und ihm die Hand reichte. »Seien Sie uns herzlich willkommen, Fräulein Heinersdorf,« sagte auch der Graf. »Ich hoffe, daß Sie sich bei uns recht wohl fühlen werden. Kommt her, Erna und Eleonore! Das sind Ihre – aber was lacht ihr denn, ihr albernen Dinger? Werdet ihr euch wohl anständiger aufführen.«

Die kleinen Mädchen traten an Alice heran und reichten ihr die Hand, prusteten aber vor unterdrücktem Lachen.

»Erna, Eleonore!« rief die Gräfin. Alice errötete über und über. Die beiden Mädchen aber warfen sich auf den Vater, drückten ihre Gesichter an seine Arme und lachten laut auf. »Papa,« rief die ältere endlich, »du hast uns gesagt, Fräulein Heinersdorf sei alt und lahm und häßlich und nun ist sie noch jünger und schöner als Mama.«

»Und sie hinkt auch gar nicht, Papa,« stimmte die andere zu.

Die Gräfin lächelte, der Graf aber ließ sein lautes, herzliches Lachen hören. »Pardon, mein 235 Fräulein,« rief er, »was werden Sie von mir denken. Ich habe mir allerdings erlaubt, meinen neugierigen Töchtern ein ähnliches Bild von Ihnen zu entwerfen. Nicht wahr, Sie nehmen mir den allerdings etwas derben Scherz nicht übel?«

»Gewiß nicht, Herr Graf,« erwiderte Alice.

Bei Tisch saß Alice zwischen den beiden kleinen Mädchen, mit denen sie rasch Freundschaft schloß. Die Hausfrau verhielt sich sehr schweigsam, der Graf aber war in der besten Laune, neckte anfangs nur seine Töchter, dann auch seine Frau, endlich auch Alice, tanzte nach Tisch mit jeder Tochter einen Walzer, zu dem Alice die Begleitung spielen mußte, und brachte schließlich sogar unter unendlichem Jubel der Kinder die beliebte Laterna Magica herbei.

Der Jubel war eben auf dem Höhepunkt, als Amalie plötzlich ins Zimmer trat. »O weh!« riefen die Kinder.

»Was meinen Sie, Amalie, legen Sie nicht heute Fräulein Heinersdorf zu Ehren ein Viertelstündchen zu?« fragte der Graf.

»Wie Sie befehlen, gnädiger Herr Graf,« versetzte Amalie, ohne eine Miene zu verziehen.

»Daß heißt also nein? Nun, dann ist nichts zu machen. Sagt ›Gute Nacht‹ Kinder und geht schlafen. Sie müssen nämlich wissen, mein Fräulein,« fügte der Graf erläuternd hinzu, »daß unsere gute Amalie früher die Amme meiner Frau war und jetzt die Wärterin von uns allen ist. Sie müssen ihre Gunst zu erringen suchen, denn sie kann, wie Sie sehen, 236 mitunter streng sein. Nicht wahr, Amalie, Sie werden das Fräulein auch unter Ihre Flügel nehmen?«

Amalie blickte Alice so feindlich an, daß diese erschrak. »Was habe ich mit dem Fräulein zu thun,« erwiderte sie, »ich gehe meine Wege, das Fräulein geht ihre Wege, das gibt keinen Kreuzweg.«

»Das war nun wieder einmal amalienhaft grob,« rief der Graf. »Sie sind der reine Waldmensch, Amalie.«

»Ich bin ja auch nicht adelig, sondern von einfacher Leute Schlag,« war die Antwort.

»Das stimmt, meine Gute. Gute Nacht, mein Kind. Gute Nacht, Erna.«

Als auch die Erwachsenen aufgebrochen waren und die Gräfin sich von Amalie das Haar kämmen ließ, fragte sie: »Warum warst du denn so grob, Amalie?«

»Was war ich grob? Was habe ich mit dem Fräulein zu schaffen? Ich werde den Komteßchen keine Stunden geben. Ich schlafe mit ihnen zusammen, ich kleide sie an, ich gehe mit ihnen in den Garten. Was geht mich das Fräulein an?«

»Wie gefällt dir das Fräulein?« fragte die Gräfin nach einer Pause.

»Gar nicht!«

»Wie, gar nicht?«

»So, gar nicht. Wer wird nur eine so junge und schöne Gouvernante ins Haus nehmen?«

Die Gräfin errötete und wandte sich unwillig ab. »Sei nicht albern,« sagte sie.

237 Amalie kämmte schweigend darauf los. Man hörte nichts als das leise Rauschen, das die über die Haarwellen hinfahrende Bürste hervorrief. Endlich legte Amalie die Bürste fort und begann das Haar in breite Flechten zu ordnen.

»Schmollst du, Amalie?«

»Ich bin ja albern.«

Die Gräfin wandte sich um. »Was wolltest du denn vorhin sagen?«

»Ich wollte sagen, daß, wer einen jungen Mann hat, keine junge hübsche Gouvernante ins Haus nehmen soll.«

Die Gräfin legte langsam ihre Ringe ab und ließ einen Diamantring im Licht der Kerzen funkeln.

»Und adelig ist sie noch dazu,« fuhr Amalie fort. »Wozu wird so eine Gouvernante? Wenn sie eine Predigerstochter wäre oder eine Doktorstochter, so wäre es in der Ordnung, aber wer hat je gehört, daß ein adeliges Fräulein Gouvernante wird.«

Die Gräfin blickte noch immer aufmerksam auf das Feuer am Ringe, den sie hin- und herbewegte. »Findest du sie denn so schön?« fragte sie.

»Ich finde sie nicht schön – nein – wahrhaftig nicht, aber die Herren werden sie schön finden.«

Die Gräfin erhob sich so jäh, daß die Zofe kaum Zeit hatte, die eben beendete Flechte fahren zu lassen. »Es ist gut, du kannst gehen,« sagte sie.

Amalie küßte ihrer Herrin die Hand und ging.

Die Gräfin legte den Ring fort, stützte ihren Kopf auf die Hand und versank in tiefes Sinnen. Sollte 238 Amalie recht haben? Frau Ina wußte, wie blind sie ihr ergeben war und sie hatte nur zu oft Gelegenheit gehabt, gewahr zu werden, wie der scharfe Verstand dieser einfachen Frau Dinge, Personen und Verhältnisse richtig beurteilte, die weit über ihren geistigen Horizont hinaus zu gehen schienen. War das nicht eine Warnung vom Himmel? Die Gräfin hatte es nie ohne Eifersucht ansehen können, wenn die Herzen aller Menschen ihrem glänzenden Gemahl so rasch und voll entgegenschlugen, aber sie hatte sich immer sagen müssen, daß er ihr nie auch nur den geringsten Anlaß zur Eifersucht gegeben hatte. Sie hatte diese daher immer niederwerfen und sich ganz freudigem Stolz hingeben können. Nein, er, den alle, zumal alle Frauen liebten, liebte nur sie. Es verging kein Abend, an dem sie nicht Gott ausdrücklich dafür dankte, aber sie hatte ein Gefühl eifersüchtiger Furcht doch nie ganz los werden können. Es war thöricht dieses Gefühl, sehr thöricht, aber es lag einmal in ihrer Natur. Oder lag die Wurzel des Übels in seiner Natur?

Die Gräfin erhob sich und ging auf dem weichen Teppich, der den Fußboden des Zimmers bedeckte, langsam auf und nieder. »Nein, er ist seinem Temperament nach konservativ. Wen er einmal liebt, es sei Mensch, Tier oder Gerät, an dem hängt er sein Leben lang. Und gar in diesem Falle liegt doch wirklich kein Grund zur Eifersucht vor. Sollte ein so junges dummes Ding, sollte solch ein Kind mir gefährlich werden können?«

239 Auf dem Sims des Kamins stand eine Meißner Vase, auf der eine reizende Schäferin mit einem entzückenden Grübchen in der Wange dargestellt war. Die Gräfin blieb vor der Vase stehen. »Und doch – die Kinder sagten vorhin, sie sei schöner als ich. Das ist nicht wahr, sie ist gar nicht schön, aber sie ist liebreizend. Amalie mag recht haben. Du da gefällst ja auch den Herren besonders.«

Die Gräfin fuhr zusammen, denn der Graf legte plötzlich seine Arme um ihren Leib. »Wo bleibst du so lange?« fragte er. »Komm« erwiderte sie.

Der Graf war in der besten Laune. »Das ist einmal ein reizendes Geschöpfchen,« sagte er. »Das muß ich sagen.«

»Wer?«

»Wie, wer? Fräulein Heinersdorf natürlich. Ein allerliebstes Mädchen. Hast du bemerkt, was sie für zuckersüße Grübchen hat, wenn sie lacht? Die soll mir hier fleißig lachen, dafür will ich schon sorgen. Du hast doch ihr Zimmer traulich eingerichtet?«

»Ich weiß nicht, was du traulich nennst. Es sieht oben aus wie eben in einem Gouvernantenzimmer.«

»Aber, beste Ina, was du immer mit der Gouvernante vorfährst. Sei doch nicht so pedantisch, liebes Herz. Fräulein Heinersdorf wird ja allerdings auch die Gouvernante unserer Kinder, vor allen Dingen aber doch ein liebenswürdiger Hausgenosse sein. Ich will morgen selbst hinauf und nachsehen, ob 240 wir dort nicht noch irgend einen kleinen Schmuck anbringen können.«

»Vortrefflich, lieber Georg, aber zunächst wollen wir – denke ich – schlafen.«

Sie schwiegen eine Weile; dann fragte der Graf: »Schläfst du schon?«

»Nein. Was wünschest du?«

»Ich wollte dich fragen, wo die englischen Stahlstiche geblieben sind, die früher im grauen Zimmer hingen. Wir könnten sie jetzt ganz gut hinaufgeben.«

»Ich werde sie dir morgen aufsuchen lassen.«

»Tausend Dank, mein Herz. Du sollst einmal sehen, wie die Kleine sich freuen wird. Wir hängen sie ihr hin, während sie ausgegangen ist. Das wird einmal Grübchen geben. Gute Nacht, Ina.«

»Gute Nacht, Georg.«

Auch Alice war noch nicht gleich zu Bett gegangen, sondern schrieb erst noch an ihre Freundin. Sie schilderte derselben ihr Erlebnis mit Herrn Sirius und fuhr dann fort: »Mir war, wie gesagt, das Herz sehr, sehr schwer, aber die Fahrt durch die herrliche Abendluft richtete mich wieder auf. Dazu kam, daß man mir ein sehr hübsches Wägelchen mit einem prachtvollen Braunen davor entgegengeschickt hatte, so daß ich dahinfuhr wie eine Prinzessin. Auch der Kutscher gefiel mir – er machte den Eindruck eines guten Menschen, und ich freue mich, daß seine Tochter mich bedienen wird.« Es folgte nun eine Beschreibung des Empfanges und hieß dann weiter: »Der Graf gefällt mir sehr, und ich bin überzeugt, daß er so 241 gut ist, wie alle Leute behaupten. Ich habe jedenfalls noch nie eine so prächtige Erscheinung gesehen wie diesen Mann, und es ist mir ganz verständlich, daß jedermann an ihm hängt. Die Gräfin dagegen gefällt mir gar nicht. Du wirst fragen, warum nicht? Ich kann Dir diese Frage allerdings noch nicht beantworten, aber mein Gefühl spricht gegen sie. Und doch ist sie von ungewöhnlicher Schönheit und überdies sehr gütig gegen mich. Ich glaube aber nicht, daß wir uns je einleben werden. Um so besser gefallen mir meine Schülerinnen, ganz entzückende kleine Mädchen. Sie gleichen der Mutter, aber sie haben die herrlichen Augen des Vaters und, wie es scheint, auch seinen offenen freundlichen Sinn.

»Die Einrichtung und auch der ganze Zuschnitt des Hauses scheinen mir, soviel ich bis jetzt sehen konnte, unbeschreiblich elegant und großartig zu sein. Ich sage Dir, Onkel Alexanders Haus ist gegen Rotenhof wie ein Wirtshaus eingerichtet, und das will doch etwas sagen. Überall Teppiche über das ganze Zimmer, Portieren, Blumenarrangements, Marmorgruppen, Büchertische. Ich glaube die Bilder an den Wänden sind wirkliche Gemälde, wie sie in Bildergalerien hängen. Dabei ist alles so einheitlich, so weit und doch so traulich – ich sage Dir – entzückend. Ich glaube, daß es im ganzen Lande nicht noch so ein Haus gibt. Offenbar hat der Graf das alles so eingerichtet und angeordnet.

»So lebe ich denn, wie Du siehst, in eitel Pracht und Reichtum, und die Sklavenkette, die ich trage, ist 242 von Gold. Ach, Adelheid, sie ist aber doch eine Sklavenkette und jetzt, da sie mir um den Leib geschmiedet ist, jetzt kann ich es Dir ja sagen, Du treue Seele, es wurde mir unendlich schwer, sie mir umlegen zu lassen. Eine Heinersdorf – eine Gouvernante! Was würde mein Großvater dazu gesagt haben, mein stolzer Großvater, und was alle die übrigen, aus deren Blut ich entstamme? Aber ich that es ja nicht um meinetwillen. Ich werde Papa helfen können, ich werde dazu beitragen können, daß er sich weniger einzuschränken braucht. Ach, seine Rente ist ja so klein, daß selbst die paar hundert Rubel, die ich ihm werde schicken können und der Umstand, daß ich an seinem Tische nicht mehr mit esse und daher nur eine Portion geholt zu werden braucht, seine Lage nicht unerheblich erleichtern werden. Wenn ich außer dem Gelde, das mir meine Stickereien einbringen, noch fünfzig Rubel für mich verbrauche, – billiger kann ich mich unmöglich einrichten, denn meine Toilette muß doch einigermaßen dem Anstrich des ganzen Hauses entsprechen und um meine Wäsche ist es so schlecht bestellt, daß ich durchaus etwas für sie thun muß, schon der Wäscherin wegen, – so werde ich Papa jährlich 250 Rubel schicken können.

»Und nun gute Nacht, Du Treue, Gute. Ich bin todmüde und muß morgen früh aus dem Bett. Lebewohl, Dich küßt Deine

Alice.

243 P. S. Mir ist doch sehr bange. Ich bete zu Gott, daß er mich stärken und gnädig behüten möge. Thue Du es auch.

Deine

A.«

Alice erhob sich, ließ die Rouleaux und die Vorhänge herab, steckte die letzteren noch mit Stecknadeln zu und breitete ein Tuch über ihr Bett, denn sie schlief gern warm. Dann kleidete sie sich aus und suchte ihr Lager auf. 244

 


 


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